Ansätze aus der Montessori-Pädagogik für die schulische Inklusion von Kindern mit Teilleistungsstörung

Ingeborg Müller-Hohagen

Ein Beispiel

Ich erinnere mich an Martina, sie wollte unbedingt auf die Montessori-Schule, zurzeit war sie in der 7. Klasse einer staatlichen Hauptschule. Sie hatte in Mathematik die Note 6 und war voll von Angst vor diesem Fach, aber auch vor allem anderen, wenn es um richtig oder falsch ging. Das wirkte sich fatal besonders auf das Fach Deutsch aus, in dem sie wegen ihrer Schwierigkeiten in der Rechtschreibung seit Jahren die Note 5 erhielt.

Ihre generalisierten Leistungsängste waren das, was uns bei ihrer Vorstellung am meisten auffiel. Als wir aber die Eltern fragten, ob sie diagnostisch auf eine Dyskalkulie oder Legasthenie untersucht worden sei, reagierten diese verwundert. An so etwas hatte nie jemand gedacht.

Warum wir Martina in dieser Situation trotzdem aufnahmen, hatte einen ganz klaren Grund: Das war ihre Motivation. Sie hatte trotz aller Schwierigkeiten den großen Wunsch, nach der 9. Klasse den Qualifizierenden Hauptschulabschluss zu machen.

Unmöglich? Illusionen?

Wie sollte sie ihre seit Jahren eingeübte Vermeidungshaltung vor der Mathematik überwinden und dann noch all ihre Ängste vor den vielen Fehlern in der Rechtschreibung? Wie sollte sie ihre Wissenslücken in diesen Feldern auffüllen?

Es war ein großes Wagnis, für uns alle. Wir nahmen Martina auf.

Vom ersten Tag an genoss sie die gute ruhige Atmosphäre unserer Montessori-Schule in Wertingen, in der Freiarbeitsphase entdeckte sie das Montessori-Material zur Mathematik, das Goldene Perlenmaterial, das Schachbrett, das Wurzelbrett und das Material zu den Wortarten.

Sie vertiefte sich in die Arbeit, scheute sich auch nicht, ihre MitschülerInnen zu fragen, und geriet in einen regelrechten FLOW. Sie genoss es, dass es keinen Druck gab, sie konnte ihre Ängste in den nächsten Wochen nach und nach abbauen, sie lernte, dass Fehler keine Katastrophe sein müssen, dass sie diese in aller Ruhe und nach ihrem Tempo überwinden konnte.

Nach zwei Jahren der kontinuierlichen motivierten Arbeit wagte es Martina, sich zusammen mit den anderen für den Qualifizierenden Hauptschulabschluss anzumelden. Die Prüfung fand in einer staatlichen Schule statt, das heißt unter ungewohnten Bedingungen und an einem fremden Ort.

Zur großen Freude aller haben damals sämtliche Schülerinnen und Schüler der Klasse diese schwierige Prüfung bestanden, auch Martina.

War das ein Wunder? Etwas Singuläres?

Nein.

Vielmehr ließ sich hier etwas sehen, dem ich wieder und wieder begegnet bin: Motivation kann Berge versetzen.

Der Hauptberg von Martina, das war ihre über die Jahre hinweg entstandene generalisierte Leistungsangst.

Demgegenüber war es eher ein kleinerer Berg, was sich bei der nachträglichen Diagnostik als eine mittelgradige Dyskalkulie herausstellte.

Gerade mit Hilfe des Montessori-Materials ließen sich deren Wirkungen deutlich abmildern, auch wenn die Störung nicht völlig verschwand. In Mathematik kam Martina nicht über eine 4 hinaus, doch mit ihrem inzwischen wieder gewonnenen Lebensmut, mit ihrem Lerneifer und dem großen Wissen, das sie sich in allen Fächern angeeignet hatte, konnte sie in der Prüfung diesen Schwachpunkt wunderbar ausgleichen.

Hintergründe

Schon im Jahr 1896 beschäftigte sich Maria Montessori mit der Problematik der behinderten Kinder. Erst in der Casa dei bambini hier in Rom, die sie 1907 gründete, hat sie sich nicht behinderten Kindern zugewandt.

