Gesundheit durch Widersprechen und durch Widersetzen
Jürgen Müller-Hohagen
Vortrag beim Zweiten Wartburggespräch (Bad Nauheim, 21. – 23. 11. 93) zum Gesamtthema: Salutogenese: Gesundheitsförderung jenseits von Trauma und Neurose?
„Belässt uns diese Grundsätzlichkeit, diese Unauflösbarkeit der Konfliktnatur des Menschen nicht in einem Zustand der Ungewissheit und der unheilbaren Spaltung? Weshalb denn nicht? Sollen wir des Mutes ermangeln, diese innere Gegensätzlichkeit auszuhalten und den Widersprüchen in Erleben und Verständnis die Stirn zu bieten? Nur das Zusammengesetzte, Widersprüchliche ist wahr, lasen wir bei Lagerquist; einfach und einheitlich sind ja eigentlich bloß die Lüge und die Täuschung“ (Léon Wurmser 1989, S. 514).
Seit einer Reihe von Jahren befasse ich mich mit seelischen Folgen aus der Nazizeit. Nicht zuletzt deshalb bin ich zu diesem Gespräch eingeladen. In meinem Buch von 1988 habe ich sowohl die Opfer- wie die Täterseite betrachtet. 1994 wird ein weiteres Buch herauskommen, und in diesem geht es spezifisch um die Nachkommen der Nazis, um unsere „unsichtbaren Bindungen“ (Boszormenyi-Nagy und Spark) an die Eltern und an ihre Welt, so wie sich mir dies in meiner täglichen Arbeit an einer Erziehungs- und Familienberatungsstelle sowie in freier Praxis gezeigt hat. Dieses Buch nun beende ich mit dem Satz: „Deshalb ist eines wohl lange noch unerlässlich: lebenserhaltendes und lebensförderndes Widersprechen.“ Damit sind wir beim Thema dieses Vortrags.
Lebensförderndes Widersprechen, was meine ich damit? Wir denken an drei- oder vierjährige Kinder in ihrer Trotzphase und an Pubertierende mit ihren Gegenidentifikationen und ihrer Gegenabhängigkeit, beides wichtige Umbruchsituationen in der menschlichen Entwicklung. Aber eigentlich sind sie doch nicht mehr als Durchgangsstationen auf dem Weg zur Reife. Oder?
Ich erhebe Einspruch gegen die letztere Sicht. Sie ist die von längst Erwachsenen, von Leuten, die gar zu sehr zu wissen meinen, „wo es lang geht“ und was Reife sei, von Leuten, denen vieles, was mit einem „Gegen“ zu tun hat, lästig ist. Wir befinden uns aber weltweit in einer Phase tiefen Umbruchs, und da sind oft die vermeintlichen Gewissheiten gefährlicher als der Zweifel. Gerade mit Blick auf die heutige Weltsituation hebe ich den Wert von lebensförderndem Widersprechen hervor.
Ich mache das in diesem Vortrag auch unter dem Eindruck einer Vortragsreise nach Uruguay und Argentinien. Dorthin war ich in diesem Jahr zu zwei Tagungen über die seelischen Folgen von politischer Unterdrückung eingeladen. Es war gespenstisch, so unvorstellbar viel an Verbrechen gegen Menschen hier thematisiert zu finden. Fast 50 Jahre danach, die Nazi-Verbrechen in ihrer Beispiellosigkeit, zehn Jahre nach Verfolgung, Mord und Folter in Argentinien, nur acht Jahre davon entfernt in Uruguay, noch weniger in Chile – und der Blick zugleich auf den Fortbestand massiver Unterdrückung dort gerichtet, besonders in Form von Armut. Und da es nicht mein erster Aufenthalt dort war, bewirkten die Eindrücke dieser Reise erst recht ein Überdenken gewohnter Wahrnehmungsweisen, ließen mich auch unsere Situation in Europa und in Deutschland facettenreicher und zugleich schärfer sehen. Bezogen auf das Thema unseres Gesprächs, fokussiere ich das zu der Frage: Stellt Gesundheit in der derzeitigen Weltlage überhaupt ein bedeutenderes politisches Ziel dar?
„Von den weltweit rund 5,5 Milliarden Menschen leben etwa 1,3 Milliarden in absoluter Armut, 786 Millionen Menschen in den Ländern der ‚Dritten Welt‘ sind chronisch fehl- und unterernährt“ (Süddeutsche Zeitung, 16. 10. 93, S. 10).
Und wie sieht es in der „Ersten Welt“ aus?
