Avantgarde und Trauma – Die Musik des 20. Jahrhunderts und die Erfahrungen der Weltkriege

Wolfgang-Andreas Schultz

(erschienen in „Lettre International Nr. 71, Winter 2005, auch online verfügbar als pdf unter www.wolfgangandreasschultz.de/schultz_avantgarde.pdf)

Zusammenfassung

    Ausgangspunkt ist die Beobachtung, daß sich die Beschreibung der Symptome schwer traumatisierter Menschen ( besonders Kriegs- und Kampftraumata ) der von avantgardistischer Musik nach 1950 auffällig ähnelt: emotionale Erstarrung, Dissoziation des Ichs und Verlust des Zeithorizonts.

    Bereits nach dem Ersten Weltkrieg zeigt die Musik eine Distanziertheit, oft auch Emotionslosigkeit ( Strawinsky und der Neoklassizismus ) und ein Bedürfnis nach Ordnung ( Schönbergs Zwölftontechnik, bei gleichzeitigem Verlust des tonalen Bezuges ), Phänomene, die mit den Traumata der Krieges zusammenhängen könnten.

    Nach dem Zweiten Weltkrieg treten diese Phänomene in der „Seriellen Musik“ mit ihrer gesteigerten Konstruktivität noch intensiver auf. Nach dem Ersten Weltkrieg die Zwölftontechnik, nach dem Zweiten der Serialismus – bemerkenswert, daß ein naheliegender Zusammenhang nie thematisiert wurde, auch nicht von Adorno. Statt dessen macht der Begriff des „musikalischen Materials“ unkenntlich, in welcher Weise diese Techniken Ausdruck einer traumatisierten Gesellschaft sind.

    Rückwendung zu einer emotionalen Musik ( Neoexpressionismus, später Ligeti und vor allem Penderecki mit seinen neoromantischen und tonalen Werken, oder Schnittke mit seiner Polystilistik ) erschienen jetzt in anderem Licht: nicht als „reaktionär“ oder „regressiv“, sondern als Versuche, die Erstarrung im traumatischen Schock aufzubrechen, die Musik und die Gefühle wieder fließen zu lassen. Vielleicht läßt sich die Idee eines „posttraumatic growth“ auch auf die Musik übertragen: die Idee eines Wachsens durch die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts hindurch, eine Musik jenseits der Avantgarde, ohne diese vergessen zu müssen.