Im Jahr 1970 gründete der Mediziner Professor Theodor Hellbrügge in München ein Montessori- Kinderhaus und im Jahr 1972 eine Montessori-Schule, weil er mit dieser pädagogischen Konzeption seine Idee einer inklusiven Pädagogik verwirklichen wollte. Diese Schule besteht auch heute noch, und zwar von Anfang an als eine Schule mit Inklusion, das heißt: In jeder Klasse befinden sich Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung.

Heute gibt es in Bayern mehr als 90 Kinderhäuser und mehr als 90 Schulen, die nach dem Konzept der Maria Montessori arbeiten, alle auch inklusiv und mit Altersmischung. Und viele von ihnen engagieren sich im Sinne von Montessoris Erdkinderplan, der gerade für Kinder und Jugendliche mit Teilleistungsstörungen ein hervorragendes Konzept darstellt. Fast alle Einrichtungen wurden von Eltern gegründet, sind vom Staat genehmigt, finanziell aber nicht so gut unterstützt wie staatliche Schulen. Eltern beteiligen sich in angemessenem Rahmen an der Finanzierung und bringen auch ihre Fähigkeiten bei der Gestaltung des Schulalltags ein.

Ich kam 1978 aus Düsseldorf von einer staatlichen Schule und hatte jetzt in der Montessori-Schule München SchülerInnen mit Teilleistungsstörungen, mit Körperbehinderungen, mit Verhaltensauffälligkeiten und solche ohne Behinderung und auch hochbegabte in einer Klasse. Der Unterricht war und ist individualisiert und personalisiert. Hier begann meine bis heute andauernde Lehre in Montessori-Pädagogik.

Im Jahr 1983 legten meine Schüler, die ich fünf Jahre als Klassenleitung begleitet hatte, als erste Montessori-Schüler in Bayern den Qualifizierenden Hauptschulabschluss ab.

Danach übernahm ich ab 1994 für neun Jahre die Leitung der Montessori-Schule Wertingen und baute dort mit KollegInnen die Sekundarstufe 1 (bis zur 9. Stufe) auf. Heute hat diese Schule auch die Sekundarstufe 2 (bis zur 12. und für besonders motivierte SchülerInnen sogar bis zur 13. Stufe), so dass dort die staatliche Prüfung Fachabitur bzw. Abitur abgelegt werden kann.

14 Jahre lang war ich Mitglied im Vorstand des Montessori Landesverbands Bayern, und seit neun Jahren unterrichte ich als Lehrbeauftragte Montessori-Pädagogik an drei Universitäten. Außerdem gebe ich seit Langem Diplomkurse in Montessori-Pädagogik und coache Teams von Montessori-Schulen.

Das alles ist Grundlage für meine folgenden Darlegungen.

Voraussetzungen für die Arbeit mit Kindern mit und ohne Teilleistungsstörungen gemeinsam in einer Klasse

Das Kind als Baumeister des Menschen

„Das Kind ist nicht ein leeres Gefäß, das wir mit unserem Wissen angefüllt haben und das uns alles verdankt. Nein, das Kind ist der Baumeister des Menschen, und es gibt niemanden, der nicht von dem Kind, das er selbst einmal war, gebildet wurde.“2 Diese Aussage Montessoris war damals zu ihrer Zeit DIE Sensation in der Pädagogik – und ist es bis heute.

Inzwischen bestätigt das auch die Hirnforschung, sie spricht von Potentialen, mit denen das Kind geboren wird – so wie Professor Gerald Hüther aus Göttingen, Professor Manfred Spitzer aus Ulm und Professor André Zimpel aus Hamburg. Doch das Bild vom Baumeister ist noch viel anschaulicher – und zugleich von herausragender Radikalität.

Sehr wichtig: Auch Kinder und Jugendliche mit Teilleistungsstörungen sind Baumeister des Menschen, zu dem sie werden, und sie sollen und wollen auch so behandelt werden – auf Augenhöhe.

Die Beobachtung – die große Kunst des Loslassens

1993 trafen mein Mann und ich in Buenos Aires bei einem Seminar über Montessori-Pädagogik, das ich dort in der Fundación Holismo von Professor Carlos Wernicke gab, auf eine über 90 Jahre alte Dame, Frances Wolff, eine gebürtige Engländerin, die 1921 in London bei Maria Montessori den Ausbildungskurs absolviert hatte. Sie berichtete uns, wie wichtig Montessori das Einüben des Beobachtens für die Pädagogen war.

