Geschichtsforschung und Psychologie

Jürgen Müller-Hohagen

Die wissenschaftliche Erforschung des Individuums und diejenige kollektiver Prozesse und Strukturen klaffen wohl weltweit erheblich auseinander. Der Historiker Jan Rüsen hat es so ausgedrückt:

„Generell gibt es ein Missverhältnis zwischen Psychoanalyse und Geschichte. Zwar gibt es Richtungen des historischen Denkens, in denen psychoanalytische Konzepte und Methoden in der Erforschung und Darstellung der menschlichen Vergangenheit angewendet werden, insbesondere die Psycho-Historie, aber sie führt in der akademischen Fachdisziplin der Geschichtswissenschaft eher ein marginales Dasein, insbesondere in Deutschland.“ (1)

1990 hieß es während einer Tagung in der Politischen Akademie Tutzing, sie sei die erste im deutschsprachigen Raum, bei der Historiker und Psychotherapeuten gemeinsam an einem Thema zum Nationalsozialismus arbeiteten. (2) Vorhergegangen war auf Seiten des Veranstalter-Ehepaares, Ute und Wolfgang Benz, ein längerer Prozess, bis die Psychotherapeutin und der Zeitgeschichtler darauf gestoßen waren, das Ausmaß der Überlappung ihrer beiden Arbeitsfelder überhaupt wahrzunehmen. (3)

Ich habe ähnliches bei mir selber festgestellt, nämlich dass ich, soweit es um den Nationalsozialismus ging, Geschichtskenntnisse und psychologisches Wissen wie in Schubladen getrennt gehalten hatte – allen anderslautenden theoretischen Überzeugungen zum Trotz. Bestimmend für die Einsicht in diese unbewussten Vorgänge war ein Umzug über nur 18 Kilometer von München nach Dachau und dann die Begegnung mit ehemaligen Häftlingen sowie später die Mitarbeit im zeitgeschichtlichen Verein Zum Beispiel Dachau.

Abtrennungen wie die hier angedeuteten scheinen typisch zu sein in Deutschland, von den Wissenschaften bis zum individuellen Bewusstsein.

Interessant ist auch, was der Historiker Peter Schulz-Hageleit zu diesem Themenkomplex geäußert hat:
„Wissenschaftliche Tagungen sind gewöhnlich eine Plattform zur Verkündung mannigfacher Botschaften. Entgegen allen Diskursivitätsansprüchen finden in der Regel nur wenige tiefgehende Diskussionen statt. ‚Tiefgehend‘ heißt, dass Irrtümer eingeräumt, psychische Veränderungen begonnen und neue Fragestellungen formuliert werden.“ (4)

Schulz-Hageleit belegt sodann seine Aussagen anhand eines eigenen „Irrtums“. Er hätte zuvor in demselben Aufsatz, aus dem soeben zitiert wurde, die „verdeckte Weitergabe nazistischer Strukturen“ (5) thematisiert, sei aber schon im nächsten Satz zum „Erbe der Menschheit von der Steinzeit an“ übergewechselt. „Die Überleitung zum Anthropologisch-Allgemeinen bzw. zur Urzeit sollte der (weiteren) Konfrontation mit unserer deutschen Geschichte die Schärfe nehmen. Ich nahm sozusagen ‚Rück-sicht‘, erstens auf mich selbst und meine eigene Geschichte mit ihrer Nähe zur Gewalt des NS-Staates und zweitens auf das Publikum, dem man mit überzogenen Moralklagen und Selbstbezichtigungen schlicht und einfach auf die Nerven gehen kann (…) Es wäre kein Problem gewesen, die nachträgliche Einsicht in den Text einzuarbeiten (…) Für den Gesamtzusammenhang dieses Vortrags (wie überhaupt für das ganze hier vorliegende Heft) ist jedoch nicht nur das fertige Denkergebnis wichtig, sondern auch, wenn nicht sogar vorrangig, der dem Ergebnis zugrunde liegende Entwicklungsprozess.“ (6)


Zuvor sind selbstkritische Töne von Historikerseite bereits angeklungen. Wie sieht es nun auf dem psychologischen und psychotherapeutischem Feld dazu aus? Hier gibt es doch die „Spezialisten für Selbstreflexion“, also?

