Eine jüdische Familie in Nazi-Deutschland


Benyamin Maoz

Unsere Familie wohnte in Kassel und gehörte zur wohlhabenden Schicht. Mein Vater, Hans Mosbacher, war 1882 dort geboren und besaß zusammen mit seinem Bruder eine Wollwäscherei. Er hatte eigentlich studieren und Journalist werden wollen, aber mein Großvater, der die Wollwäscherei gegründet hatte, bestand darauf, dass er in das Geschäft eintrat und es später übernahm.

Dieser Großvater, Bernhard Mosbacher, war in Marktbreit in der Nähe von Würzburg geboren und kam aus einer orthodox-jüdischen Weinhändlerfamilie, die seit Generationen in Mainfranken gelebt hatte.

Die Mutter meines Vaters (meine Großmutter Clara) stammte aus Kassel. Ihre Familie war im 17. oder 18. Jahrhundert aus Beverungen in Westfalen nach Kassel gekommen.

Meine Mutter war 1900 in Eschwege geboren. Ihre Mutter stammte aus Magdeburg und deren Mutter (meine Urgrossmutter) aus Witzenhausen in Hessen. Mein Großvater mütterlicherseits, Moritz Rosenberg, kam aus einem kleinen Dorf in Hessen, Niedermeisen. Sein Vater, also mein Urgroßvater, starb sehr jung, und deswegen kehrte meine Urgroßmutter Rosenberg mit ihren Kindern nach Eschwege zurück, wo ihre Familie wohnte.

Es ist mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass unsere Familie, wie viele Juden, Jahrhunderte in Deutschland gelebt hat. Juden hatten bis 1848 keine Bürgerrechte und durften nur in ganz bestimmten Bereichen arbeiten oder Handel treiben. Nach 1848 wurden sie ?Deutsche Bürger Mosaischen Glaubens?.

Man sollte diese Perspektive vor Augen haben, wenn man die Vertreibung und Vernichtung der Juden in Deutschland beschreiben will.

Meine Mutter war die Jüngste von zwei Schwestern (Lise und Änne). Sie war schon als Kind schwach und anfällig und wurde darum als heranwachsendes Mädchen von dreizehn Jahren zur weiteren Schulausbildung in ein Landerziehungsheim in Breitbrunn am Ammersee in Bayern geschickt. Das bezahlte ein reicher Verwandter. Sie machte später eine Ausbildung zur Röntgenassistentin in Berlin und arbeitete in diesem Fach in Kassel. Nach ihrer Heirat im Jahre 1928 war sie Hausfrau und nicht weiter beruflich tätig. Ihr Vater, Großvater Moritz Rosenberg, war in Eschwege Direktor einer Spinnerei und Weberei, die der Familie gehörte.

Beide Familien, sowohl die meines Vaters als auch die meiner Mutter, waren sehr assimilierte Juden, die selten in die Synagoge gingen und sich nicht an die religiösen Gesetze und Gebräuche des Judentums hielten. Im Hause meiner Urgroßeltern väterlicherseits wurde wohl Weihnachten am Heiligabend groß gefeiert mit Weihnachtsbaum, sozusagen für den getauften Teil der Familie und für das (nicht-jüdische) Hauspersonal. Trotzdem waren die meisten Verwandten ?stolze Juden?, die sich überwiegend gerade noch nicht taufen ließen. Sie fühlten sich als Deutsche und liebten die deutsche Kultur und Literatur. Es waren intellektuelle Menschen, die viel in Konzerte, Opern und ins Theater gingen und viele Bücher lasen. Sie gehörten zu einem regelmäßigen ?Leseabend?, der jüdische und nicht-jüdische Mitglieder hatte.

Ihre sozialen Kontakte waren meistens jüdisch. Familienfeste wurden groß gefeiert, mit sehr humorvollen Gedichten und Aufführungen.