„Stellen Sie sich vor, am Anfang des Kurses war es unsere Aufgabe, Kinder während der Freiarbeitsphase in der Casa dei bambini in London zu beobachten – drei Stunden lang im Stehen.“

Als eine Teilnehmerin meinte, dass sie das nicht aushalten könnte, schickte Montessori sie nach Hause mit den Worten: „Zuerst müssen Sie das Beobachten lernen, erst dann können Sie Montessori-Pädagogin werden!“

In meiner Arbeit habe ich gemerkt, es gibt viele Fallen beim Beobachten: vorgefasste Konzepte und Meinungen, unklare Gefühle, Ängste, Vorurteile oder vorschnelle Bewertungen.

Da Montessori das Kind als Baumeister sieht, fordert sie von den Erwachsenen das empathische Beobachten – das distanzierte, aber einfühlsame Beobachten, das Kinder und Jugendliche so sein lässt, wie sie sind. Das wertende, urteilende, aburteilende Beobachten lehnt sie ab.

Um Kindern und Jugendlichen in ihrem Lernprozess helfend zur Seite stehen können, müssen diese regelmäßig beobachtet und diese Beobachtungen schriftlich dokumentiert werden.

So haben wir uns an meiner Montessori-Schule Wertingen vorgenommen, jede Woche mindestens ein Kind / einen Jugendlichen 30 Minuten lang zu beobachten, dabei detailliert aufzuschreiben, was er / sie gerade tut, ohne Beurteilung oder Wertung.

Anschließend haben wir das Kind / den Jugendlichen gefragt, ob er / sie etwas gemerkt hat.

Auf die Frage: „Willst du wissen, was ich über dich geschrieben habe“, hat mir noch nie ein Kind / ein Jugendlicher nein gesagt. Sie haben es als Zuwendung erlebt.

Nach dem Verlesen meiner Aufzeichnungen hat sich individuell ein Reflexionsgespräch mit jedem Kind oder Jugendlichen angeschlossen.

„Bist du überrascht? – Willst du etwas verändern? – Brauchst du Hilfe?“

Die freie Wahl der Arbeit

Aus dem Konzept des „Baumeisters“ hat sich logisch die hohe Bedeutung der sogenannten Freiarbeit ergeben, die Montessori für alle Kinder und Jugendliche fordert, mit oder ohne Teilleistungsstörungen.

Kinder wollen arbeiten, ihre Arbeit ist es, sich und ihre Welt aufzubauen. Damit sie das nach ihren inneren Potentialen und entsprechend ihrer jeweiligen Entwicklungsphase tun können, benötigen sie möglichst viel Freiheit bei der Auswahl ihrer Arbeit.

Diese Forderung Maria Montessoris wird heute von der aktuellen Hirnforschung bestätigt.

Gerald Hüther, Professor an der Universität Göttingen, Hirnforscher, ist der Meinung:

Nur wenn ein Kind / ein Jugendlicher sich selbst für eine Arbeit entscheidet, findet nachhaltiges Lernen statt. Die innere Motivation und die eigene Aktivität, das Erforschen und Ausprobieren seien die Voraussetzung für erfolgreiches, nachhaltiges Lernen. Alle befohlenen Aufträge und Aufgaben werden zwar gemacht, die Lerninhalte aber schnell vergessen.

Die Freiarbeit ist das Herzstück der Montessori-Praxis, das gilt auch für eine inklusive Gruppe.

Sie bedeutet:

  • eigene Wahl der Arbeitsmittel und Materialien
  • individueller Lern- und Arbeitsrhythmus
  • individuelles Lerntempo
  • individuelles Lernziel
  • frei gewählte Sozialform (Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit)
  • Dokumentation der geleisteten Arbeit (Tagebuch, Karteikarten, Studienbuch) – und zwar von SchülerInnen und von PädagogInnen, um den Überblick über den Lernfortschritt zu behalten.

Ziel der Freiarbeit ist selbständiges, selbstorganisiertes Lernen und Arbeiten – sowohl für Kinder/Jugendliche mit und ohne Teilleistungsstörungen.

Die Vorbereitete Umgebung

Freie Wahl der Arbeit ohne eine Vorbereitete Umgebung ist unmöglich. Ein leerer Raum, nur mit Stühlen und Tischen eingerichtet, was soll ein Kind / ein Jugendlicher da arbeiten, woraus soll er / sie auswählen?