Um von vornherein einer Idealisierung unseres Berufszweiges hinsichtlich dieser Fragen vorzubeugen, wende ich mich zuerst einigen Abstürzen zu, in denen ein eklatanter Mangel gerade an Selbstreflexion sichtbar wird sowie ein naives Vernachlässigen historischer Grundtatsachen.

Sichtbar wird das natürlich nur bei Leuten, die sich verdienstvoller Weise überhaupt an zeitgeschichtliche Themen heranbewegen. Insofern trifft die folgende Problematisierung noch viel mehr auf die vielen Kolleginnen und Kollegen zu, denen solche Annäherungen fern liegen.
Ich beginne mit einem Beispiel von mir selber, nämlich wie ich in meinem Buch von 1988 Verleugnet, verdrängt, verschwiegen das Kapitel zum Thema Trauma abgefasst habe.

Ich schrieb hier über eine Familie mit Hintergründen in dem Bereich, der nun wirklich das äußerste an Trauma darstellt, nämlich Auschwitz. Doch dargestellt wurde etwas nicht von den Opfern, sondern von den Tätern. Zwar hatte der Vater meiner Klientin, der dort zu den an der Vergasung Beteiligten gehörte, das alles nicht mehr aushalten können, war geflohen und selber nach seiner Festnahme gefoltert worden und seitdem ein gebrochener Mann, verdiente sicherlich Mitgefühl, erst recht seine Tochter, und es war zutreffend, hier von Traumatisierung zu sprechen – aber an diese Stelle meines Buches gehörte das alles trotzdem nicht. Das Trauma des Nazi-Reichs war zuallererst das der Verfolgten, und nur das konnte das Hauptthema dieses Kapitels sein. Wenn ich diese so eindeutige Situation negierte, so handelte ich in Komplizenschaft mit der Täter-Opfer-Umkehrung der Nazi-Generationen. Dies festzustellen, ist beklemmend trotz aller Erleichterung, es wenigstens überhaupt bemerkt zu haben. Zugleich jedoch kehrt sich bei genauerem Nachdenken diese Erleichterung wieder in Beklemmung um, denn in keiner Rezension und keiner persönlichen Rückmeldung, weder von Nazi-Nachkommen noch von Verfolgten oder von Menschen aus dem Widerstand, hat irgendjemand diesen gravierenden Fehlgriff angesprochen. Wurde er nie wahrgenommen? Ist die Täter-Opfer-Verkehrung so umfassend wirksam?

Ich befinde mich allerdings mit solchen Akten von Komplizenschaft innerhalb meiner so „kritischen“ Zunft von Psychotherapeuten „in bester Gesellschaft“. Ich warne vor Idealisierung. Deshalb erwähne ich kurz folgende zwei Beispiele.

Das erste ist die Psychoanalytikerin Anita Eckstaedt, deren 500seitiges Buch Nationalsozialismus in der ‚zweiten Generation‘ – Psychoanalyse von Hörigkeitsverhältnissen grotesker Weise selber ein einziger Beweis von Hörigkeit, von Komplizenschaft ist. Ich ließ mich von den ersten 100 Seiten reichlich einnebeln und zweifelte angesichts meines Unbehagens eher an mir selber als an der Autorin, bis mich eine Kollegin, Vera Treplin, auf einige hochgradig problematische Stellen hinwies. Dann fiel es mir buchstäblich wie Schuppen von den Augen. Da sich die Analyse dieses Buches durch Treplin anderswo nachlesen lässt (7) , beschränke ich mich hier auf ein einziges, relativ willkürlich herausgegriffenes Zitat aus Eckstaedts Buch:

