Sexuelle Gewalt

Die große Verbreitung sexueller Gewalt ist mittlerweile kein Geheimnis mehr. Immer mehr Menschen melden sich zu Wort und finden Aufmerksamkeit. Wenn die Tabuisierung durchbrochen ist, sind wie auch auf anderen Gebieten Verzerrungen wohl unvermeidlich. Sie reichen von allgemeiner Sensationsmacherei in den Medien, Überbewertung einzelner Fremdtäter mit ihren spektakulären Verbrechen im Unterschied zum massenhaften „Missbrauch“ im „Schoß von Familien“ bis hin zum sogenannten „Missbrauch des Missbrauchs“ in Scheidungsprozessen beim Kampf um die Kinder. Das alles ändert aber nichts an der außerordentlichen Bedeutung der zunehmenden gesellschaftlichen Wahrnehmung von sexueller Gewalt.

Ein Thema wird dabei bisher kaum gesehen: mögliche Verknüpfungen zwischen dem „privaten“ und dem „politischen“ Bereich. Es wird meist so getan, als ob sexueller „Missbrauch“ nur etwas „Unfassbares“ allein innerhalb der betreffenden Familien sei oder von Seiten der individuellen Täter. Vereinzelt werden aber seit einiger Zeit in der Fachliteratur KZ- und Foltererfahrungen und solche des sexuellen k“Missbrauchs“ nebeneinandergestellt wegen verschiedener Ähnlichkeiten. Starres Schwarz-Weiß-Denken, eine Dichotomie des „Sauberen“ und des „Schmutzigen“, Anpassungs- und Schweigegebote, tödliche Drohungen, willkürliches und völlig überzogenes „Strafen“, eine Ideologie der Einheitlichkeit und Widerspruchslosigkeit – all das findet sich in den Berichten über südamerikanische Militärdiktaturen, gilt für das Nazi-Reich sowieso und herrscht andererseits in „privaten“ Verhältnissen so mancher Familie, innerhalb deren sexualisierte Gewalt ausgeübt wird. Zwischen totalitären Praktiken und sexueller Gewalt bestehen enge Affinitäten als Strukturen der Gehirnwäsche, der völligen Umdefinition von Wirklichkeit. Und umgekehrt werden im sexuellen „Missbrauch“ Ziele verfolgt, die mit dem sexuellen Bereich direkt nichts zu tun haben: Machtausübung des Täters, Eindressieren von Unterwerfung beim Opfer, Identifikation mit der Macht.

Zwingend „beweisen“ lassen sich solche Zusammenhänge schwer. Aber es gibt Beispiele, insbesondere aus Psychotherapien. Dabei hat es sich mehr als einmal herausgestellt, dass Nazi-Täter nach 1945 nicht unbedingt zurückgekehrt sind in „unbescholtene Normalität“, sondern dass sie Täter geblieben sind, und zwar dort, wo es gefahrlos ging, also besonders im „Schoß der Familie“. Und hier scheint sexuelle Gewalt von zentraler Bedeutung zu sein, auch wenn Kontinuitäten der Gewalt sich nicht nur darin manifestiert haben.