Tadeusz Borowski: Bei uns in Auschwitz

Tadeusz Borowski

Ausschnitte aus einigen Erzählungen dieses Bandes (1) , zusammengestellt von Jürgen Müller-Hohagen


In einem psychologischen Fachartikel (2) hatte ich 1995 längere Passagen aus dem Buch von Tadeusz Borowski Bei uns in Auschwitz zitiert. Diese Erzählungen haben sich mir bleibend eingeprägt. Ich gebe die Ausschnitte so wieder, wie ich sie in jene Arbeit aufgenommen habe. Sie haben engen Bezug zu dessen Thema Gegenübertragung nach 1945. Oder wir können auch sagen: Beziehung nach 1945. Oder: Liebe nach 1945.
Ich halte das Buch von Borowski für eines der wichtigsten zum Thema.

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Abschied von Maria

Das ausgebrannte Haus steht schwarz auf der anderen Straßenseite, der Gartenpforte gegenüber (…)

Maria sah von ihrem Buch auf. Ein durchsichtiger Schatten lag auf ihrer Stirn, verdunkelte ihre Augen und schmiegte sich wie ein hauchzarter Schleier an ihre Wangen. Auf dem Tisch, zwischen leeren Flaschen, Tellern mit Salatresten, dunkelroten, bauchigen Gläsern auf hohen, blauen Stielen, glühte eine kleine pilzförmige Tischlampe. Maria umschloss sie mit ihren Händen.

Das helle Licht, das die Konturen der Gegenstände nachzeichnete, ertrank in dem blauen Rauch, der wie eine dichte Nebelschicht unter der Decke hing, brach sich an den schmalen, zerbrechlichen Rändern der Gläser und funkelte in den Kelchen wie goldgelbe Blätter, die im Wind erbeben. Alles Licht schien in Marias behutsam geschlossenen Händen eingefangen, sie leuchteten wie eine kostbare Schale. Nur zwischen den Fingern, dort, wo dunkle Linien die lichte Form zerteilten, pulsierte fast unmerklich das Blut. Das winzige Zimmer versank in ein warmes, trauliches Halbdunkel, kuschelte sich noch mehr zusammen, bis es so klein wurde wie eine Muschel.

„Schau, es gibt keine Grenze zwischen Licht und Schatten“, flüsterte Maria. „Der Schatten ist wie die Flut. Zuerst berührt er unsere Füße, dann steigt er immer höher, und schließlich gibt es nichts mehr auf der Welt. Nur dich und mich.“ (3)

Marias Gesicht unter dem schwarzen Hut war kalkweiß. Sie hob in einer rührenden Bewegung die kalkweißen Hände, drückte sie gegen ihre Brust, um Abschied zu nehmen. Sie stand auf einem der Lastwagen, eingeklemmt in der Menge, dicht neben einem Gendarm. Wie eine Blinde sah sie in einen der Scheinwerfer hinein, und ich hatte das Gefühl, als blickte sie direkt in mein Gesicht. Ihre Lippen bewegten sich, vielleicht wollte sie noch etwas sagen, vielleicht wollte sie mich rufen. Sie schwankte, beinahe wäre sie gefallen. Dann erzitterte der Wagen, knurrte wie ein böses, gereiztes Tier und zog mit einem Ruck an. Ich wusste überhaupt nicht mehr, was ich tun sollte.

Erst später erfuhr ich, dass Maria in ein berüchtigtes Lager am Meer gebracht worden war. Sie war Mischling. Man hat sie vergast. Und vielleicht zu Seife verkocht. (4)

Abschied von Maria, so heißt die Erzählung des polnischen Schriftstellers Tadeusz Borowski, von deren Anfang und Ende ich einige Absätze wiedergab. Sie ist Teil eines Bandes mit dem TitelBei uns in Auschwitz. Aus der gleichnamigen Erzählung zitiere ich nun.

Bei uns in Auschwitz

„Vielleicht sitzen wir hier, damit diese neue, andere Welt einmal kommen kann. Oder glaubst Du, daß wir auch nur einen einzigen Tag im Lager säßen, wenn wir nicht die Hoffnung hätten, dass diese neue Welt einmal kommt und dass die Menschenrechte wieder zurückkehren zu den Menschen? Die Hoffnung ist es, die den Menschen befiehlt, gleichgültig in die Gaskammer zu gehen; die sie davon abhält, Aufruhr zu planen; Hoffnung macht sie tot und stumpf. Hoffnung befiehlt den Müttern, sich von ihren Kindern loszusagen, den Frauen, sich für ein Stück Brot zu verkaufen, den Männern, Menschen zu töten. Die Hoffnung treibt sie dazu, um jeden weiteren Tag des Lebens zu kämpfen, weil es gerade der kommende Tag sein könnte, der die Freiheit bringt. Vielleicht nicht einmal die Hoffnung auf eine neue, bessere Welt, sondern nur noch die Sehnsucht nach einem Leben, in dem es wieder Ruhe und Frieden gibt. Noch nie war die Hoffnung stärker als der Mensch, aber noch nie hat sie soviel Böses heraufbeschworen wie in diesem Krieg, wie in diesem Lager. Man hat uns nicht gelehrt, die Hoffnung aufzugeben. Deswegen sterben wir im Gas. (5)

