Politische Gewalt und die Illusion des „unbetroffen“ Seins

Jürgen Müller-Hohagen

Die verheerenden Wirkungen von Illusionen – in der Geschichte des 20. Jahrhunderts stehen sie vor uns. Festhalten an vermeintlich heilen Welten war an der Tagesordnung. „Es wird schon nicht so schlimm kommen“, wurde millionen-, milliardenfach gedacht und danach gehandelt, in vielen Teilen der Welt, mit beispiellosen Folgen in Deutschland. Es ist noch schlimmer gekommen. Die eigene heile Welt, von der Gartenlaube bis zur „abendländischen Kultur“, war eben kein Bollwerk gegen zu wenig wahrgenommenes Böses.

Diese Aufteilungen in heile Welt und Stacheldraht, in Terror und Normalität, in schmutzige Politik und beschauliches Familienleben stimmten einfach nicht. Und auch heute führen sie in die Irre. Abgründe nur anderswo festzumachen, eigenes beteiligt Sein am Produzieren von Unheil aber beiseite zu schieben, dies befördert den Terror erst recht.

Hinsichtlich einer anderen Bedrohung, nämlich der Umweltzerstörungen, sind wir inzwischen zu mehr Klarheit gekommen. Hier wird allmählich auch auf der Verursacherseite eingesehen, dass von den Folgen früher oder später niemand verschont bleibt. Und wir begreifen als Verursacher nicht nur einige wenige, sondern verstehen uns in der Allgemeinheit als verantwortlich, als „betroffen“. Wir bemerken, eine wie gefährliche Illusion die Hoffnung darstellt, selber ungeschoren davonzukommen. Was Menschen der äußeren Natur antun, rächt sich, zwar mit zeitlicher Verzögerung meist, doch dafür um so nachhaltiger.

Ähnliche Einsichten und Konsequenzen sind dringend anzumahnen mit Blick auf die Zusammenhänge von politischem Terror und Normalität, also bezüglich dessen, was Menschen einander angetan haben und was sie weiterhin fortsetzen in Kriegen, Völkermorden und massenhafter Folter. Bislang herrscht anscheinend noch in großer Verbreitung die Vorstellung, alles das bleibe ohne größere Wirkungen auf die weitere Umgebung und auf die nachfolgenden Generationen, auf die Welt insgesamt. Oder man meint, die Etablierung demokratischer Verhältnisse allein garantiere schon eine dauerhafte Absicherung gegen solche Gefahren. Sich in derartiger Weise für „unbetroffen“ von politischer Gewalt anzusehen, ist jedoch mindestens so unrealistisch, wie wir es allmählich hinsichtlich der Verursachung und der Folgen von Umweltzerstörung begreifen.

Politische Gewalt und ihre Langzeitwirkungen im gesellschaftlichen und individuellen Bereich, dies zu studieren, ist Deutschland ein herausgehobener Platz. Weder „geschahen“ die NS-Verbrechen „auf schicksalhafte Weise“, noch waren die breiten Massen oder die Eliten „unschuldig“, weder begann das alles präzise am 30. Januar 1933, noch endete es am 8. Mai 1945 in einer „Stunde Null“, weder hat sich aller Terror der Geschichte einzig im NS-Reich niedergeschlagen, noch leben wir heute in einer heilen, einer „unbetroffenen“ Welt. In Wirklichkeit wurden alle Bereiche infiziert, von den seelischen Untergründen bis zu Wirtschaft, Recht, Politik und Pädagogik. Wir brauchen weiterhin Geschichtswissenschaft, Psychologie, Soziologie, Forschungen zur Lokalgeschichte, Literatur und Medien, um diese Vergangenheit und ihre Weiterwirkungen auch nur in Facetten zu begreifen und die Gefahr von Wiederholungen zu verringern. Zugleich aber sind auch solche Bemühungen nicht davor gefeit, die Gegenwart und sich selbst für „nichtbetroffen“ anzusehen.