„Die Väter hatten einen Großteil der Entwicklung ihrer Kinder nicht miterlebt, er war ihnen verlorengegangen. An dieser vergangenen Zeitphase konnten sie ermessen, wieviel Zeit sie selbst durch den Krieg sinnlos verloren hatten. Außerdem beneideten sie wohl ihre Kinder, die, soweit es in der Kraft ihrer Mütter stand, behütet und umsorgt worden waren, während sie sich für Wahnsinn und Gewalt hatten opfern müssen. Sie hatten unvergleichbar Schreckliches gesehen, erlebt, erlitten und vielleicht getan.“ (8)

Diese Passage ist wie das ganze Buch tückisch. Die Nazi-Verbrechen werden nicht direkt abgestritten, allerdings nirgendwo konkret angesprochen, das Schreckliche des Krieges wird immerhin benannt, die Seelenlage einzelner Klienten oder ganzer Generationen ist nicht ohne Plausibilität, wir folgen ihr bei diesen Schritten der Einfühlung – und sind in der Falle, schlucken dann auch dies noch: „… und vielleicht getan“. Wir übersehen beispielsweise an dieser Passage, dass sie sich nicht auf eine spezielle Klientenfamilie bezieht, in der dieser Vorbehalt unter Umständen sehr wohl berechtigt sein konnte, sondern ganz allgemein auf die Gesamtheit von Vätern. Dann aber ist dieser Satz eine krasse Relativierung. Die Leiden der Nazi-Väter sind sicher, ihre Taten dagegen mit einem Vielleicht behaftet. Treplin schreibt zu dieser Stelle: „Vielleicht getan! Also Auschwitz vielleicht? War man doch nur ‚einer schweren Irreführung aufgesessen‘ (S. 496). Unglaublich, aber hier wird aufgerechnet! Den ’sogenannten Zielen‘ folgt die ‚Irreführung‘ als das deutsche Trauma gegenüber dem millionenfachen Mord und dem Trauma der Opfer.“ (9)

Auf ähnlicher Linie wie Eckstaedt liegt die als „kritisch“ bekannte Kollegin Thea Bauriedl, die in München ein Institut für „Politische Psychoanalyse“ gegründet hat. Originalton: „Damals verfielen Juden, Russen, Polen, Tschechen, Franzosen, die eigenen Soldaten dem Holocaust.“(10) Hier sind die Täter eingereiht in die Opfer, die deutschen Soldaten als „Opfer des Holocaust“. Und obwohl Bauriedl vielfach wegen solcher Äußerungen kritisiert wurde, hat sie anscheinend unbeirrbar weitergemacht. Schon bei flüchtiger Durchsicht einiger späterer Veröffentlichungen stieß ich wieder auf ähnliche Passagen. Angesichts solcher Wiederholungstätigkeit hört mein Verständnis auf, dass „so etwas“ mal „passieren“ kann.

Wiederum Originalton Bauriedl:
„So ist z.B. der Antisemitismus in Deutschland nicht nur Ursache, sondern auch Folge von Auschwitz. Verdrängte Schuldgefühle der Täter und ihrer Nachkommen werden dabei durch Projektion von Bösartigkeit und Minderwertigkeit auf die Opfer und Verleugnung des Geschehenen abgewehrt.“ (11)

Die Opfer sind mal wieder selber schuld, wenn auch hier etwas vermittelter über die subtil eingefühlte Psyche der Täter und ihrer Nachkommen.

Auf wenigen Seiten werden in den Passagen rund um dieses Zitat RAF, Stasi, Auschwitz, Alltag, Täter-Opfer-Ausgleich bei straffällig gewordenen Jugendlichen durcheinander gemischt und psychologische Weisheiten wie diese destilliert:

„Deshalb hat die Wahrheit über die Taten oft erst eine Chance, ans Licht zu kommen, wenn die Wahrheit über die eigenen Gefühle hergestellt ist. Erst die Wahrheit über die Geschichte der eigenen Gefühle ermöglicht ein wirkliches Verständnis für das, was geschehen ist. Dann stellt sich auch die Wahrheit über das, was wirklich geschehen ist, von selbst ein.“ (12)

Das wäre die Beseitigung jeder Geschichtswissenschaft!

