Demokratie in Gefahr

Wir bringen hier einige Punkte aus der Sicht des Dachau Instituts, die in der allgemeinen Debatte über Gefährdungen der Demokratie wichtig sein können.
Also, aus dem Schatten von Dachau betrachtet, was gefährdet Demokratie derzeit besonders?

Schiefes Werteverständnis

Ohne dessen im Allgemeinen gewahr zu sein, betrachten wir die Welt in einem für uns ganz selbstverständlichen, von daher halb- oder gänzlich unbewussten Modus nach dem Schema: Werte-geleitet bin ich, sind wir als diese oder jene besondere Gruppe  – die anderen dagegen, die Widersacher handeln aus „niederen Motiven“.
Polarisierungen, Projektionen, Ausgrenzungen sind oft untrennbar vermengt mit dahinter stehenden Wertsetzungen. Das gilt für unser alltägliches Leben wie auch für den gesellschaftlichen und internationalen Bereich. Hier ist unendlich viel an Schrecklichem angerichtet worden. Denken wir auch an die Kolonisation.
Der Werte-Begriff ist unscharf, vieldeutig, ziemlich beliebig definierbar. Von daher ist es vorzuziehen, von „hochgestellten Zielen“ zu sprechen, die von der Mehrheit der Individuen in einer Gruppe oder einer ganzen Gesellschaft geteilt werden.

Es finden sich viele Schwierigkeiten rund um das Thema der Werte bzw. unserer hoch gestellten Ziele. Der Psychoanalytiker Léon Wurmser hat intensiv herausgearbeitet, dass es tief verborgene, d.h. unbewusste Konflikte zwischen verschiedenen Werte-Orientierungen geben kann. Solche unbewussten Konflikte gehören für ihn mit zu den entscheidenden Quellen schwerer neurotischer Störungen. Sie bilden die Grundlage für vielfältige Spaltungsvorgänge, die oftmals in der Psychoanalyse als so etwas wie die „letzten Ursachen“ angesehen werden. Stattdessen hat Wurmser festgestellt:
„Die Ich- und die Identitätsspaltung sind ein Ergebnis, nicht die Ursache.“[2]
Er meint damit Konflikte aus Loyalitäts-, aus Werte-Verpflichtungen, die in früheste Entwicklungszeiten zurückreichen und die von dementsprechend umfassendem, globalem, gebieterischem Charakter sind. Die Bedeutung dieser Konflikte sei nicht genügend beachtet worden, „nämlich die Einbeziehung des Über-Ich nicht nur als eine strafende Instanz, sondern als eine, die Treue und Gehorsam gegenüber einer äußeren Gestalt verlangt. Dazu kommt (…) die Verinnerlichung dieser Beziehung – dass man sich selbst, d.h. bestimmten höchst gestellten Werten und Idealen, die Treue wahren muss: Die Treuewahrung bedeutet auch hier Ehre, die Verletzung dieser Selbstloyalität tiefste Scham.“[3]

Wunsch nach „Führern“

Es ist so viel Streit in der Gesellschaft – und deshalb wird nach dem „starken Mann“ (oder auch Frau, siehe Marine Le Pen, Giorgia Meloni) gesucht und auf deren Ruf gewartet: „Folgt mir!“
Das wäre so „schön“ einfach.
Aber es ist doch eine Illusion, dass in diesen komplexen Zeiten irgendjemand an der Spitze eines Staates, eines Konzerns, einer Schule oder Beratungsstelle (unser beider langjährige Erfahrungsräume) bloß aus „eigener Kraft und Herrlichkeit“ dirigieren könnte, wohin es zu gehen hat.
Dieses autoritäre Projekt ist doch überall schiefgegangen im 20. Jahrhundert, vom deutschen und österreichischen Kaiserreich bis hin zu Martin Winterkorns Art des VW-Konzerns, in dem dieser vermeintlich allmächtige Lenker aber nichts gewusst haben will von den millionenfachen Dieselmanipulationen. So viele autoritäre Systeme sind zusammengebrochen, und das nicht nur durch Kräfte von außen, sondern auch durch ihre inneren Widersprüche bzw. dadurch, dass die wirklichen Widersprüche ignoriert wurden.
Was also soll der Wunsch nach dem „Führer“?

Destruktives Verständnis von Streit

„Die Ampel streitet“ – so steht es wieder und wieder in den Medien. Der Unterton dabei ist negativ. „Die sollten nicht streiten, sondern handeln.“
Ob Streit destruktiv ist, sieht man vom Ende her. Macht er handlungsfähig oder -unfähig?
Wieso schafft es ein Bundeskanzler Olaf Scholz nicht, sich in kurzen Abständen vor die Fernsehkameras zu setzen und zu erklären, was in seiner Sicht „Sache“ ist? Und dabei gerade auch ein Verständnis dafür zu wecken, wie widersprüchlich und unübersichtlich vieles ist? Warum schafft er es nicht? Oder warum lässt „man“ es nicht zu?
Ohne Streiten geht es nicht, und ohne das Aushalten von Konflikten erst recht nicht.