Die Urgroßeltern der väterlichen Seite und ein Großonkel waren Eigentümer der Zeitung ?Das Kassler Tageblatt?.

Meine Mutter hatte wohl während ihrer Ausbildung in Berlin Verbindungen mit der Zionistischen Studentenorganisation ?Blau Weiß?, aber mein Vater hatte bis 1934, wie die große Mehrheit der deutschen Juden, nichts mit dem Zionismus zu tun.

Der bekannteste Intellektuelle aus diesem Kreis war der Philosoph Franz Rosenzweig, der für eine Renaissance des Judentums eintrat, aber auch kein Zionist war.

Mein Vater war eigentlich ein ?Europäer?, weil er als junger Mann einige Jahre in Frankreich und England eine Lehre absolvierte. Er sprach perfekt Englisch und Französisch und war darum im Ersten Weltkrieg Dolmetscher in einem Kriegsgefangenenlager in der Nähe von Kassel.

Seine erste Frau war eine jüdische, aber sehr assimilierte Engländerin, die er 1907 mit nach Kassel brachte und von der er sich 1927 scheiden ließ. Er heiratete meine Mutter im Jahre 1928. In der ersten Ehe wurden zwei Kinder geboren, mein Bruder Ernst (später Eliyahu) und meine Schwester Martha (später Miriam). Ich bin das einzige Kind aus der zweiten Ehe und wurde 1929 geboren.

Mein Vater hatte zwei Geschwister, eine ältere Schwester Lotte, über die ich noch mehr erzählen werde, weil sie uns mit Dachau verbindet, und einen Bruder Fritz..

Tante Lotte war nur oberflächlich gebildet. Abitur hatte sie nicht, und sie heiratete jung. Ihre erste Ehe war mit Ludwig Hallo, auch ein Jude aus Kassel, und sie lebten einige Jahre in Dresden. Dort wurde ihre älteste Tochter Gertrud geboren, die später Franz Wallach heiratete und Nachkommen in Israel hat. Ludwig Hallo ließ sich von Lotte scheiden, sie ging zurück nach Kassel und heiratete dort nach einiger Zeit einen Nicht-Juden namens Walter Breiding. Sie hat sich ihre ?jüdische? krumme Nase plastisch operieren lassen, um nicht so ?jüdisch? auszusehen. Sie hat sich höchstwahrscheinlich auch protestantisch taufen lassen, nur aus gesellschaftlichen Gründen. (Wie wir bald sehen werden, hat das alles nichts genützt…)

Aus dieser zweiten Ehe von Tante Lotte wurden drei Kinder geboren: Werner (1915?), Hans-Helmut (Hansi) (1917?) und Renate (1919?). Sie wuchsen natürlich als deutsche Nicht-Juden auf, wurden protestantisch getauft, hatten aber wohl eine starke Beziehung mit der jüdischen Familie. Walter Breiding hat sich Ende der Zwanziger oder Anfang der Dreißiger Jahre von Tante Lotte scheiden lassen. Die Kinder blieben bei der Mutter.

Werner war ein netter Kerl, der das Gymnasium (oder die Oberrealschule) mit Erfolg beendete und in der deutschen nicht-jüdischen Gesellschaft seines Alters integriert war. Er war ein ernsthafter Mensch und, wie mein Vater immer sagte, ?ein anständiger Kerl? und hat sich naturgemäß mit seinen Freunden und Kameraden identifiziert, die damals beinah alle begeisterte Nazis waren. Er wurde später Offizier in der Wehrmacht. Über sein Ende werde ich noch berichten.

Hansi war ein schwacher Charakter und sah auch ?weich? aus. Man kann annehmen, dass er große Identitätsschwierigkeiten hatte und nicht wusste, wohin er gehörte und wer er war. Er machte besonders im Alter von etwa achtzehn Jahren viele Schwierigkeiten und hat zum Beispiel nachts das Auto von Onkel Fritz aus der Fabrik gestohlen.