Angesichts einer derartigen Proklamation der „Allgültigkeit jeden Gefühls“ fällt mir der Ausspruch eines kompetenteren Psychoanalytikers ein, wonach man sehr wohl auch von dummen Gefühlen sprechen könne, nämlich solchen, die mit dummen Gedanken einhergingen. (13)

Die Rezension des zuletzt zitierten Bauriedl-Buches in der Süddeutschen Zeitung vom 6. Februar 1993 mit dem schönen Titel Rechtzeitig deutlich werden sieht das allerdings von einer anderen Warte: „Utopisch? Vielleicht. Aber nichts brauchen wir dringender als Wege aus der Gewalt und – Utopien!“

Ich sehe demgegenüber die Wege aus Gewalt und Nazi-Verstrickung um einiges anders. Bei aller Wertschätzung von Gefühlen und den in ihnen oft enthaltenen subtilen Wahrnehmungen kann ich nur davor warnen, sie zu überschätzen. Das führt genauso in die Irre wie die Verabsolutierung des Verstandesbereichs oder der „Praxis“. Als Psychotherapeuten sind wir diesbezüglich besonders in Gefahr, lernen wir doch die hohe Bedeutung des Gefühlsbereichs ständig kennen. In Wirklichkeit aber handelt es sich schon in dieser täglichen Arbeit um die integrierte Berücksichtigung von Gefühlsäußerungen, verstandesmäßigen Einsichten und Lebensrealität.

Dies gilt um so mehr, wenn wir über die Grenzen unseres Fachgebiets hinauszublicken versuchen. Unser Beruf neigt hier zu naiven Übergriffen, zum Verabsolutieren von „Gefühlshaftem“, und das endet dann in Abstürzen wie den zuvor zitierten. Erst recht wenn wir uns mit Auswirkungen des Nazi-Reichs zu befassen versuchen, sind wir grundlegend angewiesen auf die Erkenntnisse anderer Disziplinen, insbesondere der historischen Forschung. Dies beinhaltet keineswegs die Forderung, selber zu „Mini-Historikern“ zu werden, sondern nur deren Perspektive wahr- und ernstzunehmen. Das klingt einfach, wird aber ständig missachtet.


Benennen von Irrtümern und Verwirrungen, wie zuvor geschehen, ist wichtig, eigene Selbstreflexion eingeschlossen. Doch seien darüber nicht die konstruktiven Perspektiven eines Zusammenwirkens von historischer und psychologischer Forschung vernachlässigt, auf die mit den eingangs genannten Tagungen ja bereits hingewiesen wurde.

Ich nenne deshalb zwei Beispiele, wie mir für meine psychologische Erforschung von seelischen Aus- und Fortwirkungen der Nazizeit Beiträge von Historikern wichtig geworden sind.

Der bekannte Historiker Fritz Fischer hat entscheidend zur Erkenntnis der Kontinuitäten deutscher Politik beigetragen. Für meine Forschungen ist folgende Gedankenlinie wesentlich:

„Nach der Meinung eines angesehenen Hitler-Forschers (Eberhard Jäckel) bestand Hitlers ‚Weltanschauung‘ aus zwei unveränderlichen Zielen: der Vernichtung der Juden und dem Krieg gegen Russland zum Zwecke der Eroberung von ‚Lebensraum‘ (…) Doch mit der Judenfeindschaft und dem Krieg um ‚Lebensraum‘ erweist sich Hitler als nicht originell und als Kind einer breiten Strömung in der deutschen wie der österreichischen Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg.“ (14) „Neu, der Person Hitlers allein zuzuschreiben, ist die Übersteigerung dieser Politik ins Kriminelle (…) Wobei auch hier, außer den Gefolgsleuten Hitlers, staatliche und private Gruppen (Polizei, Eisenbahn, Bauunternehmer, Chemiewerke), sei es aus Antisemitismus, sei es aus preußisch-deutscher Gehorsamstradition oder aus gedanken- und bedenkenloser Gewinnsucht, beteiligt waren.“ (15)

