Ein Brief an Eugen Kessler

Jürgen Müller-Hohagen

Lieber Eugen,


die Ausstellung „Lebensläufe“ von unserem Verein „Zum Beispiel Dachau“ wurde im Oktober 1990 in der Gedenkstätte Sachsenhausen gezeigt, und wir befanden uns auf der Rückfahrt von der Eröffnung. Du fingst das Gespräch mit mir an, nachdem Du Dich zuvor erkundigt hattest, wer das eigentlich sei, mit dem Du das Dreibettzimmer geteilt hattest. Wir sind dann mehrere Stunden im Bus beisammen gesessen. Das Hauptthema waren Deine Erfahrungen in der sowjetischen Kriegsgefangenschaft, und in deren Mittelpunkt stand Dein Zusammentreffen mit Kapitan Sadjora.

Er hatte Dir zusammen mit anderen den Zugang zu den Lehren des Marxismus gezeigt und war so überzeugend in seinem täglich gelebten Humanismus, dass Du ihn Dir zu einem der wichtigsten Vorbilder Deines Lebens nahmst. Und das wiederum zog mich schon auf jener Omnibusfahrt von Sachsenhausen nach Dachau so an bei Dir, nämlich die Bedeutung, die Du Vorbildern gibst. Du hast das so selbstverständlich getan, ohne große Worte. Deine ganze Person war darin zu spüren.

Du bist für mich vorbildhaft darin, den Wert von Vorbildern hervorzuheben.

So etwas ist heute alles andere als selbstverständlich. Im Gegenteil gilt es eher als „modern“, alles „selbst“ zu schaffen. Andere als Vorbild anzuerkennen, könnte dann die eigene „Größe“ schmälern, könnte einen möglicherweise als „abhängig“ erweisen.

Das ist eine verkehrte Welt, denn gerade dann befindet man sich – meist unbemerkt – in Abhängigkeiten: von Idolen, vom Geld, vom „Erfolg“.

Dagegen lebt jemand wie Du doch vor, dass die Wertschätzung von Vorbildern uns in Wirklichkeit freier macht zu eigenem Handeln. Ich meine damit ein Handeln, das mit uns selbst zu tun hat und das uns gleichzeitig mit anderen Menschen verbindet. In dieser Verbundenheit können wir von anderen lernen und umgekehrt selber Vorbild sein. Hier wachsen Freundschaften, und wir merken, dass Beziehungen die Grundlage unseres Lebens sind.

„Beziehungen“, dieses Wort hat seit längerem noch eine zweite Bedeutung, nämlich im Sinne von Kontakten, mit denen sich Vorteile verschaffen lassen. Und „Freundschaft“ befindet sich auch auf einer rutschigen Bahn: „Amigo“ steht inzwischen hierzulande für Bestechlichkeit.

Das signalisiert einen Niedergang zwischenmenschlicher Verbundenheit, der uns sehr zu denken geben kann. „Ellbogengesellschaft“ heute, „Herrenrasse“ damals, aber auch von oben propagierte „Solidarität“ im „real existierenden Sozialismus“ sind Stichworte, die hinweisen auf die Gefährdung unseres Miteinander. Nicht nur die Umwelt ist bedroht.

Zu diesen Themen möchte ich jetzt einen Experten zitieren – Dich. Du hast mir einiges dazu ins Mikrophon gesprochen. So hast Du gesagt:
„Ich bin der Meinung, dass für jeden Menschen die Freundschaft das Wichtigste ist, denn ohne Freundschaft ist das Leben zwecklos. Aber die Bedeutung der Freundschaft, die kann einen Menschen formen. Freunde sind ein Teil unseres Denkens, und darin kommt eigentlich die Freundschaft zum Ausdruck.“

Freundschaft und Formung des Denkens sind also zwei Seiten einer Medaille, gehören untrennbar zusammen.
Und sofort, wenn man mit Dir über solche Themen spricht, denkst Du an ganz konkrete Menschen, an Menschen, mit denen Du durch wichtige Erfahrungen verbunden bist. So bist Du bei dieser Tonbandaufnahme direkt nach den eben zitierten Aussagen auf Fred Haag zu sprechen gekommen, auf Deine spontan entstandene Zuneigung zu ihm, „der so tapfer war, wie er die 25 Peitschenhiebe bekommen hat von der SS in Dachau draußen. Da sind mir die Worte gekommen: Ihr kriegt uns nicht unter. Das war so sicher, das Auftreten von diesem Menschen, dass ich gesagt habe: Ihr könnt uns nicht brechen.“