„Besonders dramatisch sei die Entwicklung in den USA. Seit 1985 hat dem Bericht zufolge die Zahl der in extremer Armut lebenden Bürger um 50 Prozent zugenommen; mehr als 30 Millionen Einwohner der Vereinigten Staaten litten Hunger (…) Auch in Europa habe sich die Zahl der absolut Armen (…) bis Juli 1993 (…) auf 80 Millionen erhöht“ (ebenda).
„In den Staaten der Europäischen Gemeinschaft haben mindestens fünf Millionen Menschen kein Dach über dem Kopf (…) Im vergangenen Jahr sei vor allem die Zahl der Obdachlosen gestiegen, die jünger als 30 Jahre sind. Auch würden zunehmend Frauen und Familien mit Kindern obdachlos. Die Lebenserwartung der Obdachlosen liege rund 25 Jahre niedriger als die des Bevölkerungsdurchschnitts“ (ebenda, S. 8).
Gesundheitsförderung durch Salutogenese – ist es nicht absurd oder gar zynisch, über so etwas nachzudenken angesichts dieser Verhältnisse in der Welt, in Europa, in Deutschland? Angesichts von „Entwicklungen“ gigantischen Umfangs, die sich wesentlich durch eines kennzeichnen: durch ein „Gegen“ in bezug auf die lebenden, auf die konkreten Menschen, ihre Sorgen, ihre Gesundheit? Dies ist ein „Gegen“, das dem eingangs angesprochenen aus Trotzphase und Pubertät genau entgegengesetzt ist, es ist ein „Gegen“ der stärkeren Mächte gegenüber den Schwächeren.
Und genau gegen die Wirkungen dieses „Gegen“ richtet sich das, was ich hier als lebensförderndes Widersprechen umreiße. Ich sehe in ihm einen Teil, vielleicht eine Grundlage dessen, was Antonovsky als Salutogenese konzipiert hat. Folgende Erfahrungsbereiche sind für mich dabei besonders wichtig:
1. Das Zeugnis des Widerstands gegen die Nazis
Seit 1982 wohne ich mit meiner Familie in Dachau und bin seit 1987 im Vorstand des Vereins zur Erforschung der hiesigen Zeitgeschichte „Zum Beispiel Dachau“. Ich kenne eine Reihe ehemaliger Häftlinge und habe von ihnen viel gelernt über die Bedeutung von Widerstehen (siehe Müller-Hohagen 1993).
2. Sozialer Brennpunkt München-Hasenbergl
Hier arbeite ich seit 1986. Beim Lesen des Textes von Antonovsky habe ich an so manche meiner Klienten gedacht. Einwirkungen von außen oder von innen als strukturiert, vorhersehbar, handhabbar und das eigene Leben als sinnvoll zu empfinden, ist in sozialer Randlage schwieriger als anderswo. Es ist mir vertraut, dies, ebenso wie es Antonovsky macht, in Beziehung zu setzen zur Gesundheit. Die Arbeit an unserer Beratungsstelle besteht wesentlich darin, diesen aushöhlenden Erfahrungen etwas anderes, etwas Lebensförderndes entgegenzusetzen.
3. Langzeitwirkungen von sexuellem Missbrauch
Dies ist eine besonders krasse und folgenschwere Form von Überwältigung, von destruktivem „Gegen“. Wie können Menschen darüber hinwegkommen? Mit dieser Frage habe ich in einer Reihe von Therapien mit erwachsenen Klientinnen zu tun.
Eine von ihnen, seinerzeit missbraucht vom Vater, teilte mir im weit vorangeschrittenen Stadium ihrer Therapie am Telefon mit, sie hätte jetzt „Nein gesagt“ zu einem Mann, mit dem sie seit Jahren suchtartig eine sie verletzende und entwürdigende Sex-Beziehung unterhalten hat. „Ich will mir nicht mehr so weh tun lassen. Dieser Sex tut mir gar nicht gut, ich fühle mich danach so benutzt. Meine wirklichen Schmerzen aber habe ich auszuhalten gelernt. Ich habe es nicht mehr nötig, mich zu betäuben. Ich sage Nein.“ Und dies hätte einen Vorläufer. Bereits einmal im Leben hätte sie in ähnlicher Weise Nein gesagt, nämlich zu den Drogen. Diese hatte sie genommen infolge des Missbrauchs.
Der Zusammenhang eines solchen Nein mit der Entwicklung oder Aufrechterhaltung von Gesundheit liegt an dieser Stelle in aller Klarheit auf der Hand. Dieser Bericht meiner Klientin war der Anlass, um meinen Beitrag zum Thema der Salutogenese um eine solche Form von Nein anzuordnen. Es geht um lebensförderndes Widersprechen, nach außen, ebenso aber auch nach innen. Ich bin froh darüber, für diese Klientin in der Psychotherapie einige Voraussetzungen dafür mitentwickelt zu haben. Ich sehe aber genauso, dass sie wohl nie in Therapie gekommen wäre, hätte es in ihr nicht schon zuvor solch ein Nein gegeben. Ich halte dieses, um einen von René Spitz aufgegriffenen Ausdruck zu variieren, für einen „Organisator von Gesundheit“ (siehe Spitz 1972, S. 28 ff).
