„…mit einer Unerbittlichkeit, dass einem die Augen übergehen“

Traute S.

3. 7. 2000

Sehr geehrter Herr Dr. Müller-Hohagen!

Vor kurzer Zeit geriet mir Ihr Buch „Verleugnet, verdrängt, verschweigen“ in die Hände, in dem Sie sich mit den seelischen Auswirkungen der Nazi-Zeit auseinandersetzen. Sie erwähnen dabei dankenswerterweise auch Personengruppen, die heute (nach langen 55 Jahren) außer Sicht geraten sind, wie Bombenkriegsgeschädigte, Flüchtlinge, Vertriebene, Soldaten und Heimkehrer, deren physische und psychische Versehrungen sich auf die nachfolgenden Generationen (erkannt oder nicht erkannt) bis heute auswirken. Nicht erwähnt und – mit Rücksicht auf politische Opportunitäten – bis heute mit Vorsatz und Konsequenz tabuisiert ist dabei wieder einmal die große Gruppe derjenigen östlich von Oder und Neiße Beheimateten, denen 1945 die Flucht nicht mehr oder nur unvollständig gelang und die in die Hände der Roten Armee fielen – überwiegend Frauen, Alte und Kinder. Das grausige Schicksal der weiblichen Bevölkerung als „Kriegsbeute Frau“ mit all den unsagbaren Brutalitäten gibt es ja nicht erst seit dem Bosnienkrieg – die beiliegende Statistik gibt einen kleinen Einblick in das Ausmaß der Tragödie. Und: Viele von denen, die diesen Horror überlebten, davon gezeichnet für den Rest ihres Lebens, wurden anschließend in die Sowjetunion deportiert, sozusagen als „lebende Reparationen“, um dort wieder aufzubauen, was die deutsche Wehrmacht beim Rückzug als „verbrannte Erde“ hinterlassen hatte. Es waren Hunderttausende, aus den deutschen Ostgebieten überwiegend Frauen und minderjährige Mädchen, die oft jahrelang schwerste Zwangsarbeit unter schlimmsten Bedingungen leisten mussten – ca. ein Drittel der Verschleppten hat das nicht überlebt. Freya Klier hat im beiliegenden Buch (nach ca. 50 Jahren!!) das Schicksal dieser Menschen öffentlich gemacht, für die es in unserer Bundesrepublik keine Lobby gibt, keine Zuständigkeit, keine „Schublade“, in die sie gehören (anders als die offiziellen „Kriegsheimkehrer“, die einen definierten „Status“ haben). Ich brauche Sie gewiss nicht darauf hinzuweisen, dass alle diese Überlebenden physisch und psychisch schwerstens geschädigt sind und alles dieses (auch bei redlichstem Bemühen um Normalität) an ihre Kinder weitergegeben haben.

Aus eigener Erfahrung weiß ich (ich war im Lager…), dass einen alles Unerledigte irgendwann einholt – zu Zeiten, in denen man solches längst überwunden glaubt, und mit einer Unerbittlichkeit, dass einem die Augen übergehen.

Von den Betroffenen leben nicht mehr sehr viele. Aber ich habe den Wunsch, dass die beigefügten Unterlagen (sofern sie Ihnen nicht schon bekannt sind) Sie in die Lage versetzen mögen, Menschen aus dieser genannten Gruppe noch besser helfen zu können, wenn sie bei Ihnen Hilfe suchen.

Ich weiß, dass die intensive Beschäftigung mit diesen Dingen möglicherweise eine Zumutung und eine zusätzliche Belastung für Sie sein mag; aber dieses Kapitel ist sozusagen noch ein weißer Fleck in der Zeitgeschichte, und die Fairness den Opfern gegenüber gebietet es, wenigstens davon Kenntnis zu nehmen, meine ich.

Mit freundlichen Grüßen und vielen guten Wünschen für Ihre segensreiche Arbeit mit beschädigten Menschen

Traute S.