Es ist eine Kunst, eine „Vorbereitete Umgebung“ nach Montessori für eine inklusive Gruppe zu schaffen und diese kontinuierlich auf die Lernbedürfnisse der einzelnen Kinder und Jugendlichen abzustimmen. Dazu gehören die Strukturierung des Klassenraumes in Bereiche der Arbeit und des Gesprächs, in den Regalen die übersichtliche Anordnung von verschiedenartigen Arbeitsmaterialien, die Auswahl von Büchern, die Anordnung von Montessori-Material als didaktische Reihe, so dass der Motivation der Kinder und Jugendlichen entsprochen wird.

Im Buch „Grundlagen meiner Pädagogik“ sagt Montessori: „Wir bereiten eine Umgebung vor, die reich an interessanten Aktivitätsmomenten ist. Wir eröffnen einen Arbeitsweg, der höhere Dinge aufweist als die, von denen man bis jetzt annahm, sie seien für dieses Alter genügend. Das Kind weiß nicht, wie es sich diese Umgebung schaffen soll. Nur der Erwachsene kann es tun, und das ist die einzige tatsächliche Hilfe, die man dem Kind geben kann.“3

Die innere Haltung der Erwachsenen

„Immer muss die Haltung des Lehrers die der Liebe bleiben. Dem Kind gehört der erste Platz, und der Lehrer folgt ihm und unterstützt es. Er muss auf seine eigene Aktivität zugunsten des Kindes verzichten. Er muss passiv werden, damit das Kind aktiv werden kann.“4

Das ist ein hoher Anspruch für Pädagogen, die in Deutschland weitgehend so ausgebildet werden, die Aufgaben für die Kinder vorzugeben und diese dann zu kontrollieren und bewerten.

„Kontrolletti“- ein ironischer Begriff für dieses Konzept.

Als ich 1978 als Lehrerin einer inklusiven Klasse in der Münchner Montessori-Schule begann, musste ich solch ein Konzept ablegen. Es war ein „Umstieg“, was mir aber nur am Anfang schwerfiel. Ich durfte jetzt Beobachterin, Begleiterin und Helferin für meine Schüler sein. Wichtig war dabei, alle Kinder / Jugendlichen in gleicher Intensität zu begleiten, ob sie Behinderungen hatten oder nicht. Selbstreflexion, Austausch mit KollegInnen und Supervision waren bedeutsame Hilfen dabei.

Wichtig war es mir immer, regelmäßig mit Kindern/ Jugendlichen einzeln und ganz persönlich zu sprechen – dafür hatte ich in meiner Klasse eine blaue Coach. „Können wir mal auf die blaue Couch gehen?“ Das hieß: „ Können wir zusammen sprechen?“

In diesen Gesprächen vertiefen sich Beziehungen – gute Voraussetzungen für einen positiven Lernprozess.

Selbstverständlich war es meine Aufgabe, mich über die Behinderungen meiner Schülerinnen und Schüler zu informieren und, wenn nötig, weitere Diagnostik und Therapien für sie zu organisieren.

Das erforderte eine gute Zusammenarbeit mit den Eltern, den spezialisierten Fachleuten und den TherapeutInnen.

In Bezug auf das Thema dieses Vortrags: Auch Kinder / Jugendliche mit Teilleistungsstörungen können selbständig werden und ihr Lernen selbst organisieren, wenn die Erwachsenen das zulassen.

Faszination Montessori-Material

„Das Montessori-Material entspricht in seiner Klarheit, Strukturiertheit und Sachlogik den sensitiven Entwicklungsphasen des Kindes. Diese günstigen Lernzeiten für bestimmte Tätigkeiten, Fähigkeiten, Haltungen und Einstellungen können mit Hilfe des Entwicklungsmaterials optimal genutzt werden.“5

Maria Montessori hatte beobachtet, dass Kinder leichter und tiefer lernen, wenn ihre Sinne angesprochen sind. Deshalb entwickelte sie aus den Entwürfen der französischen Ärzte und Pädagogen Itard und Seguin Sinnesmaterial, Material für die Mathematik, Sprache und Kosmische Erziehung.

Material ist „materialisierte Abstraktion“. Es geht dabei um weit mehr als um das Hantieren mit interessanten Gegenständen. Es geht darum, dass Kinder mit Material abstrakte Inhalte durch Forschen erkennen und selbständig Lösungen finden. Für Montessori ist das Material der „Schlüssel zur Welt“. Die Hirnforscher in Deutschland betonen die Wichtigkeit dieses Forschens für den Lernprozess. Schule sollte ihrer Überzeugung nach Kindern und Jugendlichen dafür Möglichkeiten anbieten.

