Verbundenheit – zur Entdeckung eines Konzepts

Jürgen Müller-Hohagen

Auch wenn unsere Kenntnisse über den Terror und seine Folgen noch so sehr zunehmen sollten, allein die Ansammlung von Wissen reicht hier nicht aus. Vielmehr benötigen wir noch etwas anderes, wenn wir uns nach dem von Gewalt so extrem geprägten 20. Jahrhunderts heranwagen an einen Austausch über politische Gewalt und ihre transgenerationellen Folgen.

Wir sind angewiesen darauf, uns miteinander den Raum unseres Diskurses durch die Wahrnehmung einer Dimension herzustellen, die zugleich bereits Voraussetzung unserer gemeinsamen Suchbewegungen ist. Diese Dimension als Solidarität zu bezeichnen, ist mit vielen Vorbehalten behaftet angesichts ihrer Pervertierung in vielen Teilen der Welt zu einem bloßen Vehikel blinder Loyalitäten. Eher geht es darum, diese Dimension wieder neu zu entdecken, gerade in einem Land wie Deutschland. Deshalb spreche ich von Verbundenheit.1 Das möchte ich hier wenigstens umreißen.

Ausgangspunkt war für mich folgende Überlegung. Ich habe mich im Zuge meiner Forschungen wieder und wieder gefragt, was denn eigentlich „nazihaft“ sei. Man denkt dabei unwillkürlich an besondere Härte, an offene Grausamkeit, an „KZ-Schergen“. Doch vieles steht dagegen, vor allem das Zeugnis zahlreicher Menschen, die damals verfolgt wurden. So weiß ich von ehemaligen Häftlingen des KZ Dachau, dass nicht jene „Schergen“ es waren, die sie am meisten fürchteten. Vielmehr: Am gefährlichsten waren bestimmte Pflichterfüller, diejenigen, die „einfach ihren Dienst machten“ und die von daher durch nichts zu erreichen waren.

Auch hier wieder wird also ein besonderes Licht auf den Bereich geworfen, den wir als „Normalität“ ansehen. Was aber ist dann am ehesten als „nazihaft“ anzusehen?
Nach langem Nachdenken über diese Frage bin ich zu der Einsicht gekommen, dass dabei das Zerschneiden des Bandes zwischen Menschen eine ganz besondere Rolle spielt, das Zerschneiden ihrer Verbundenheit. Diese nämlich suchten und suchen die Gewaltherrscher und ihre Komplizen zu zerstören, und die Nazis wollten das erst recht. Verbundenheit zwischen Partnern, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Nachbarn, Freunden, Kollegen, zwischen Gläubigen und ihren Religionen, unter Arbeitern und zwischen Völkern, dies alles wurde und wird erbittert bekämpft.

Hermann Langbein, Mitorganisator des internationalen Widerstands im KZ Auschwitz, hielt einen Vortrag bei unserem zeitgeschichtlichen Verein „Zum Beispiel Dachau“. Er wies darauf hin, dass dieser Widerstand, der vielen das Leben rettete und Nachrichten bis nach London brachte, nur möglich war durch das tiefe Vertrauen unter den vier tragenden Männern, insbesondere zu seinem Freund Ernst Burger. Ich sprach ihn nachher auf diese Verbundenheit an. Sofort ergänzte er: „Das ist etwas Schönes, die Verbundenheit, aber es reicht noch nicht. Es muss noch etwas hinzukommen, das sich vielleicht als ‚Kontrolle‘ bezeichnen lässt“, nämlich der ständige und intensive Austausch, die gegenseitige Prüfung, ein sich Halten und Kritisieren. „Kontrolle“ klingt vielleicht hart im ersten Moment, und doch: Erst dadurch wird Verbundenheit zu etwas menschlich Verbindlichem.

„Ich habe Sie damals hundertmal gehasst wegen Ihrer Distanz!“ Das konnte eine Klientin, die wegen der starken Nazi-Verhaftung ihrer Familie zu mir gekommen, nach langer Zeit endlich sagen über die Anfänge der Therapie. Denn inzwischen war ihr zugänglich geworden, wie Distanz auf dem Boden von Verbundenheit die Voraussetzung ist, um leben zu können.

