Ein beispielhaftes Vorwort

Jürgen Müller-Hohagen

Die Filmemacherin und Autorin Freya Klier, bekannt geworden durch ihr bürgerrechtliches Engagement in der DDR und während der Wendezeit, gehörte zu den ersten, die ein jahrzehntelang in beiden deutschen Staaten tabuisiertes Thema an die Öffentlichkeit brachte: die massenhaften Vergewaltigungen von mehr als einer Million deutscher Frauen und Mädchen durch Angehörige der Roten Armee, gefolgt von Deportation und jahrelanger Zwangsarbeit unter schlimmsten Bedingungen, für Hunderttausende der Tod.

Das Vorwort zu ihrem 1996 erschienenen Buch Verschleppt ans Ende der Welt. Schicksale deutscher Frauen in sowjetischen Arbeitslagern umfasst nur drei Seiten. Aber auf diesem knappen Raum steht mehr an Bedenkenswertem als oft in dicken Bänden. Und vor allem: Es wird differenziert, es werden die verschiedenen Seiten gesehen und nicht nur die jeweils eine. Das ist leider etwas Seltenes. Um so wichtiger ist es, auf dieses Vorwort und auf das ganze Buch hinzuweisen.

„Seit einem halben Jahrhundert füllen die Biographien der ?Architekten des Dritten Reiches‘, der Wehrmachtsgeneräle und -feldmarschälle, die Bücherregale. Die Biographien derer, die diesen Krieg weder anzettelten noch führten, ihn aber mit ihrer Gesundheit oder dem Leben bezahlen mussten, füllen allenfalls Seiten, und auch das meist nur als zeitgeschichtliche Ergänzung. Im Osten durften sie nicht erwähnt werden, im Westen fielen sie dem Lagergefecht der Generationen zum Opfer: hier eine Wehrmachtsgeneration, die bevorzugt auf russische Greueltaten verwies, um die eigenen zu schmälern, dort deren Kinder, die aus ihrem Wohlbehütetsein heraus das Leider ihrer Mütter als ?Strafe für Auschwitz‘ wegwischten. Ein Gefecht, das die Deportations- und Vergewaltigungsopfer endgültig verstummen ließ.“ (1)

„Ihre düsteren Schicksale wollte, wer selbst gerade noch davongekommen war, nicht hören – man war im Schlussstrich- und Aufbaufieber. Für die nicht Davongekommenen aber gab es keinen Schlussstrich; durch Alpträume und körperliche Schäden wurde aus der Vergangenheit tägliche Gegenwart. Und lange noch begleitete die Vergewaltigungsopfer der perfide Satz: ?Hättest du dich richtig gewehrt, wäre das nicht passiert.‘ So kamen zum Erlittenen auch noch Schuld- und Schamgefühle.

Dem westlichen Desinteresse stand das östliche Tabu gegenüber. Zwar wanderte in der Kaderakte der Makel ?Sibirien‘ mit in die Zukunft, doch seine Erwähnung außerhalb der eigenen vier Wände hieß erneute Verhaftung, diesmal wegen ?Verleumdung der Sowjetunion.‘

Der Große Bruder selbst leugnete die Massenvergewaltigungen und Deportationen nach bewährter Methode als ?böswillige Erfindung westlicher Propaganda‘. Und die beteiligten Heldensoldaten? Sie leiden bis heute am kollektiven Gedächtnisschwund.“ (2)

Die Autorin benennt diese Vergewaltigungen und Deportationen eindeutig als Kriegsverbrechen, aber – und das ist leider nicht selbstverständlich – sie übergeht nicht das von deutscher Seite zuvor Verübte oder erwähnt es nicht etwa nur pflichtgemäß ganz schnell, sondern sie geht wirklich darauf ein, aber ohne aufzurechnen.

„Nein, aufzurechnen gibt es nichts. Und wenn Marschall Schukow im Januar 1945 seinen Soldaten den Terror an deutschen Zivilisten befahl, dann soll nichts entschuldigt – aber mitbedacht werden, dass Schukow beim Aufbrechen des Leningrader Blockaderings die Straßen zwischen Pulatow-Werken und Isaaks-Kathedrale voller Leichenberge fand; dass er den Anblick lebender Skelette im Gedächtnis behielt, denen Tischlerleim und gekochtes Leder als Nahrung blieben.“ (3)

Dass dies so war, ist eben nicht eine „bedauerliche Folgeerscheinung“, in heutiger Sprache ein „Kollateralschaden“ gewesen, sondern es war exakt kalkuliert und durchgeführt worden. „1941 begann auch ein ?Feldzug‘ genannter Vernichtungskrieg, der dem ?slawischen Untermenschen‘ schlechthin galt und den Reichsmarschall Göring im November 1941 gegenüber dem italienischen Außenminister in zwei Sätzen zusammenfasste: ?In diesem Jahr werden 20 bis 30 Millionen Menschen in Russland verhungern. Vielleicht ist das gut so, da bestimmte Völker dezimiert werden müssen.'“ (4)

„Dem Leningrader Hungertod fielen 1,2 Millionen in der Blockade eingeschlossene Menschen zum Opfer.“ (5)

Dass diese verwickelten und grauenhaften Zusammenhänge nicht immer noch weiter verleugnet werden, ist ein zentrales Ziel des Buches.

„Dem Leugnen und Verdrängen sind endlich die Schicksale der Opfer entgegenzusetzen. Die Vogelperspektive von Geheimpakten und Kartentischen ist durch das Leben und Sterben derer zu ergänzen, die Strategien nicht entwickelten, sondern aushalten mussten. (…) Bevor auch die letzten Zeugen eines tabuisierten Geschichtskapitels nicht mehr befragbar sind, sollten wir uns ihnen zuwenden – unvoreingenommen und aus ihrer Differenzierungsfähigkeit lernend.“ (6)

Ein beispielhaftes Vorwort und ein Buch, das man zur Kenntnis nehmen sollte, um wenigstens eine Ahnung zu bekommen…

Anmerkungen

  1. Klier, Freya (1996): Verschleppt ans Ende der Welt. Schicksale deutscher Frauen in sowjetischen Arbeitslagern,. Berlin, S. 11
  2. S. 11f
  3. S. 13
  4. S. 13
  5. S. 13
  6. S. 12