Diese Differenzierung zwischen einer durchgängigen Tradition von Expansivität, Antisemitismus und Gewaltbetonung und dem dazukommenden Spezifischen des Nazi-Reichs hilft mir beispielsweise, Gewaltverhaftung und Komplizentum in bestimmten Familien, bei denen es um Nazi-Verstrickungen geht, eher einordnen zu können. Ich muss nicht unbedingt nach etwas spezifisch Nazihaftem suchen, auch wenn dessen Verleugnung gerade ein wesentlicher Hinweis sein könnte. Vielmehr waren Fischers Analysen über die Grundlinien „normaler“ deutscher Politik ein wesentlicher Auslöser für mich, um die Normalitäts- und damit die Alltagsnähe der NS-Verbrechen psychohistorisch besser zu begreifen. In diesem Zusammenhang habe ich dann zum Beispiel das psychoanalytische Konzept der „Identifikation mit dem Aggressor“ (Anna Freud) in den erweiterten Rahmen einer „Identifikation mit der Macht“ (16) gestellt. Diese macht in meiner Sicht ein psychisches Strukturmoment aus, das für Aufbau und Unterhalt deutscher Gesellschaft und Staatlichkeit sogar noch weit vor 1871 konstituierend war.

Wir Psychologen sind nach meinem Eindruck dem Alltagsbewusstsein darin sehr verbunden, dass wir weitgehend unbefragt die Nazizeit als bloßen Rückfall in Barbarei ansehen. Deshalb halte ich uns folgendes Zitat des Historikers Peukert entgegen:

„Die strukturgeschichtliche Interpretation (…) stellte (erstens) (…) fest, dass es 1933 keinen totalen Machtwechsel in der deutschen Gesellschaft und im Bildungssystem gab, sondern eine außerordentlich dichte Gemengelage von Verflechtung, Überlagerung, Koalieren, aber auch Ausscheiden bestimmter Teile der alten und der neuen Eliten im NS-Staat (…) Das zweite wichtige Ergebnis (…) ist (…): Es gab nicht dieses von den Nationalsozialisten immer wieder beschworene Bild großer Einheitlichkeit, einer Pyramide, wo oben allein der Führer bestimmt, und alles ist danach hierarchisch geordnet und wurde so vollzogen. Das war nur die Version der Propagandabroschüren. In Wirklichkeit hat es selten eine solche Zersplitterung rivalisierender Herrschaftsapparate, rivalisierender Führer und Unterführer, Gauleiter und Reichsleiter gegeben wie im nationalsozialistischen System (…) Das dritte Ergebnis (…) (liegt in der) Theorie von der kumulativen Radikalisierung. Gerade weil es solch ein Instanzenchaos und gerade weil es keine klare Linie der Entscheidungen gab, passierte es, dass in den Konflikten der Instanzen sich jeweils die schlimmstmögliche Lösung durchsetzte. Also bedurfte es keiner minutiösen ideologischen Planung, beispielsweise vom Antisemitismus 1925 bis zum Holocaust von 1942, sondern es gibt eine antisemitische Grundstimmung, die in vielen Instanzen herrschte, wobei jedesmal, wenn diese in Konflikte gerieten, die radikalste, die fürchterlichste Variante sich schließlich durchsetzte.“ (17)

Den Widerspruch zu den Aussagen von Fischer hinsichtlich der Rolle Hitlers sehe ich als einen dialektischen an. Diese Aussagen in ihrer Kombination bestärken mich, meinen Wahrnehmungen von Nazi-Weiterwirkungen und Komplizenschaft im psychologischen Feld mehr noch zu trauen. Weder war es die gewaltbezogene deutsche Geschichte der letzten 150 Jahre noch die Person Hitlers noch die riesige Masse der Nazi-Funktionierer jeweils allein, sondern in ihrer Kombination, in einer ganz spezifischen Gestalt also, haben sie den beispiellosen industriellen Massenmord hervorgebracht. Dann aber waren enorm viele „kleine Rädchen“ sehr wesentlich daran beteiligt. Dann wird „bloßes Funktionieren“ nicht nur zum juristischen oder moralischen, sondern auch zum psychologischen Problem, zu einer Kernfrage für die psychologische Erforschung dieser Zusammenhänge.