In Geschichte in uns habe ich mit Blick auf die Dimension der Verbundenheit aus dem Buch der uruguayischen Psychoanalytiker Maren und Marcelo Viñar Fracturas de memoria zitiert. Zentral für ihre mich tief beeindruckenden Reflexionen ist es, wie sie die diametral unterschiedlichen Reaktionen zweier junger Männer einander gegenüberstellen, die schwer gefoltert wurden. Der eine ergab sich schließlich seinen Peinigern, nahm deren Bild als „eigene“ Struktur in sich auf, während der andere trotz allem widerstehen konnte. Was war der Grund? Im Zustand endlos wirkender körperlicher Schmerzen und extremer sensorischer Deprivation, im Verlust von Selbstwahrnehmung und Kontrolle waren ihm in seinen Halluzinationen seine Freunde erschienen, „um mit ihm das Examen im gefoltert Werden abzulegen; seine Schmerzen verschwanden“, und es gelang ihm im Schutz dieser Verbundenheit, „die teuflische Maschinerie des Feindes zu besiegen“.2

Diese Gegenüberstellung bedeutet für die Autoren aber nicht ein Schwarz-Weiß von Gut und Böse, sondern sie betonen, wie diese bedrückende Polarisierung zwischen „Feigheit“ und „Heldentum“ erst hergestellt wird durch das System brutaler politischer Gewalt. Ich sehe es genauso.

Ein „Reich des Guten“ und ein „Reich des Bösen“ existieren nur in der Sicht manichäischer „Weltverbesserer“. In Wirklichkeit sind unter einigermaßen menschenwürdigen Bedingungen die Bereiche von Gut und Böse eng verwoben.

Die Erfahrung zeigt sowohl für das individuelle wie für das gesellschaftliche Leben, dass wir sogar in besonderer Gefahr zum Bösen sind, wenn wir gar zu sehr das „Gute“ wollen, d.h. wenn wir es verabsolutieren. Der nordamerikanische Psychoanalytiker Léon Wurmser hat dies in bemerkenswerter Klarheit herausgearbeitet.3

So ist für mich auch die Dimension der Verbundenheit kein „Hort des Guten“, sondern nur so etwas wie eine Kursangabe, eine extrem fragile Linie unseres Lebens. Und doch, auf sie kann es entscheidend ankommen. Selten hat dies so deutlich vor mir gestanden wie in Maren und Marcelo Vinars Buch. In diesem Licht sehe ich noch klarer die Bedeutung von Verbundenheit, sowohl in meiner psychotherapeutischen Arbeit als auch in meinem Leben in der Familie als auch im Austausch von Erfahrungen und Einsichten über Grenzen hinweg.
Und seit ich vor fast dreißig Jahren zum ersten Mal ein Werk von Freud, die Traumdeutung, las, hat sich mir eine Perspektive eröffnet, in der unser Blick auf die „Unterwelt“, auf die individuelle wie auf die kollektive, bei aller notwendigen Schärfe und Kontrolliertheit nicht die Dimension des liebenden Umgangs zwischen Menschen aus dem Auge verliert. Ich beende deshalb meinen Vortrag mit folgendem Zitat:

„Alles, was Gefühlsbindungen unter den Menschen herstellt, muss dem Krieg entgegenwirken. Diese Bindungen können von zweierlei Art sein. Erstens Beziehungen wie zu einem Liebesobjekt, wenn auch ohne sexuelle Ziele. Die Psychoanalyse braucht sich nicht zu schämen, wenn sie hier von Liebe spricht.“4

Anmerkungen

  1. Näher habe ich das dargestellt in Geschichte in uns (1994, 20022), S. 229-247
  2. Viñar, Maren und Marcelo (1993): Fracturas de miemoria. Crónicas para una memoria por venir. Montevideo, S. 63
  3. Wurmser, Léon (1989): Die zerbrochene Wirklichkeit. Psychoanalyse und das Studium von Konflikt und Komplementarität. Berlin, Heidelberg
  4. Freud, Sigmund (1933): Warum Krieg? G W. XVI, S. 23. Frankfurt.