Der italienische Mathematiker und Präsident der Opera Nazionale Montessori Benedetto Scoppola beschreibt in der Montessori-Zeitschrift „Das Kind“, dass der wahrnehmende Bereich im Gehirn ganz nah an dem Bereich liegt, der für die Bewegung der Hände zuständig ist, so dass ein Hantieren mit Material integrierenden Einfluss auf die Tätigkeit des Gehirns hat.6

Diesen Zusammenhang hat Montessori durch Beobachtungen der Kinder in der Casa dei bambini schon damals herausgefunden.

Gerade auch bei Kindern und Jugendlichen mit Teilleistungsstörungen habe ich beobachten können, dass die Arbeit mit Material für sie eine wunderbare Möglichkeit ist, ohne Angst und Furcht vor Druck abstrakte Inhalte für sich zu erschließen.

Ich kann all die Möglichkeiten gar nicht aufzählen, die sich durch Materialien für eine wirksame Unterstützung dieser Kinder eröffnen, sei es mit Blick auf die Primärstörungen oder hinsichtlich der vielfältigen Sekundärprobleme, wie ich es am Beispiel von Martina zu zeigen versucht habe.

Wir haben es uns im Montessori Landesverband Bayern zur Aufgabe gemacht, das Montessori-Material weiterzuentwickeln, wie es schon Maria Montessori gewünscht hatte. So haben wir zum Beispiel von den Teilnehmenden an unseren Diplom-Kursen Beiträge dazu erbeten – mit wunderbaren Ergebnissen.

Dabei sind hochinteressante Materialien entstanden, so dass professionelle Anbieter wie z.B. Nienhuis einige davon in ihr Sortiment aufgenommen haben.

Maria Montessori ist nicht mehr, aber ihr Geist lebt weiter – wenn wir es wollen.

Umgang mit Fehlern

„Fehler“ – unendlich viele und unendlich schreckliche Dramen ranken sich um diesen Begriff, der in der herkömmlichen Pädagogik einen zentralen Stellenwert einnimmt. „Du hast Fehler gemacht.“ Oft entwickelt sich daraus in den Kindern: „Ich bin falsch“, im Extrem sogar: „falsch als ganzer Mensch.“ Ich muss hier wohl nicht betonen, um wie viel massiver sich diese Fehleinschätzung bei Kindern mit Teilleistungsstörungen entwickeln kann und wie dies oft zusätzlich zu der eigentlichen, der primären Störung zu sekundären Beeinträchtigungen führt, die am Ende noch gravierender sein können als die eigentliche Störung, also insbesondere eine Dyskalkulie oder Lese-Rechtschreib-Schwäche.

Clara mit einer Schwäche in der Mathematik legt die Ziffern-Karten auf den Hunderterteppich. Sie arbeitet zum ersten Mal mit diesem Material. Sie ist sehr konzentriert. Schließlich aber bemerkt sie, dass sie einen Fehler gemacht, nämlich die 80er Reihe ausgelassen hat. Sie, die sonst leicht in Panik gerät, wenn sie etwas falsch gemacht hat, korrigiert hier ihren Fehler in Ruhe und freut sich offensichtlich, dass sie ihn selbst entdeckt hat.

Der Umgang mit Fehlern bei Montessori, sie spricht vom Fehler als ihrem Freund, ist gerade auch für Kinder mit Leistungsstörungen sehr hilfreich. Das Montessori-Material enthält auch die Lösungen, so dass die Kinder und Jugendlichen nicht auf die Korrektur der Erwachsenen angewiesen sind. Das erspart ihnen das Gefühl, ein Versager zu sein, nichts zu können. Es eröffnet ihnen die Möglichkeit, nach verschiedenen Versuchen selbst die Lösung zu finden, was sie stolz und glücklich macht.

Stille in einer lauten Zeit

„Diese Stille war eine Offenbarung. Ich hätte doch nie gedacht, dass Kinder diese geheimnisvolle einfache Sache, welche die Stille ist, derart lieben würden.“ Das sagt Maria Montessori im Buch „Spannungsfeld Kind-Gesellschaft-Welt“.7

Doch vielen Kindern und Jugendlichen fällt es zunehmend schwerer, sich zu vertiefen, sich zu spüren, sich auf eine Sache zu konzentrieren – mit oder ohne Teilleistungsstörung.

