Umgehen mit Schuld

Jürgen Müller-Hohagen

„Von der Last, Deutscher zu sein“, so heißt der Untertitel eines Buches, das der bekannte deutsche Publizist Ralph Giordano 1987 veröffentlicht hat. Die Resonanz war ausgesprochen polarisiert. Denn in seinem Haupttitel kommt ein Wort vor, auf das bis heute in Deutschland sehr allergisch reagiert wird: Schuld. „Die zweite Schuld. Oder: Von der Last, Deutscher zu sein“, dieses Buch handelt von den vielfältigen Aktivitäten der Nazi-Generationen, nach 1945 ihre Verbrechensbeteiligung zu vertuschen. Diese Verdrängung und Verleugnung der ersten Schuld ist das, was Giordano als zweite Schuld beschreibt:

„Jede zweite Schuld setzt eine erste voraus – hier: die Schuld der Deutschen unter Hitler. Die zweite Schuld: die Verdrängung und Verleugnung der ersten nach 1945. Sie hat die politische Kultur der Bundesrepublik Deutschland bis auf den heutigen Tag wesentlich mitgeprägt, eine Hypothek, an der noch lange zu tragen sein wird. Denn es handelt sich nicht um einen bloß rhetorischen Prozess, nicht um einen Ablauf im stillen Kämmerlein. Die zweite Schuld hat sich vielmehr tief eingefressen in den Gesellschaftskörper der zweiten deutschen Demokratie. Kern ist das, was in diesem Buch der ‚große Frieden mit den Tätern‘ genannt wird – ihre kalte Amnestierung durch Bundesgesetze und durch die nahezu restlose soziale, politische und wirtschaftliche Eingliederung während der ersten zehn Jahre der neuen Staatsgeschichte. Das zweite Codewort, gleichsam der rote Faden von der ersten bis zur letzten Seite, ist der ‚Verlust der humanen Orientierung‘, ein tief aus der Geschichte des Deutschen Reiches bis hinein in unsere Gegenwart wirkendes Defizit.“

Es ist eine Schuld zuerst einmal gegenüber den Opfern der Nazi-Herrschaft.

Es ist sodann auch eine Schuld gegenüber den eigenen Kindern und Kindeskindern. „Heute, mit der riesigen Erfahrung von vier Jahrzehnten, kann gesagt werden, dass die hartnäckige Verweigerung aus Angst vor Selbstentblößung eine Mehrheit der alten und älteren Generation nach dem Zweiten Weltkrieg weit stärker motiviert hat als das Wohl ihrer Kinder.“ Ralph Giordano, der selber Opfer war, ist tief erschüttert durch die Lektüre eines Buches , in dem Nachkommen von Nazis ihr Aufwachsen unter solchen Eltern und ihre innere Situation schildern. Dieser Generation, uns Nachgeborenen, hat er sein Buch gewidmet.

Allerdings: „Schuldlos beladen“, wie Giordano feststellt, sind die Nachkommen zwar, doch zugleich ist zu bedenken, dass es auch eine „dritte Schuld“ geben kann und mittlerweile gibt, nämlich auf deren Seite. Soweit sie das Verdrängen, Verleugnen, Verschweigen der Vorgängergenerationen fortführen, verharren sie in einer transgenerationellen Komplizenschaft und tragen etwas von der NS-Gewalt weiter.