1937 nahmen wir Abschied von Hansi, der nach Süd-Afrika emigrieren wollte. Wie wir später hörten, hat er dort für beiden Seiten spioniert, sowohl für die Engländer als auch für die Deutschen. Die Deutschen haben das Doppelspiel entdeckt und haben ihn durch einen geheimen Code nach Deutschland zurückgerufen. Er war so dumm, darauf einzugehen, und ist nach Deutschland zurück gegangen. Dort wurde er festgenommen und schließlich in das Konzentrationslager Dachau gesteckt. Ich weiß nur, dass er den Krieg überlebt hat und als Kranker (Tbc) aus dem Lager gekommen ist. Seine Mutter Lotte hat ihn unmittelbar nach dem Krieg (1945) besucht. Soweit ich mich erinnere, fuhr sie damals für einige Wochen nach Dachau und traf den Hansi dort. Er heiratete und bekam zwei Söhne. Ungefähr 1951 ist er gestorben. Wir haben den Kontakt mit seiner Frau und den Söhnen verloren. Ich habe wohl noch einige Photos von ihm.

(Vor kurzem haben wir einen Brief von ihm, den er aus dem Lager in Dachau an seine Mutter geschrieben hatte, gefunden.)

Dieses ist also unsere direkte Verbindung mit dem KZ Dachau.

Hansis Schwester Renate war in den Dreißiger Jahren ein ausgesprochen ?alberner Backfisch?. Nach 1938 hat sie die Beziehung mit ihrer Mutter abgebrochen. Tante Lotte erzählte uns später, dass sie ihre Tochter Renate manchmal in der Elektrischen in Kassel traf und ihr zunickte. Renate erwiderte ihren ?Gruß? nicht und beklagte sich mit den Worten: ?Was will denn diese Jüdin von mir??

Wir wissen nicht, was sie während des Krieges gemacht hat. Sie heiratete (wann???) einen Herrn Römer.

Renate wurde nach dem Krieg drogenabhängig, wahrscheinlich Morphinistin. Sie lebte in Frankfurt. Wir haben in den ersten Jahren nach dem Krieg versucht, mit ihr zu telephonieren, aber auch mit ihr haben wir den Kontakt verloren

Nach Hitlers ?Machtergreifung? lebte der größte Teil unserer Familie normal weiter in Kassel.

Es gab aber Ausnahmen: Schon 1933 wurde ein Verwandter aus der mütterlichen Familie, der Rechtsanwalt und Musikkritiker Max Plaut, von den Nazis in seinem Haus totgeschlagen. Er war ihnen wohl auf dem Gericht und in seinen Kritiken zu scharf aufgetreten. Seine Frau war Schweizerin und konnte dadurch mit ihren drei Kindern in die Schweiz (nach Genf) flüchten, wo die Kinder noch bis heute leben. Wir sind in guter und ständiger Verbindung mit ihnen.

Dieser Schreck beunruhigte manche anderen Juden in der Stadt (vor allem diejenigen, die mit den Kommunisten verbunden waren). Ein Teil wurde gewarnt, und so flüchtete mein Bruder Ernst (Eliyahu) mit seiner jungen Frau und ging nach Palästina. Auch eine Schwester meiner Mutter, Liese Plaut, flüchtete mit ihrem Mann Ernst nach Palästina.

Der beste Freund meines Bruders, Paul Oppenheim, wurde als Kommunist festgenommen. Seine Mutter hat ihn mit einer großen Summe Geld rausbekommen, unter der Bedingung, dass er gleich auswandern würde. Er ging mit seiner Familie nach Süd-Afrika.

