Jenseits der Loyalitätsverhaftungen

Jürgen Müller-Hohagen

In der Arbeit mit Menschen, die wegen ihrer NS-Verwicklungen Psychotherapie suchen, zeigt sich immer wieder, wie tief die Loyalitäten zu den Nazi-Vorfahren reichen. Ähnliches ist bei zahlreichen anderen Nachkommen zu vermuten. Da es sich um Loyalitäten handelt, deren Achse Vernichtung ist, hat das große Brisanz.

Es ist nicht einfach, hier zu Lösungen zu kommen, überhaupt sich zu verständigen, Missverständnisse und andere Fallstricke rechtzeitig zu bemerken. Das verweist über den engeren therapeutischen Bereich hinaus. In der Bearbeitung solcher Schwierigkeiten wird immer wieder sichtbar, wie sehr an dieser Stelle ein relevanter gesellschaftlicher Diskurs nicht zur Verfügung steht im Sinne eines haltgebenden Rahmens, eines Möglichkeitsraumes, einer Sprache. Wenn es um die unsichtbaren Bindungen an den Nationalsozialismus geht, befinden wir uns noch sehr im Dunkeln.

Angesichts aktueller und viel diskutierter rechtsradikaler Gewalt ist es von daher eine Frage von großer politischer Bedeutung, ob sich hinter dieser nicht eine ungeahnt ausgedehnte Grauzone unsichtbarer NS-Loyalitäten verbirgt. Üblicherweise meinen Menschen aus dem gesamten nicht-rechtsradikalen Spektrum, himmelweit von Nationalsozialismus und Rechtsradikalismus entfernt zu sein. Als Konsens wird diese Überzeugung Tag für Tag von neuem bekräftigt bis hin zum „Aufstand der Anständigen“, wie ihn Bundeskanzler Schröder ausgerufen hatte.

Schon unter systemtheoretischem Blickwinkel muss es nahe liegen, die „Anständigkeit“ derer, die sich für „anständig“ erklären, kritisch zu befragen. Und dafür sprechen viele Erfahrungen, die ich auf diesem Gebiet gemacht habe. Jener Konsens ist von Illusionen durchsetzt. Bis heute verbergen sich nicht selten hinter dem Äußeren der Wohlanständigkeit Kontinuitäten zum Nationalsozialismus, zu seinen Denkweisen und seiner Weltsicht, die aber nicht in der Öffentlichkeit ausgelebt werden, sondern bevorzugt in abgeschlossenen Räumen wie dem der Familie.

Es geht also in der Frage nach Loyalitäten und Kontinuitäten zum Nationalsozialismus jenseits der rechtsradikalen Außenseiter zum Beispiel um alle diejenigen, denen es seit längerem gleichgültig gewesen ist, ob die wenigen noch lebenden ehemaligen Zwangsarbeiter die paar Mark „Entschädigung“ erhalten, die in diesem reichen Land so schwer loszueisen sind. Wer kann hier seine Hände in Unschuld waschen?

Solcher Art sind Themen und Fragen, die vielleicht auf Horizonte jenseits der Loyalitätsverhaftungen verweisen können.