1. 11. 2000

Sehr geehrter Herr Dr. Müller-Hohagen!

für Ihren langen und ausführlichen Brief danke ich Ihnen sehr herzlich; es tut richtig gut zu erfahren, dass da jemand aufrichtig Anteil nimmt und auch weiß, worum es sich handelt, ohne dass man ausführlich erklären muss, was sich mit Worten eigentlich gar nicht ausdrücken lässt (…)

Ihren Vortrag zum Thema „Täter / Opfer“ finde ich hochinteressant – das ist ein so heikles Kapitel und ja auch ganz zeitlos! Da ich altersmäßig den „Nazi-Tätern“ noch sehr nahe bin, habe ich auch einschlägige Erfahrungen, und wenn es sich dabei um Bekannte handelt, die man eigentlich als ganz normale Menschen kannte, kommt man sehr schnell in Schwierigkeiten. Ein häufiger Eindruck: Wenn man schon nicht als „Held“ zurückkehren kann aus einem Krieg, an dem alles falsch war (und den die meisten ja sicher auch nicht gewollt hatten), möchte man doch wenigstens „Märtyrer“ sein – das klingt besser als Verlierer und heischt obendrein noch Mitgefühl und Wiedergutmachung; eine handgestrickte Selbstaufwertung und -entschuldigung, mit der sich gut leben lässt. Die wütenden Reaktionen z.B. auf die Wehrmachtsausstellung lassen aber ahnen, was da noch untergründig alles an verdrängten Schuldgefühlen, an Unfähigkeit zur Selbstkritik, Ehrlichkeit und Sachlichkeit schlummert, auch diktiert von selbstverherrlichenden Mythen („saubere Wehrmacht“) und z.T. grotesken Ehrbegriffen (…)

Natürlich gibt es zwischen den Extremen „Held-Märtyrer“ eine Unzahl unterschiedlicher Varianten. Und ganz unabhängig vom Täter / Opfer-Status: es ist nicht zu leugnen, das die z.T. grausamen Erlebnisse an der Front und in Gefangenschaft (besonders im Osten) alle Überlebenden ohne Unterschied lebenslänglich gezeichnet haben.

Beiliegend noch einiges an Schriftlichem, nichts Neues zum Thema, sondern vielleicht so etwas wie eine persönliche „Fall-Studie“ für Ihre Akten. Sie ersehen daraus, dass (rückschauend) alles sozusagen schulbuchmäßig abgelaufen ist: zuerst totales Verdrängen, Überlebenmüssen, totale Anpassung als unerwünschtes Strandgut in der Fremde (für ins Rheinland verschlagene Ostpreußen keine Kleinigkeit – bei Null Selbstbewusstsein), braves Funktionieren nach außen – alles ein bisschen schizophren mit der strikten Einteilung in erstes, zweites, drittes Leben, die als Welten voneinander getrennt waren. Sehr viel später, als sich die Blockade langsam lockerte, dämmerte es mir dann, dass mir wohl einiges an normaler Entwicklung fehlte – das ist wohl so, wenn man, statt altersgemäß händchenhaltend im Kino zu sitzen, sich plötzlich hinter Stacheldraht wiederfindet und am Eismeer Bäume fällt. Ich las ein bisschen Freud und Jung und Fromm, sehr viel Karen Horney, auch Horst-E. Richter, gewann Einsichten, verknüpfte Ursachen und Auswirkungen – machte Bilanz und richtete mich weiter (nun klüger) mit den Tatsachen ein; alles allein, denn dies Thema war zu Zeiten des Wirtschaftswunders zu abartig (und ist es eigentlich bis vor Kurzem geblieben). Aufgeschrieben habe ich außer dem beiliegenden Kurzbericht nichts weiter damals. Aufregend wurde es dann, als die SU zerfiel, das Regime kippte, die Archive sich öffneten und (besonders zum fünfzigjährigen Kriegsende) eine Flut von Informationen zugänglich wurde.

Ich reiste erstmalig „nach Hause“ (…, heute polnisch), nach Masuren und sogar bis Petersburg – alles dies nachzulesen in den Briefen an Walter Kempowski, die ich einfach als Kopien beilege; dazu eine Kassette mit Hörsendungen vom Bayerischen Rundfunk und Westdeutschem Rundfunk Köln, an denen ich beteiligt bin; dies eigentlich gegen meinen Wunsch und nur aus Pflichtbewusstsein der Sache wegen, die nun doch um der Gerechtigkeit willen endlich an die Öffentlichkeit muss (…)

Es grüßt Sie mit vielen guten Wünschen

Traute S.