Komplizenschaft

Jürgen Müller-Hohagen

Mehrere Personen schließen sich zusammen, um anderen zu schaden – oder um dies zu vertuschen. Das ist Komplizenschaft.

Wie sehr das Nazi-Reich voll davon war, wissen wir.

Aber nachher?

Das Schweigen der Täter und Tatbeteiligten ist bekannt. Als das „Große Schweigen“ beschrieb dies Ralph Giordano in seinem Buch Die Zweite Schuld oder: Von der Last, Deutscher zu sein. Die Komplizenschaft ging weiter.

Doch wie verhält sich dies bei den Nachkommen? Sind sie „unschuldig“, „schuldlos schuldig“, „schuldig geboren“?

Darüber wissen wir bis heute viel zu wenig.

Im intimen Raum von psychologischer Beratung und Therapie kann, sofern dazu die Bereitschaft besteht, etwas sichtbar werden von einer Komplizenschaft über die Generationen hinweg.

Auf solchen Erfahrungen basiert die folgende Zusammenfassung.

  • Loyalität ist, wenn es um Komplizenschaft geht, die zentrale Grundlage (siehe dazu die entsprechenden Seiten).
  • Komplizenschaft, die ihre Wurzeln im Nationalsozialismus hat, kann den Beteiligten bewusst sein, kann mit Absicht eingefordert und gegeben werden, doch in der Regel funktioniert das eher unbewusst.
  • Verwirrung ist ein wichtiges Medium, über das Komplizenschaft hergestellt wird.
  • Die Einübung in selbstverleugnende Einfühlungsbereitschaft gegenüber den Tätern und den Mitmachern bereitet die Ausbildung von Komplizenschaft vor.
  • Identifikation mit der Macht (siehe dort) spielt eine große Rolle.
  • Der ethische Bereich ist nachhaltig korrumpiert.
  • Niemand unter den Nachkommen ist ausgenommen von der Gefahr, in Komplizenschaft verstrickt zu sein, und mag man sich für noch so liberal, fortschrittlich, menschenfreundlich oder kritisch halten. Der anklagende Blick auf rechtsradikale Außenseiter, so wichtig er einerseits ist, kann zum anderen die Wahrnehmung eigener Komplizenschaft verhindern.
  • Komplizenschaft ist angelegt auf Aktion. Diese allerdings muss nicht immer sichtbar sein. Sie kann auch in Unterlassen oder Vertuschen bestehen. Auf jeden Fall aber sind die Handlungen oder Nicht-Handlungen destruktiv. Das ist in zweierlei Richtung möglich:
    • destruktiv gegen andere, insbesondere gegen Schwächere, Außenseiter, Juden, Fremde, Behinderte…
    • destruktiv gegen sich selber als Ausagieren von verborgen gehaltenen Lebensmustern oder auch konkreten Handlungsstücken (Verbrechen) der Vorfahren.
  • Auch Psychotherapeuten, Pfarrer und ähnliche Helfer können Anteile solcher Komplizenschaft in sich tragen und zu entsprechenden Handlungen neigen, wenn sie am passenden Punkt gereizt werden. Das sind meist unbewusst verlaufende Interaktionsprozesse. Die verborgene Aggression richtet sich leichter, als man meinen sollte, immer noch gegen Verfolgte und ihre Nachkommen und außerdem gegen solche Nazi-Nachkommen, die gerade verzweifelt versuchen, aus ihrer Komplizenschaft auszubrechen.
  • Lösung aus Komplizenschaft ist möglich, mit und ohne Psychotherapie. Voraussetzung aber ist, sie überhaupt als solche zu erkennen, also das eigene Handeln oder das Unterlassen von Handeln auf seine Folgen hin zu reflektieren. Wem schade ich, wenn ich so und so handle? Wem dient das? Welche Einsichten werden durch mein (Nicht-) Handeln wirksam verhindert, insbesondere in der Öffentlichkeit?

Näheres

Müller-Hohagen, Jürgen (1993): Komplizenschaft über Generationen. In: Harald Welzer (Hg.): Nationalsozialismus und Moderne. Tübingen