4. Nein gegen die Nazi-Vorfahren
Ähnlich wie beim sexuellen Missbrauch, manchmal sogar bis zum direkten Zusammenhang beider Bereiche, bin ich hinsichtlich des Aufwachsens unter Nazi-Eltern und -Großeltern auf die lebenserhaltende und lebensfördernde Bedeutung eines solchen Nein gestoßen. „Die Wahrheit“, so hat es eine andere Klientin ausgedrückt, ist das gewesen, was sie – tief innerlich verborgen und in der Therapie erst ganz spät nach außen hin thematisierbar – den extrem bedrohlichen Eltern hat entgegenstellen und sich dadurch überhaupt am Leben hat halten können. Dies ist kein Einzelfall.
So knapp dieser Vortrag zu fassen ist, so wäre er doch allzu unvollständig, würde ich nicht auf etwas verweisen, das eng zusammenhängt mit dem hier skizzierten Widersprechen: die fundamentale Bedeutung zwischenmenschlicher Verbundenheit. Eigentlich begegnen wir dem zwar täglich in unserer Arbeit als Mediziner oder Psychologen, und dennoch, vor den hier umrissenen Hintergründen hat sich dieser Gesichtspunkt für mich nochmals verändert und intensiviert. Und weil ich zuvor ein wenig aus der Perspektive von Südamerika auf Europa blickte, so möchte ich mit Beobachtungen von zwei Psychoanalytikern aus Uruguay schließen. Maren und Marcelo Vinar stellen in ihrer Arbeit „Exilio y tortura“ die diametral unterschiedlichen Reaktionen zweier junger Männer gegenüber, die schwer gefoltert wurden. Der eine ergab sich schließlich seinen Peinigern, nahm deren Bild in sich auf, während der andere trotz allem widerstehen konnte. Was war der Grund? Im Zustand endlos wirkender körperlicher Schmerzen und extremer sensorischer Deprivation, im Verlust von Selbstwahrnehmung und Kontrolle waren ihm in seinen Halluzinationen seine Freunde aus dem Studium erschienen: „um mit ihm das Examen im gefoltert Werden abzulegen; seine Schmerzen verschwanden“ (S. 63), und es gelang ihm im Schutz dieser Verbundenheit, „die teuflische Maschinerie des Feindes zu besiegen“ (S. 63).
Mehr noch als im Mittelalter hat Folter in unseren „modernen Zeiten“ einen festen Platz (siehe Reemtsma). Sie zielt im Interesse eines für übergeordnet erklärten Allgemeininteresses auf die Zerschlagung des Rechts auf Individualität. In Europa wähnen wir uns gar so entfernt davon. Doch in Wirklichkeit ist es nicht weit nach Südamerika, erst recht nicht zum ehemaligen Jugoslawien. Und der Nazi-Horror liegt nicht einmal ein halbes Jahrhundert zurück. Um so wichtiger ist es, diese Perspektive in das Bedenken von Gesundheitsförderung einzubeziehen. In einer immer noch reichlich von lebensfeindlichem „Gegen“ geprägten Welt zu einem lebensfördernden Nein finden zu können auf der Grundlage mitmenschlicher Verbundenheit, das gehört für mich wesentlich zum Thema von Salutogenese und zu dem, was Psychotherapie am Ende dieses Jahrhunderts bedeuten kann.
Literatur
- Antonovsky, Aaron (1988): Unraveling the Mystery of Health
- Boszormenyi-Nagy, Ivan und Geraldine Spark (1981): Unsichtbare Bindungen. Stuttgart
- Müller-Hohagen, Jürgen (1988): Verleugnet, verdrängt, verschwiegen – die seelischen Auswirkungen der Nazizeit. München
- Müller-Hohagen, Jürgen (1993): Komplizenschaft über Generationen. In: Harald Welzer (Hg.): Nationalsozialismus und Moderne. Tübingen
- Reemtsma, Jan Philipp (Hg.) (1991): Folter. Zur Analyse eines Herrschaftsmittels. Hamburg
Spitz, René (1972): Eine genetische Feldtheorie der Ichbildung. Stuttgart - Vinar, Maren und Marcelo (1993): Fracturas de memoria. Crónicas para una memoria por venir. Montevideo (auch in französischer Ausgabe)
- Wurmser, Léon (1989): Die zerbrochene Wirklichkeit. Berlin, Heidelberg