Täter und ihre Nachkommen

Jürgen Müller-Hohagen

Kaum irgendwo sonst klaffen Selbst- und Fremdeinschätzung so weit auseinander wie dann, wenn es um die Täterschaft von Verbrechen geht. Das gilt in nochmals gesteigerter Weise für Nazi-Täterschaft. Überhaupt dieses Wort zu verwenden, erweckt bis heute leicht den Verdacht von Extremismus oder besserwisserischer Anklagehaltung. Klares Wahrnehmen gesellschaftlicher und individueller Wirklichkeit ist aber in Deutschland nicht möglich, wenn man sich um diesen Bereich herummogelt.

Beim Gedanken an Nazi-Täter stehen für viele Menschen die Bilder von „bestialischen Nazi-Schergen“ im Vordergrund. Überlebende der KZ haben aber vielfach berichtet, nicht solche Bewacher seien die schlimmsten gewesen, sondern jene, die nichts als ihre „Pflicht“ getan haben und die niemals auch nur irgendwie zu erreichen waren. Robert Jay Lifton hat in seinem Buch über die Nazi-Ärzte Ähnliches beschrieben und auch dargelegt, dass von der Führung Wert auf gut funktionierende Leute gelegt wurde und gerade nicht auf pathologische Gewalttäter im üblichen Sinn. Schließlich handelte es sich ja um bürokratisch durchgeplante und nach industriellen Maßstäben vollzogene Unterwerfungs- und Vernichtungsstrategien.

Diese Einsicht aber wird ausgeklammert, wenn bis ins heutige Bewusstsein hinein Nazi-Täter nur als Gewaltmenschen aus eher rein individueller Charakterpathologie vorgestellt werden.

Die unheimliche Effizienz der Nazi-Verbrechen basierte jedoch auf hochentwickelter Arbeitsteilung, wobei es den einzelnen „Rädchen“ in dieser Maschinerie leicht gemacht wurde, das Ergebnis ihrer Arbeit nicht zu sehen. Insofern ist für die Frage nach den Aus- und Weiterwirkungen bei den Nachkommen nicht nur auf die Übermittlung von direkter Gewaltausübung zu schauen, sondern ebenso auf die eines Funktionierens, das sich nicht um die Folgen kümmert, die es für andere hat. Wer in Deutschland kann dann noch sagen, er oder sie stamme nicht aus einer Familie von Tätern oder zumindest von Tatbeteiligten?

Im psychologischen und pädagogischen Alltag nach 1945 haben sich Täter kaum je als solche zu erkennen gegeben. Insofern kann oft nicht auf direkte Erfahrungen zurückgegriffen werden. Wohl aber sind Nazi-Täter über Aussagen ihrer Kinder bemerkbar geworden, jedenfalls dann, wenn etwa in Psychologie und Pädagogik entsprechende Antennen vorhanden sind. Von daher gehört es zu den zentralen Thesen des Dachau Instituts, dass Nazi-Täter in ungeahnt großer Zahl und oft in erschreckender Intensität nach 1945 weitergemacht haben, nicht mehr in der Öffentlichkeit und in staatlichem Auftrag, sondern im Verborgenen, insbesondere im „Schoß der Familie“ und hinter den verschlossenen Türen der Arbeitswelt. In psychologischer Beratung und Therapie ebenso wie in der Schule kann davon etwas sichtbar werden, wenn man in der Lage ist, die entsprechenden Zeichen zu entziffern.

Sich selbst als Nazi-Täter oder auch „nur“ als Tatbeteiligten zu sehen, fällt aus individuellen Gründen schon schwer und wird bis heute gesellschaftlich weitaus mehr verhindert als dass dafür klare Anweisungen und gegebenenfalls auch Hilfestellungen gegeben würden. Ein massenhaft verwandtes Mittel zur Tarnung nach außen und sogar noch vor sich selber besteht darin, dass Täter sich als „Opfer“ deklariert haben. Begründungen dafür ließen sich leicht geben: Lebensgefahr in Krieg und Gefangenschaft, Entbehrungen, Hunger, Krankheiten, Verlust von Heimat, Besitz, Angehörigen und vieles mehr. Diese Verkehrung von Tätern in „Opfer“ hat in hohem Maße zur Verwirrung der Nachkommen beigetragen und hat diese oft in besonderer Weise an die Täter-Eltern gebunden. Komplizenschaft und gesteigerte Loyalität resultierten daraus.

Hinsichtlich der seelischen Auswirkungen bei den Nachkommen von Nazi-Eltern bestehen noch ausgedehnte weiße Flecken. Falls überhaupt, ist es beispielsweise in Psychotherapien des öfteren erst dann zu Mitteilungen nach außen gekommen, wenn die Eltern gestorben oder zumindest sehr alt waren. Wir befinden uns weiterhin am Anfang eines Klärungsprozesses.