Ich selbst durfte ? es war die Zeit nach der Machtergreifung und nach dem Tod von Hindenburg ? nicht mehr in einen allgemeinen Kindergarten gehen, und es musste ein jüdischer Kindergarten gegründet werden, in den ich später kam. Ich verstand das alles nicht und lebte noch in einer kindlichen Phantasiewelt. Meine Mutter organisierte in unserem Haus und vor allem in unserem schönen Garten einen „Haus-Kindergarten“. Später haben sich verschiedene Familien zusammen getan und es wurde ein jüdischer Kindergarten in den Räumen der Bnei-Brit-Loge eingerichtet. (Die Bnei-Brit-Loge war eine internationale jüdische Loge, die gegründet wurde, weil schon im 19. Jahrhundert die Freimauer-Loge kaum Juden aufnehmen wollte. Mein Großvater Bernhard Mosbacher war zwar Freimaurer, ist aber ausgetreten, weil man einen weiteren Juden, der sich beworben hatte, nicht annehmen wollte.)

Mein Vater fuhr 1934 nach Palästina, um meinen Bruder zu besuchen. Er kam sehr begeistert zurück und hatte innerlich beschlossen, dorthin überzusiedeln, aber man dachte noch nicht an eine Auswanderung.  Man hatte immer noch die Hoffnung und die Illusion, dass alles vorbeigehen würde. Jede Radiorede Hitlers erschütterte diese Illusion und konfrontierte meine Eltern mit der immer gefährlicheren Wirklichkeit. Ich sehe sie noch mit ganz ängstlichen Augen am Radio sitzen. 1935 gingen meine Großeltern mütterlicherseits auch nach Palästina, um bei Tante Liese und Onkel Ernst zu leben. Für meinen Großvater Moritz Rosenberg war der enorme Wechsel von Eschwege nach Rechovot in Palästina besonders schwierig und sehr traumatisch.

1936 fuhren meine Mutter und ich ebenfalls nach Palästina und besuchten die Großeltern, Tante Liese und Eliyahu. Wir machten eine wunderschöne Reise und im Anschluss daran herrliche Ferien in Norditalien am Comer See, zusammen mit meinem Vater. Alles, als ob in Deutschland nichts geschehen wäre… Wir gingen also nach Deutschland zurück und dachten immer noch, dass wir dort weiter leben könnten.

Ich musste gezwungenermaßen in die jüdische Volksschule gehen. Das war schwierig, weil ich auf dem langen Weg oft als Jude beschimpft und bedroht wurde. In diesen Situationen fühlte ich zum ersten Mal eine schreckliche Angst.

Viele Kinder aus unserer Gegend durften plötzlich nicht mehr mit mir spielen. Es wird erzählt, dass ich mit einem Sohn des Kasseler Nazi-Gauleiters, der neben uns wohnte, auf der Strasse gespielt habe. „Was habt ihr denn gespielt?“ fragte meine Mutter. „Synagoge“ antwortete ich…

Auch zu Hause wurde es schwieriger. Man konnte keine nicht-jüdische Hilfe  (?Dienstmädchen?) mehr bekommen, konnte nur noch in bestimmten Restaurants essen und in bestimmten Läden kaufen. Es gab damals noch einzelne deutsche Nicht-Juden, die uns etwas lieferten oder bei uns zu Besuch kamen.

Ich war damals ein sehr ängstliches Kind und hatte große Schwierigkeiten, mich von meiner Mutter zu trennen.

Trotzdem musste noch ein heftiger Schock kommen, um uns wirklich zu überzeugen, dass wir weggehen mussten.

Dieser Schock war die Auflösung der jüdischen Loge Bnei Brit, in deren Vorstand mein Vater war. Er wurde an einem frühen Morgen durch die Gestapo festgenommen und saß zwei Tage im Polizeigefängnis von Kassel.

 In diesen Tagen wurden auch Bücher aus unserer Bibliothek mitgenommen und verbrannt (Bücher, die mit dem Judentum und dem Kommunismus zu tun hatten, und auch alle Werke von Thomas Mann). Ich durfte mit meiner Mutter zu Hause bleiben, wir wurden in der Küche eingesperrt. Das war ein großes Glück, denn meine Mutter war ebenfalls im Vorstand der Loge und sollte eigentlich auch festgenommen werden.