Wie kommt es, dass keiner aufschreit, niemand einem ins Gesicht spuckt, niemand sich auflehnt? Wir ziehen unsere Mützen vor den SS-Männern, wenn sie fertiggezählt haben und aus dem Wald zurückkommen, wir gehen mit ihnen in den Tod und – nichts! Wir hungern, wir stehen im Regen, man nimmt uns unser Liebstes. Siehst Du, das ist die Mystik. Das ist die sonderbare Macht eines Menschen über einen anderen. Die wilde Überrumpelung, die keiner brechen kann. Und die einzige Waffe, die wir haben, ist unsere Zahl – wir sind zu viele, die Kammern fassen uns nicht. (6)


Ein Tag in Harmence

Teil eines Tagesablaufs im Außenkommando, es ist Mittag:

Die Menschen auf dem Platz haben sich auch hingelegt, sie schlafen, die Köpfe mit den Jacken zugedeckt, den schweren, unruhigen Schlaf der Erschöpfung.

Wir liegen im Schatten. Uns gegenüber lagert das Mädchenkommando…

Eins der Mädchen kniet abseits von den anderen. Sie hat die Arme hochgestreckt und balanciert einen schweren, großen Balken über dem Kopf. Der SS-Mann, der das Kommando bewacht, hetzt jeden Augenblick seinen Hund auf das Mädchen. Die Leine spannt sich, das Tier springt wütend an der Knienden hoch und hechelt ihr ins Gesicht. „Eine Diebin?“ frage ich ohne sonderliches Interesse.

„Nein. Man hat sie mit Peter im Mais ertappt. Peter ist davongelaufen,“ sagt Andrej.
„Hält sie die fünf Minuten durch?“
„Aber ja. Die ist stark wie ein Pferd.“
Sie hält nicht durch. Ihre Arme knicken ein, der Balken fällt zu Boden, und das Mädchen wirft sich laut aufschluchzend mit dem Gesicht auf die Erde.
Andrej wendet sich ab, sieht mich an.
„Hast du eine Zigarette, Tadek? Schade um das Mädchen! Wieder ein Menschenleben.“
Dann zieht er sich die Jacke über den Kopf, streckt sich hin und schläft ein. Ich bin auch gerade am Einnicken, als mich Pipel hochreißt.
„Kapo ruft nach dir. Vorsicht, er hat eine Stinkwut!“ (7)

Im Nachwort zu Borowskis Buch hebt Andrzej Wirth dessen radikal neue „Konzeption der Tragik“ (8) hervor, die einen „Unterton scheinbaren Zynismus'“ bedingt. Es handele sich um einen „Effekt der Distanz.“ (9) „In einer unmenschlichen Situation ist kein Platz für menschliche Reaktionen: auf die einfachste Formel gebracht – Mitgefühl wäre Zustimmung zum Mord, eine mörderische Geste. Diese Beobachtung gleicht einer Entdeckung.“ (10) „Das Werk Borowskis ist Ausdruck eines Willens, Zeugnis abzugeben von dem unglaublichen Leid, das im zwanzigsten Jahrhundert Menschen von Menschen bereitet wurde. Die Einmaligkeit von Borowskis Werk liegt darin, dass es auch tatsächlich Zeugnis abgibt.“ (11)

Ich stimme zu und widerspreche zugleich. Erstens ist dieses Werk trotz seiner herausragenden Bedeutung nicht einmalig, und zweitens fehlt etwas in dieser Einschätzung: Es ist auch ein Buch der Liebe.

Abschied von Maria – Anfang und Ende der Erzählung sprechen für sich. „Ich weiß nicht, Maria,“ sagte ich achselzuckend. „Ich glaube, Poesie, und vielleicht auch Religion, kann man nur daran ermessen, wie viel Liebe von Mensch zu Mensch sie zu wecken vermag. Das ist, glaube ich, die objektivste Beurteilung.“ (12f)

Bei uns in Auschwitz: Die Erzählung ist als Bericht aus dem KZ Auschwitz an die Verlobte in Birkenau gefasst.

Ein Tag in Harmence: Die Nazis bestrafen Liebe mit dem Tod.

Liebe, so sehe jedenfalls ich es, ist das, was Borowski dem Unbeschreiblichen entgegenhielt, in aller Schwachheit.

Für ihn selber konnte sie wohl nicht mehr stark genug sein, sich am Leben zu erhalten. Er starb 1951 im Alter von 29 Jahren durch Selbstmord.