Schlussfolgerungen für die Paar-, Familien- und Lebensberatung

Jürgen Müller-Hohagen

In einigen Linien soll hier beleuchtet werden, wie Hintergründe aus der Zeit des Nationalsozialismus in Paar-, Familien- und Lebensberatung von weit größerer Bedeutung sein können, als im allgemeinen angenommen wird.

  1. Alle Probleme, Symptome, Konflikte, mit denen Klienten zu uns kommen, können wesentlich mit seelischen Aus- und Weiterwirkungen der Nazizeit zu tun haben. Das betrifft die ganze Bandbreite dessen, was damals erlitten und zugefügt wurde, und auch die angerichteten Verwüstungen des allgemeinen Bewusstseins, der Zugehörigkeiten zu Gruppen, Kirchen, Parteien und vielem mehr. Es gibt weitaus mehr an transgenerationellen Weiterwirkungen, als man es sich im allgemeinen Bewusstsein vorstellt.
  2. Es ist mit einem hohen Maß an Verleugnung zu rechnen, bei den Klientinnen und Klienten ebenso wie bei uns Beratenden selber. Diese Verleugnung gilt sowohl dem Leiden der Verfolgten als auch der Täterschaft oder Tatbeteiligung im weiteren Sinne.
  3. „Kindermund tut Wahrheit kund“, doch nicht nur dieser, sondern auch in vielen Handlungen und sonstigen Lebensäußerungen können Kinder unbewusst auf dunkel geahnte Familiengeheimnisse hinweisen. Meist kommen sie erst dann zur Ruhe, wenn das entschlüsselt wird.
  4. „Des Kaisers neue Kleider“, Kinder, aber auch Erwachsene können ähnliche Erfahrungen machen wie in jenem Märchen, nämlich wenn sie das Verborgene und zugleich so Augenfällige zu benennen versuchen.
  5. Nirgendwo sonst im Feld von Beratung und Therapie wird zur Zeit so intensiv und systematisch auf diese Hintergründe eingegangen wie in der Familienaufstellung von Hellinger. Allerdings stehe ich seiner autoritativen Vorgehensweise mit Skepsis gegenüber. Gleichwohl kommt ihm und seinen Schülern in jener Hinsicht ein großes Verdienst zu. Das aber enthebt andere Richtungen nicht von einem kritischen Impuls, selber mehr in dieser Richtung zu tun.
  6. Es ist sehr problematisch, wenn die Täter- und die Opferseite miteinander vermengt werden. So verschleiert das vielzitierte Beispiel des Schweigens in Familien beider Seiten die fundamentalen Unterschiede. Es ist nämlich absolut etwas anderes, ob darüber geschwiegen wurde, dass man zur Vernichtung vorgesehen war – oder dass man wie auch immer am Vernichten anderer beteiligt war. Wenn in Beratung und Therapie diese Unterschiede nivelliert werden, besteht die Gefahr, dass sogar noch mehr Schaden angerichtet wird, als wenn man weiterhin die Augen zugemacht hätte.
  7. Ähnliches gilt in bezug auf das jetzt endlich auch in Deutschland aktuelle Traumathema. Dringend zu warnen ist dabei nur vor der Gefahr einer unreflektierten Nivellierung, in der dann die Extremtraumatisierungen von KZ- und Folteropfern aneinander gereiht werden mit den Dramen von Scheidungskindern, den Schocks nach Verkehrsunfällen und womöglich noch mit den „Traumata“ der Täter.
    Weil es, wie soeben angesprochen, so problematisch ist mit den übergreifenden Kategorisierungen, beschränke ich mich mit den folgenden Punkten nur auf einen Teil der eingangs genannten Hintergründe, nämlich auf die ehemaligen Volksgenossen und ihre Nachkommen – also auf die große Mehrheit unter den in Deutschland Lebenden.