Mein Vater hatte ein sehr traumatisches Erlebnis im Polizeigefängnis, weil er zunächst in einer dunklen Einzelzelle saß und nicht wusste, wessen er beschuldigt wurde.

Er hat sein Leben lang Angstträume hierüber gehabt.

Nach diesem Schreck, der ja noch gut abgelaufen ist, waren meine Eltern so weit, dass sie auswandern wollten.

Viele sind damals weggegangen, und in der Schule zwischen den Kindern ging die Frage um: ?Wann geht ihr denn weg und wohin?? Wir wanderten nach Palästina aus, manche anderen nach Australien (z.B. mein Onkel Fritz mit seiner Familie), nach Südamerika usw.

Die Stimmung war sehr gefährlich und geladen, und jede Radiorede Hitlers machte sie noch schlimmer.

Während der Auflösung unseres Haushalts wurde ich für ein paar Monate in eine Kinderpension in Frankfurt a.M. gegeben, die eine gute Freundin meiner Eltern leitete. Dort waren einzelne jüdische Kinder aufgenommen. Ich wollte absolut nicht in die Schule gehen, weil alles so fremd war.

Mein Vater hatte leichtsinniger Weise einen Witz über Hitler erzählt und hatte große Angst, dass dies an die Nazis weitergegeben  wäre. Werden wir die Erlaubnis bekommen, um auszuwandern?! Man musste eine Genehmigung von vielen Behörden haben und auch eine teure „Steuer“ zahlen. Diese Spannung habe ich bewusst miterlebt. Schließlich bekamen wir die Pässe und konnten ausreisen. Aber sicher war man nie, man konnte doch noch im Zug festgenommen werden. Sicher war man erst auf der Schweizer Seite des Badischen Bahnhofs in Basel. Ich habe bis heute noch große Ängste bei einem Grenzübergang!

Der Abschied von Kassel, vor allem von meiner Großmutter Clara und von Tante Lotte, war sehr schwer. Meine Mutter weinte im Zug, und das regte mich auch auf…

Vater war schon vorher weggefahren. Er wollte meine Schwester, die in England bei ihrer Mutter war, besuchen. Wir sollten uns mit ihm in Basel treffen. Er sollte über Frankreich dorthin kommen. Das war schrecklich aufregend und beängstigend. Aber wir haben einander getroffen!

Wir sind also glücklicher Weise rausgekommen ? man hatte ja ein ?J? in seinem Pass ? und über die Schweiz nach Triest gefahren und von dort mit dem Schiff nach Palästina.

Kurz nach uns gingen auch Gertrud Wallach, die oben genannte Tochter von Tante Lotte aus erster Ehe, mit ihrer Familie nach Palästina und noch manche andere Kassler Juden. Wir wohnten beinahe alle in Haifa.

Leider sind einige in Kassel zurück geblieben, meine Großmutter Clara (die Mutter meines Vaters) und ihre Schwester Paula, die dann 1942 nach Theresienstadt deportiert wurden und von dort gleich weiter in ein Vernichtungslager… Auch Tante Lotte blieb in Kassel und sorgte dort beinahe den ganzen Krieg über für einige ?Halbjuden?. Ihr Sohn Werner, der Offizier war, kümmerte sich regelmäßig um sie und besuchte sie in Kassel, wenn er Urlaub hatte.

Tante Lotte durfte alle drei Monate fünfundzwanzig Worte über das Rote Kreuz nach Palästina schreiben. Durch diese Briefe erfuhren wir auch, dass Werner 1944/45 gefallen war!

Der Erste aus Palästina, der Tante Lotte unmittelbar nach dem Krieg besuchte, war Heinz Peter (Benjamin) Wallach, der Sohn von Gertrud und Franz, ein Enkel von Lotte. Er war britischer (palästinensischer) Soldat und fuhr mit einem amerikanischen Konvoi von Norditalien nach Kassel, das inzwischen vollkommen zerstört war. Er traf seine Großutter dort nicht an, weil sie mittlerweile zu ihrem Sohn Hansi nach Dachau gefahren war. Dort kam er später mit ihnen zusammen.

