Bagatellisierung von Traumatisierungen in der Gesellschaft der ehemaligen Welteroberer – Anmerkungen aus psychotherapeutischer Sicht zu Aufwachsen und Leben in Westdeutschland nach 1945

Jürgen Müller-Hohagen

Einige Thesen

  1. Traumatisierung als einen wesentlichen Faktor seelischen gestört Seins anzuerkennen, ist in Deutschland über Jahrzehnte hinweg erstaunlich schwer gefallen, schwerer als anderswo. Dies galt für Betroffene ebenso wie für Fachleute und Allgemeinheit. Erst allmählich ändert sich dies ein wenig.
  2. Ich sehe vielfältige Zusammenhänge dieser Schwierigkeit mit der Art, wie nach 1945 typischerweise über das „Dritte Reich“ und den Zweiten Weltkrieg geredet wurde. Aufwachsen im Westdeutschland der Nach-Nazizeit fand wesentlich in einer allgemeinen Atmosphäre von Nebel statt. Auch wenn mit den Kindern über die Vergangenheit gesprochen wurde – manchmal sehr viel, geradezu zwanghaft -, so erfolgte dies typischerweise in Form von Monologen. Ein wechselseitiger Austausch zwischen den Generationen fand dabei nur wenig statt. Traumatische Erfahrungen wurden mit Schweigen belegt oder im Übermaß ausgebreitet.
  3. In aller Regel ging es in jenen Monologen um das eigene Leiden und nicht um das der Nazi-Opfer. Flucht, Vertreibung, die Angst im Bombenkeller, die Winter an der russischen Front und die Schrecken der Kriegsgefangenschaft, der Hunger der Nachkriegsjahre, die Währungsreform und zuvor der „Steckrübenwinter“ von 1917, Inflation und Weltwirtschaftskrise, dies alles waren die wesentlichen Fixpunkte, wenn es um die Verzahnung von Familiengeschichte mit allgemeiner Geschichte ging. Meine ersten Bücher von KZ-Überlebenden las ich im Studium, also nach Verlassen des Elternhauses.
  4. Schuld ist bis heute ein Reizthema höchster Brisanz für zahlreiche Menschen in Deutschland. Die Abwehr von Schuldeinsicht stand zentral hinter jenem Nebel der ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik. Giordano (1987) sprach davon, daaa zur „ersten Schuld“, also derjenigen gegenüber den Nazi-Opfern, die „zweite Schuld“ gekommen ist, nämlich die der Nazi-Generationen gegenüber ihren Nachkommen aufgrund von Verleugnen, Verschweigen und Verdrehen.
  5. Die „Gnade der späten Geburt“, von der Kanzler Kohl sprach, bestand für zahllose Nachgeborene nicht nur darin, jenen Monologen lauschen zu müssen, sondern viele von ihnen wuchsen auf als Delegierte ihrer Eltern gerade für die von diesen abgewehrte Schuld. Das dürfte in großer Zahl zu schweren psychischen Störungen bis hin zu Psychosen und Suiziden geführt haben, ebenso zu Dissozialität, Kriminalität, unerklärlich wirkendem Agieren.
  6. „Wir waren die Juden unserer Eltern.“ Dieser Satz aus dem Mund von Nazi-Nachkommen verweist zum einen auf die oftmals sehr konkrete Kontinuität zwischen verbrecherischen Einstellungen und Handlungen während des Nazi-Reichs und sehr destruktiven Verhaltensweisen im „Schutz“ der Familie, dies gerade auch nach 1945. Ich behaupte, dass Verbrechen wie seelische und körperliche Kindsmisshandlung und sexueller Missbrauch in erheblicher Häufigkeit mit konkreten Nazi-Hintergründen der Täter zu tun haben.
  7. Zugleich aber ist jener Vergleich mit den Nazi-Opfern sehr problematisch. Er tendiert dazu, deren Schicksal zu relativieren und die eigenen Identifikationen mit Nazi-Bezügen der Eltern zu verschleiern.
    Demgegenüber muss es heute darum gehen, dass die Nachgeborenen bereit sind, Kontinuitäten oder Anteile von Komplizenschaft über Generationen auch bei sich selber zu entdecken. Dass dies möglich sein könnte, weckt bei ihnen große Ängste, dann nämlich selber „nazihaft“ zu sein, womöglich noch als ganze Person.
  8. Die Täter als „Opfer“, dies ist, vorrangig zur Abwehr von Schuldeinsicht, eine Abwehroperation, die massenhaft und bis heute bei Angehörigen der Nazi-Generationen zu beobachten ist und vor der, wie zuvor angedeutet, auch die Nachkommen keineswegs gefeit sind.
  9. Das millionenfache Opfer Sein auf deutscher Seite in Krieg, Flucht, Vertreibung, Nachkriegselend mit all seiner Not und Verzweiflung, in seiner ganzen traumatisierenden Wirkung wahrzunehmen, setzt voraus, die in Deutschland fundamentalere Dimension der Täterschaft konkret zu begreifen.
  10. Historisches und soziologisches Wissen über das „Dritte Reich“ ist in hohem Maße vorhanden. Im Alltagsbewusstsein dagegen fehlt es bis heute an einer realistischen Einschätzung der konkreten persönlichen und familiären Nazi-Bezüge. Familien- und Psychodynamik wie auch psychologische Forschung und psychotherapeutische Praxis sind wesentlich bestimmt von diesen Verleugnungen.
  11. Für die Generationen der Nachkommen besteht die schwierige Aufgabe, genauer als bisher zu differenzieren zwischen eigenen Täterbezügen (bewussten oder unbewussten) und persönlichen und familiären Linien der Traumatisierung.
    Nur auf der Grundlage solcher Klärungen können trotz der schweren Schatten der Vergangenheit Wege beschritten werden, eine lebenswerte Umwelt zu gestalten, in der die einzelnen sich aufgenommen fühlen und Fremde nicht als Sündenböcke ausgegrenzt werden. Ethik und Psychologie begegnen sich hier.
    Binsenweisheiten wie die, dass jeder Mensch Opfer- und Täterpotentiale in sich trage, helfen nicht weiter, sondern vernebeln nur im Sinne von: „Nachts sind alle Katzen grau.“
    Vielmehr ist die Auseinandersetzung mit der historischen Wahrheit auch auf der individuellen und familiären Ebene die Voraussetzung, um bei sich selber die jeweiligen Anteile von Täter- und Opferbezügen einerseits und von Traumatisierungen andererseits konkret zu erforschen