Ich habe jeden Morgen in meiner jeweiligen Klasse den Unterricht begonnen mit einer Stille- Übung, ein Ritual, das die SchülerInnen nach anfänglichem Staunen begeisterte. Je nach Altersstufe können diese Übungen freie oder gelenkte Phantasiereisen sein, sie können im Hören meditativer Musik bestehen, oder es sind Körperübungen aus dem Schauspielerbereich, dem Tai-Chi, dem Yoga oder dem Qigong.

Wenn Kinder diese Stille-Übungen erst einmal kennengelernt haben, wollen sie nicht mehr darauf verzichten. Auch Kinder mit Teilleistungsstörung haben mir gesagt: „Danach fühle ich mich gut – da kann ich mich besser konzentrieren!“

Kooperation Eltern-Schüler-Lehrer-Therapeuten

Hilfe für Kinder mit Teilleistungsstörungen setzt in aller Regel eine gute Zusammenarbeit voraus zwischen Lehrkräften, Kindern, Eltern, Fachleuten für Diagnostik und TherapeutInnen.

In vielen Montessori-Schulen in Bayern gehören TherapeutInnen, die eine spezielle Montessori-Ausbildung haben, zum Team. Darüber hinaus kann die Zusammenarbeit mit einer Reihe von Spezialisten außerhalb der Schule unerlässlich sein, insbesondere mit ErgotherapeutInnen und Kinder- und Jugendlichen-PsychotherapeutInnen.

Nach meiner Erfahrung ist eine von speziellen Fachleuten erstellte Diagnostik immer dann unerlässlich, wenn Störungen verschiedener Art oder Entwicklungsrückstände zu sehen sind. Manchmal wollten Eltern dazu keine Einwilligung geben, dann haben wir ihnen klargemacht, dass wir ihr Kind nur sinnvoll fördern können, wenn eine sachkundige Diagnose vorliegt. Das war eine Bedingung für die Aufnahme bzw. den Verbleib an der Montessori-Schule.

Immer wieder in meiner täglichen Arbeit wurde mir klar, dass nur eine offene Zusammenarbeit zwischen allen diesen Menschen erfolgreiches Lernen und eine positive Persönlichkeitsentwicklung ermöglicht – und das erst recht bei Kindern und Jugendlichen mit Teilleistungsstörungen. Unter „offen“ verstehe ich, dass die Partner fair miteinander umgehen, viel miteinander sprechen, sich gegenseitig nicht ausspielen oder ausspielen lassen, die Kompetenzen des jeweils anderen achten.

Nur so kann wirkliches Vertrauen entstehen. Oft haben mir Eltern nach einiger Zeit gesagt, dass auch unter diesen Gesichtspunkten die Montessori-Schule für sie und die ganze Familie zu einem riesigen Gewinn geworden ist.

Quellen

1Deutsche Fassung des Vortrags „La proposta educativa montessoriana per l`inclusione scolastica di bambini con DSA“, gehalten auf der Tagung „Maria Montessori. Giustizia e bisogni speciali“, Università LUMSA, Rom, 9. März 2017

2Montessori, Maria: Das kreative Kind. Der absorbierende Geist. Herausgegeben und eingeleitet von Paul Oswald und Günter Schulz-Benesch, Freiburg, Herder, 17. Aufl. 2007, Seite 13

3Montessori, Maria: Grundlagen meiner Pädagogik. Und weitere Aufsätze zur Anthropologie und Didaktik. Wiebelsheim, Quelle & Meyer, 9. Aufl. 2005, S. 20

4Ebda., S. 21

5 Montessori Vereinigung: Montessori Material, Teil 1. Zelhem/Niederlande, Nienhuis Montessori, 1978, S. 6f

6 Scoppola, Benedetto: Montessori-Mathematik. Eine neurowissenschaftliche Perspektive. In: Das Kind 47/48, Deutsche Montessori Gesellschaft,Wiesbaden, Dinges & Frick, 2010, S. 32-47

7Montessori, Maria: Spannungsfeld Kind-Gesellschaft-Welt. Auf dem Wege zu einer “Kosmischen Erziehung”, aus nachgelassenen Texten, herausgegeben von Günter Schulz-Benesch, Freiburg, Herder, S. 71