Einige Jahre später holten wir Tante Lotte nach Palästina (seit 1948 Israel). Der Abgesandte unserer Familie in dieser Angelegenheit war Franz Wallach, der Mann von Gertrud. Er arrangierte die Verpackung von Lottes Hausrat und ihren Flug. Als die Sachen in Haifa ankamen, merkten wir, dass Renate inzwischen vieles gestohlen hatte. Tante Lotte hat daraufhin die Beziehung mit Renate für immer abgebrochen. Hansi starb einige Jahre nach Lottes Übersiedlung. (Ich weiß nicht, wo and genau wann er in Deutschland gestorben ist.)  Lotte lebte noch viele und eigentlich schöne und zufriedene Jahre in Israel und starb dort 1972 im Alter von 92 Jahren.

Erst viel später erfuhren wir aus einer historischen Forschung von Wolfgang Prinz (damals Kassel), dass Werner gar nicht in Russland an der Front gefallen war. Er kam eines Tages im Urlaub nach Kassel und sah, dass seine Mutter, Lotte, doch festgenommen war und in einem Gefängnis saß. Er suchte sie auf und beschwerte sich, was man denn mit seiner Mutter mache. Daraufhin stellte man ihn vor ein Feldgericht und erschoss ihn!

In Palästina

Der erste Eindruck war sehr positiv. Alles war neu, die Sonne schien immer und es war heiß (wir sind am 2.8.37 in Haifa angekommen). Wir hatten keine Angst mehr, aber alles war ein bisschen fremd. Ich wurde zu meinem Bruder Eliyahu geschickt, um Hebräisch (Iwrit) zu lernen. Er lebte mit seiner Frau in einem neu errichteten Kibbuz, nicht weit von Haifa. Es war ein Kibbuz von jüngeren Menschen aus Deutschland, die zur jüdischen  Jugend- und Studentenbewegung „Die Werkleute“ gehörten. Es waren Schüler von Martin Buber. Richtige Pioniere, damals noch nicht so kommunistisch wie später. Jeder sprach Deutsch, aber man konnte doch Hebräisch lernen.

Meine Eltern zogen in eine neue Wohnung in einem Haus, wo noch weitere Familien aus Kassel wohnten. Wir hatten vieles neu aus Deutschland mitgenommen, Möbel, Kleider usw. Das durfte man noch bis November 1938. Ich ging in die Schule und lernte langsam Hebräisch sprechen, lesen und schreiben und fand schnell meine Freundschaften und Kontakte.

Der Vater versuchte mit einem neuen Kompagnon, ein Geschäft in seiner Branche, Wolle und Haare, aufzubauen. Das lief in den ersten zwei Jahren wunderbar, weil er in französischer Sprache im Libanon und in Syrien handelte. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs waren diese Geschäfte unmöglich geworden, und wir kamen in eine sehr schwierige finanzielle Situation.

Die Mutter hatte es von Anfang an sehr schwer und konnte sich nur mühsam an das neue Klima gewöhnen. Meine Großeltern (Rosenberg, aus Eschwege) hatten ihr ganzes Geld verloren. Meine Tante Lise konnte sie nicht mehr ernähren, und so wurden sie Hals über Kopf zu uns geschickt und wohnten bis ans Ende ihres Lebens in unserer Wohnung, ohne einen Pfennig Geld.

Die meisten Juden aus Deutschland konnten kein Hebräisch lernen. Meine Großeltern und mein Vater haben es nie gelernt. Aber mein Vater konnte Englisch und Französisch, die Großeltern jedoch nur Deutsch. Meine Mutter hat wohl ziemlich gut Hebräisch gesprochen.