[1]    Das Schwierige dabei ist nur: Bei solchen Kontroversen kann es natürlich sein, dass eine der beiden Seiten tatsächlich im Unrecht ist.
[2]    Wurmser, Léon (1987): Flucht vor dem Gewissen. Analyse von Über-Ich und Abwehr bei schweren Neurosen. Berlin, Springer, S. 318
[3]    Ebda., S. 317
[4]    Ebda., S. 314

Ressentiments

Diesem hoch bedeutsamen Thema widmen wir eine eigene Seite.

Nachwirkungen einer Strukturellen Lügenhaftigkeit noch aus dem NS

Wie sehr das NS-Reich ein einziges Feld der Lüge war, wird in der Allgemeinheit immer noch zu wenig gesehen. Die schlimmste und folgenreichste Lüge, auf der es aufbaute, war gar nicht von Hitler erfunden, aber er hat sie extrem zugespitzt, und viele Millionen sind ihm dabei gefolgt: die Umdefinition von Menschen zu „Untermenschen“.

Im Wissen darum haben meine Frau und ich in unserem Buch Wagnis Solidarität von „struktureller Lügenhaftigkeit“ gesprochen. Wir meinten dies sowohl im Sinne einer allgemein-gesellschaftlichen Matrix als auch, in enger Wechselwirkung damit, einer individuellen Verhaftung im Lügen (siehe dort S. 191-200).

Sehr plastisch kommt das im leider immer noch unveröffentlichten Manuskript Rückblick auf Dachau des 1954 gestorbenen Karl Ludwig Schecher vor Augen. Als Jurist hatte er sich gegen das NS-Reich gewandt und kam deshalb 1935 ins KZ Dachau und musste dort bis zur Befreiung bleiben. Nur knapp entging er dem Tod. Schließlich wurde er Schreiber der Sicherheitswerkstätte und bekam in dieser Funktion ungewöhnliche Einblicke in das Lagerleben. Das hat er nachher genau beschrieben. Dabei sind seine Mitteilungen über die abgrundtiefe Verlogenheit ganz vieler SS-Leute, vom Wachmann bis zum Kommandanten, von höchster Bedeutung.

Gerade indem diese völlig abgründige Verlogenheit des NS-Reichs nachher weitgehend unter den Teppich gekehrt wurde, besteht einiges davon untergründig weiter, gesellschaftlich, aber auch in uns und zwischen uns in unseren Beziehungen.

Mangel an Resonanz

„Einbeziehung des jeweils Anderen“, von solchem dialogischen Denken und Wahrnehmen, solcher Resonanz oder Reziprozität, Wechselseitigkeit, fehlt viel in unserer hochstrukturierten Welt. Das ist wohl ein wesentlicher Teil dessen, was zurzeit als Krise von Demokratien erscheint – das Gefühl vieler: „Wir werden nicht gesehen!“

Natürlich können Politiker, an die dieser Ruf sich besonders richtet, nicht aus ihrem Hamsterrad heraus jeder Bürgerin, jedem Bürger tief in die Augen schauen, sich für jedes einzelne Anliegen einsetzen. Aber was dann? Was lässt sich hier aus der Froschperspektive von Psychologie und Pädagogik beitragen?

In diesem manchmal so irrational, so selbstbezogen erscheinenden „Ich möchte endlich gesehen werden“ vermuten wir einen tiefen aktuellen Sinn. Nur sucht er sich bisher, individuell wie gesellschaftlich, allenfalls zaghaft bzw. häufig in verzerrter, ressentimentgeladener und damit schwer entschlüsselbarer Form zu artikulieren.

Denken wir an die großen Ziele der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, so sieht es danach aus, dass noch viel Entwicklungsbedarf besteht hinsichtlich ökonomischer Verteilung, Gleichrangigkeit in gesellschaftlicher Teilhabe, zwischen Männern und Frauen wie auch in Richtung Solidarität, dies trotz ganz, ganz vieler Aktivitäten im Einzelnen. Die fundamentalen Logiken in unserer Gesellschaft, damit auch in Familie und Erziehungswesen, gehen zurzeit noch vor allem in Richtung Konkurrenz und damit von Vereinzelung, sie betonen mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten – mit allen Folgen für Wertevermittlung und Erziehung.

Veraltetes Schulsystem

Text folgt