Das war eine Erfahrung, die Dir im Lager Kraft gegeben und die Dich auch viel später noch in Deinem Leben sehr bestimmt hat:
„Wie ich von der Gefangenschaft kam, geh ich zur VVN, wer sitzt am Schreibtisch? Der Fred. Da hab ich gewusst: Jetzt bist du in der richtigen Organisation.“

Insgesamt gilt für Deine Freundschaft mit Fred Haag Dein Satz: „Diese Zuneigung, diese innere Übereinstimmung, das kann nur bei einer Freundschaft passieren. „Freundschaft gehört zur Lebensform.“

Und wie wichtig ist Kapitan Sadjora für Dich geworden. „Was der Sadjora mir erzählt hat, das sind grundsätzliche Stellungnahmen, das formt doch den ganzen Menschen in seiner Denkungsart um. Was glaubst du, wie oft ich daran denke, wie ich mich da beschwert habe, dass die deutschen Offiziere die Haare behalten konnten – und uns hat man geschoren. Und da hat der Sadjora zu mir gesagt: ‚Was ist besser, Kessler, etwas im Kopf oder auf dem Kopf?‘ Das vergess‘ ich nie. Das ist nämlich das Entscheidende: Man darf den Menschen nicht nach dem Äußeren beurteilen, sondern wie es innen aussieht.“

Das sind Ausschnitte aus unseren Gesprächen, Originalton Eugen Kessler, spontan in das Mikrophon gesprochen auf meine Fragen hin. Und sehr wichtig ist dabei, dass Du – anders als im vorherrschenden Bewusstsein – Freundschaft nicht als etwas „rein Privates“ beschreibst, sondern als zugehörig zur Lebensform, zum eigenen Handeln, zum Handeln gerade auch mit Blick auf die politischen Verhältnisse. Fred Haags „Achtungsschritte“ auf den Lagerkommandanten Loritz zu, die diesen zurückweichen ließen, waren eine Handlung von größter politischer Bedeutung. Und wesentlich war ja, dass er die „Strafe“ auf sich genommen hatte, um seine Kameraden gegen die SS in Schutz zu nehmen. Er blieb als Kapo solidarisch mit ihnen, er ließ sich eher auspeitschen, als sie zu verraten, und er drohte schließlich den Kommandanten in Befolgung von dessen eigenem Befehl über den Haufen zu rennen. Damit wurde er zum Vorbild für Dich, gewann Deine Zuneigung, Deine Freundschaft.

Ich denke hier an eine Äußerung von Hermann Langbein, die in die gleiche Richtung geht. Er hielt einen Vortrag in Dachau über den Widerstand im KZ Auschwitz, der nur möglich war durch das tiefe Vertrauen unter den vier tragenden Männern, insbesondere zwischen ihm und seinem Freund Ernst Burger. Ich sprach ihn nachher auf diese Verbundenheit an. Sofort ergänzte er: „Das ist etwas Schönes, die Verbundenheit, aber es reicht noch nicht. Es muss noch etwas hinzukommen, das sich vielleicht als ‚Kontrolle‘ bezeichnen lässt.“ Er meinte damit den ständigen und intensiven Austausch, die gegenseitige Prüfung, ein sich Halten und Kritisieren, alles unerlässlich angesichts der enormen Gefährdung jener Widerstandsarbeit.

Und genau das finde ich so wichtig und vorbildhaft bei Dir, nämlich dass Widerstand und Freundschaft, politische Arbeit und Solidarität, Orientieren an Vorbildern und selber Vorbild Sein bei Dir nicht getrennt in Schubladen stattfinden. Du lebst sie in ihrem Miteinander. Und Du lebst sie nicht allein für Dich, sondern im Zusammensein mit anderen, über Jahrzehnte mit Deiner Frau, mit den Kindern, jetzt mit Resi, Du lebst sie mit den Kameraden, mit den Besuchern der Gedenkstätte, mit der Jugend, seit einiger Zeit auch mit Ingeborg und mir. Der Geist dieser solidarischen Verbundenheit ist unersetzlich.


Dachau, 7. April 1995


Dein Jürgen Müller-Hohagen