Es ist unvorstellbar, wie die deutsche Kultur trotz allem in dem Kreis der aus Deutschland emigrierten Juden in Palästina weiter gelebt hat. Wir waren Mitglieder einer deutschen Synagogen-Gemeinde und einer deutschsprachigen Bnei Brit Loge. Auch die Organisation der Juden aus Mittel-Europa war sehr aktiv. Man feierte Familienfeste mit Gedichten und Aufführungen in Deutsch.

Wir sprachen zu Hause also Deutsch, und „draußen“ Hebräisch. Es wurde sogar Wert darauf gelegt und erwartet, dass ich Deutsch weiter zu lesen und zu schreiben lernte. Und der Vater führte mich in die deutsche klassische Literatur ein. Das war eine Ausnahme, in den meisten Familien sprachen die Kinder nur gebrochenes Deutsch.

Es war sehr schwer, in den Jahren 1939-1945 deutsche Bücher zu bekommen, das ging nur über die Schweiz oder über Schweden. Trotzdem haben sich meine Eltern ihren Thomas Mann wieder neu anschaffen können!!

Es gab eine schlechte deutsche Tageszeitung. Aber diejenigen, die irgendwie in der palästinensisch-jüdischen Realität integriert sein wollten, haben sich auf Englisch umgestellt. Es gab nämlich eine sehr gute englische Tageszeitung, aber die meisten Zeitungen waren in Hebräisch.

Die schrecklichen Nachrichten aus Europa folgten uns auch nach Palästina. Ich will es kurz illustrieren: Meine Großeltern hatten bis 1939 deutsche Pässe. Sie mussten sich also nach dem 9. November 1938 („die Kristallnacht“ in Deutschland) mit den zusätzlichen Vornamen Sara und Israel neu beim deutschen Konsulat in Haifa eintragen. Nachher wurden sie staatenlos. Meine Eltern und ich wurden stolze Palästinenser.

Der Erste, den ich nach der schrecklichen Verfolgung in einem Konzentrationslager begegnete, war der letzte Rabbiner von Kassel, Robert Raphael Geis. Er wurde am 8.11.38 in Kassel festgenommen und in das Lager Buchenwald gesteckt. Mit großen Schwierigkeiten haben seine Freunde ihm ein Immigrationszertifikat für Palästina verschaffen können und so wurde er nach vier Wochen aus dem Lager entlassen und musste innerhalb von 48 Stunden mit zwei Koffern und ganz wenig Geld Deutschland verlassen. Er kam als ein vollkommen gebrochener Mann nach Palästina, zu uns ins Haus. Seine Haare waren abrasiert. Er war sehr abgemagert und psychisch erschlagen. Er war damals 32 Jahre alt.

Man hörte täglich die sehr besorgniserregenden Nachrichten aus Europa, und vor allem  meine Mutter regte sich schrecklich darüber auf.

Als 1942 die Armee von Rommel vor Alexandria stand und die pro-deutschen Franzosen in Syrien saßen, waren wir Juden in Palästina wirklich in Lebensgefahr. Die schrecklichen Nachrichten über die systematische Judenverfolgung und Vernichtung in Europa tröpfelten langsam ein. Ein Kind wie ich hat all dieses erst viel später begriffen.

Wir hatten die Illusion, dass wir alle lieben Verwandten und Freunde wiedersehen würden, und korrespondierten mit vielen früheren Kassler Juden, die nun über die ganze Welt verstreut waren

Aber eins war klar: Wir Juden mussten nicht mehr passiv dastehen und uns vernichten lassen. Wir konnten uns wehren und für unser Leben kämpfen. Das spürte ich als Junge wohl. Außerdem schlugen wir Wurzeln in der jüdischen und später israelischen Kultur und Literatur und fühlten uns hier zu Hause!

Benyamin Maoz

Even Yehuda, Israel

Mai-Juni 2003 

(c 1 / 2007)