Wahrheitssuche

Jürgen Müller-Hohagen

Es gibt einige unter uns spät- oder nachgeborenen Deutschen, für die ein Beschwichtigen von Nazi-Verstrickungen unerträglich ist. Denn die Unwahrheit unterhöhlt das Vertrauen auf einigermaßen verlässliche Bezüge. Ohne solche Grundsicherheit sind wir tiefsten Ängsten preisgegeben. Dass als wahr gelten darf, was wahr ist, stellt bei weitem nicht nur eine Frage der Ethik oder der Wissenschaftstheorie dar, sondern ist von Anfang unseres Lebens an einer der entscheidendsten existenziellen Belange.

Wir verfügen auf diesem Gebiet über die erdenklich sensibelsten Antennen, sensibel allerdings auch für Verbiegungen. Dies gilt allgemein in der Welt, verstärkt aber noch für das Leben nach dem Nazi-Reich.

In den meisten von uns fristet dieser Anteil ein kümmerliches Untergrunddasein, haben wir doch von klein auf gelernt, bestimmte Fragen nicht mehr zu stellen. Das betrifft nicht nur die Suche nach dem in der Nazizeit Begangenen, sondern auch spätere Gegenwart und Zukunft: Was hättet ihr tun können? Was könntet ihr mir, dem euch ausgelieferten Kind antun, wenn ich …? Was habt ihr mir angedroht? Was könntet ihr wieder tun?

In aller Regel haben wir gelernt, solchen Fragen auszuweichen. Oft vermögen wir uns gar nicht mehr vorzustellen, dass sie noch in uns schlummern. Oder einige von uns gehen dem übermäßig nach, zwanghaft geradezu, wie besessen und damit ebenfalls in verzerrter Form. Sie stoßen häufig in einer fatalen Wiederholung um so mehr auf die altbekannten Zurückweisungen, je weniger sie den verborgenen Gehalt ihres Bohrens artikulieren können, beziehungsweise je weniger Resonanzbereitschaft dafür in der Umgebung vorhanden ist, auch bei anderen Nachkommen.

„Meine Ehre heißt Treue“, so stand es auf den Koppelschlössern der SS-Leute. Dies war, wie so vieles bei den Nazis, nicht einfach billige Propaganda, sondern es entsprang einem erstaunlichen Gespür für zentrale Bereiche unserer menschlichen Verfassung, war weitaus „modernere“ Psychologie, als viele Lehrbücher von Universitätsprofessoren aufzuweisen hatten.

Diese Treue wurde und wird eingefordert. Und das ist etwas anderes als die „allgemeinmenschliche“ Loyalität. Denn jene Treue steht im Zusammenhang mit den Menschheitsverbrechen der Nazis, und diese bilden, wie auch immer, den drohenden Hintergrund.
Das hat öfter, als man meint, zu extremen Bindungen geführt, so extrem, dass davon auch noch die Lösungsversuche bestimmt sind.
Dann wird Wahrheit gesucht und gleichzeitig alles getan, damit sie nicht sichtbar wird.

Dann folgt auf Versuche des Aufdeckens sofort der Schlag gegen sich selber.

Erst im Zuge meiner Beschäftigung mit Nazi-Verwicklungen wurde mir das Ausmaß solch negativer Loyalität voll sichtbar, konnte ich vieles an selbstdestruktivem Verhalten in diesen Zusammenhängen sehen und auch begreifen, warum vor solchen Hintergründen Veränderungen oft besonders langsam vorangehen. Die Treue aufzukündigen, macht ungeahnte Schuldgefühle, oder sie kann – vor jeder bewussten Empfindung überhaupt – zu hochgefährlichen Aktionen von Selbstschädigung führen. Die Verpflichtungen des „gebundenen Delegierten“ (Stierlin) aufzugeben, ist ein brisantes Unternehmen.

Deshalb braucht in diesen Zusammenhängen die Suche nach Wahrheit besonders viel an Unterstützung.