Und wenn ich frage, welchen Anteil an Komplizenschaft wir als heute lebende Menschen daran haben oder nehmen, dann geht es nicht nur um Hitlerverehrung und ähnliches, sondern ebenso um unsere mehr oder weniger unbewusste Identifikation mit Macht und Gewaltbereitschaft und um unsere Bereitschaft, weitgehend blind gegenüber dem Angerichteten zu funktionieren oder Verhältnisse weiterzuentwickeln, die so etwas begünstigen.

Beides hat Hitler wesentlich möglich gemacht, beides stellt große Gefahrenmomente in der heutigen Welt dar. Und insbesondere beim „reinen“ Funktionieren befinden wir uns in einem Bereich, wo bewusste oder unbewusste und damit immer noch grundsätzlich inhaltlich beschreibbare Komplizenschaft übergeht in bloße Kontinuität, eine Kontinuität in den Strukturen von Denken und Handeln, die nicht mehr an Inhalten kenntlich wird.
Ich meine, dass solche Kontinuitäten, die nicht nur ins „Dritte Reich“ zurückgehen, sondern noch weit darüber hinaus, die dort aber ihre extreme Brisanz erhielten, interdisziplinär weitaus stärker zu bedenken sind, als es bisher geschieht, und dies über die wissenschaftlichen Zirkel hinaus auch im Austausch mit dem „wirklichen Leben“, wie es in psychologischer Beratung und Therapie so plastisch sichtbar werden kann wie kaum sonst irgendwo, die therapeutische Seite aber mit eingeschlossen.

Anmerkungen

  1. Rüsen, Jörn (1995): Grundsatzpapier zur Tagung Geschichtsbewusstsein und Psychoanalyse. Bielefeld
  2. Tagung Sozialisation und Traumatisierung. Kinder in der Zeit des Nationalsozialismus. Unter gleichem Titel von Ute und Wolfgang Benz als Buch herausgegeben (1992, Frankfurt)
  3. Persönliche Mitteilung von Ute Benz
  4. Schulz-Hageleit, Peter (1995): „Sinnquellen des Unbewussten“. Der Beitrag der Psychoanalyse zum aufklärenden geschichtlichen Denken. In Ders.: Geschichte, Psychologie und Lebensgeschichte. Dokumentationen der Technischen Universität. Berlin, S. 104
  5. ebd., S. 97
  6. ebd., S. 103f
  7. Treplin, Vera (1992): Eine Auseinandersetzung mit dem Buch von A. Eckstaedt „Nationalsozialismus in der ‚zweiten Generation‘. Psychoanalyse von Hörigkeitsverhätnissen“. Luzifer-Amor, Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse, Jg. 5, S. 165 – 188. Tübingen
  8. ebd., S. 243
  9. ebd., S. 170
  10. Bauriedl, Thea (1988): Das Leben riskieren. München, S. 199
  11. Bauriedl, Thea (1992): Wege aus der Gewalt. Freiburg, S. 157
  12. ebd., S. 156
  13. Fürstenau, Peter (1987): Der sentimentale Psychotherapeut und die Aufgabe der
  14. Fischer, Fritz (1992): Hitler war kein Betriebsunfall. München, S. 174
  15. ebd., S. 179
  16. siehe Müller-Hohagen, Jürgen (1994, 20022): Geschichte in uns. München, Berlin, S. 77-94
  17. Peukert, Detlev (1989): Rassismus als Bildungs- und Sozialpolitik. In: Cogoy, Renate u.a.: Erinnerung einer Profession. Erziehungsberatung, Jugendhilfe und Nationalsozialismus. Münster, S. 113ff