  8. Die Bedeutung des familientherapeutischen Konzepts der Delegation (Stierlin, ähnlich Richter) ist hier von herausgehobener Bedeutung, sei es als Beauftragung der Nachkommen zum stellvertretenden Büßen oder zum direkten oder indirekten Weitermachen auf den Linien von Gewalt und Menschenverachtung, in den Familien, am Arbeitsplatz, vom Verharmlosen der Gewalttraditionen bis hin zur öffentlich sichtbaren Gewalt in den Anschlägen gegen Minderheiten.
  9. Ähnliches gilt für das Konzept der Loyalität. (siehe dort)
  10. Das Vorhandensein ausgeprägter Sündenbockpositionen darf als typisch gelten für Familien, in denen untergründige Verhaftungen an die Nazizeit bestehen. Es ist sehr zu raten, an dieser Stelle in Beratungen besonders hellhörig zu werden. Hier laufen öfter, als wir uns üblicherweise vorstellen, Dynamiken von massiver Gewalt ab, die direkt mit Nazi-Hintergründen zu tun haben.
  11. Überhaupt kann es sich als erstaunlich aufschlussreich herausstellen, wenn man beim Vorkommen „eigenartiger“, „schwer einfühlbarer“ Verhaltensweisen, Gefühle oder Dynamiken auch den zeitgeschichtlichen Hintergrund eruiert, also die Ohren öffnet für so manches konkrete Detail oder für die Möglichkeit, dass spezielle Familiengeheimnisse vorliegen könnten wie zum Beispiel „arisiertes“ Eigentum, „Euthanasie“, Denunziationen, individuelle Gewalthandlungen bis hin zur direkten oder indirekten Beteiligung am Vernichtungsprogramm.
  12. Was ist „Normalität“? Die Welt der „Normalität“ in Deutschland vor nur sechzig Jahren hatte entscheidend mit der Vernichtung von Menschen zu tun. Das sind Bezüge, die wir eigentlich sehr zu bedenken hätten, wenn wir psychotherapeutisch arbeiten in Deutschland. Daran aber fehlt es oft, sehr zum Schaden unserer Klienten, und nicht nur, wenn diese aus dem Kreis der Verfolgten und ihrer Nachkommen stammen, sondern auch gegenüber Nazi-Nachkommen, die verzweifelt und natürlich in tiefer Ambivalenz darum kämpfen, sich aus dem destruktiven Sog ihrer realen und internalisierten Nazi-Eltern zu lösen.
  13. Ein zentraler Punkt insbesondere für die Paarberatung ist der kollektiv gestörte Umgang mit Schuld. Wenn in einer Diskussion das Thema von Nationalsozialismus und Schuld angeschnitten wird, kommt es fast regelhaft zu hochbrisanten Dynamiken. Hier befinden wir uns auf der individuellen Ebene allenfalls am Anfang einer „Verarbeitung“. Diese Problematik schlägt sich in vielen Familien und insbesondere in den Partnerbeziehungen massiv nieder. Wenn es so schwer fällt, sich auseinander zu setzen, wenn so verzweifelt darum gekämpft werden muss, nur ja nicht als schuldig dazustehen, so sollte das mit diesen Hintergründen nichts zu tun haben? Das Gegenteil ist der Fall.
  14. In jedem Paar kommen bekanntermaßen zwei Familiensysteme zusammen. Was viel zu wenig gesehen wird, ist dabei die Tatsache, dass in der Regel auch zwei Nazizeit-Hintergründe aufeinander treffen. Das kann extrem brisant sein, insbesondere wenn es sich bekanntermaßen um eine Täter- und eine Verfolgtenfamilie handelt, und erst recht, wenn diese grundverschiedenen Bezüge völlig verdeckt sind und sich dadurch erst recht virulent auswirken. Gerade daran sollte häufiger gedacht werden in der alltäglichen Praxis von Partnerschafts-, Familien und Lebensberatung.