Gegenmittel

Jürgen Müller-Hohagen

Was gibt es an Gegenmitteln, um politischer Gewalt aus Vergangenheit und Gegenwart zu begegnen?


Ich nenne vor allem folgende Punkte:

  1. Das erste und vielleicht wichtigste Hoffnungspotential liegt bereits darin, dass es überhaupt möglich ist, solche Gefährdungen zu benennen und sich darüber auszutauschen.
  2. Als Nächstes denke ich an einen Punkt, der mir in meiner täglichen Arbeit äußerst wichtig ist und der auch bei dem polnisch-britischen Soziologen Bauman sehr hervorgehoben wird: Pluralität, das heißt Wahrung von Unterschiedlichkeit, Konfliktaustragung, Auseinandersetzung.
    „Der Pluralismus ist die beste Prophylaxe dagegen, dass unbescholtene Menschen sich zu moralisch verwerflichem Handeln bereit finden. Die Nationalsozialisten mussten die letzten Reste pluralistischer politischer Strukturen beseitigen, bevor sie die Endlösung vorantreiben konnten, die die Bereitschaft normaler Menschen, unmenschliche Taten zu begehen, bewusst – und mit schrecklichem Erfolg – einkalkulierte. In der Sowjetunion kamen die systematischen Säuberungsaktionen Stalins richtig ins Rollen, als die Reste sozialer Autonomie und des damit verbundenen Pluralismus zerschlagen waren.“
    Dies gilt im Blick auf die Einzelmenschen wie auf die Gesellschaft insgesamt. „Jede Einschränkung der Interessenvertretung und Selbstverwaltung an der gesellschaftlichen Basis, jeder Angriff auf den sozialen und kulturellen Pluralismus und die Möglichkeiten zu deren politischer Artikulation, jeder Versuch, die Machtfülle des Staates zu verschleiern, und jeder Schritt zur Schwächung der sozialen Grundlagen der Demokratie erhöhen graduell die Gefahr, dass eine Katastrophe wie der Holocaust sich wiederholen könnte.“
    Der Psychoanalytiker Wurmser sieht es von seinem Platz hinter der Couch in genau der gleichen Richtung, wenn er sein Buch Die zerbrochene Wirklichkeit enden lässt mit diesen Worten: „Nur das Zusammengesetzte, Widersprüchliche ist wahr (…); einfach und einheitlich sind ja eigentlich bloß die Lüge und die Täuschung. Das Unbedingte und das Maß – in der Erkenntnis ihres unschlichtbaren Gegensatzes liegt die tragische Wahrheit.“ Genau das wollen und wollten die Diktatoren dieser Welt nicht gelten lassen.
    Darum geht es auch in meiner täglichen Arbeit: Widersprüchlichkeit in sich selber und innerhalb von Familie, Schule, Beruf sehen lernen, Konflikte gelten lassen, Auseinandersetzung ermöglichen, Distanz in den Clinch bringen, ethische Orientierungen, also Unbedingtes, anerkennen, die Freiheit zur Fehlentscheidung zulassen, Scheitern für menschlich halten.
    Immer wieder bin ich tief beeindruckt davon, wie viel Bewegung hin zu mehr Menschlichkeit möglich wird auf letztlich eher unspektakulären Wegen, mit Gespräch, Hinhören, Vertrauen Lernen, Öffnen. Oder liegt darin inzwischen schon das Spektakuläre?
  3. In engem Zusammenhang mit dem vorgenannten Punkt steht es, Individualität zu behaupten und zu fördern. Ich meine hier nicht Individualismus, sondern den klaren Blick auf den Einzelmenschen, auf seine Besonderheit und damit auf seine Unterschiedenheit, also auch auf seine Fremdheit.
  4. Lebendige Individualität wiederum ist nur schwer möglich, wenn wir allein auf uns gestellt sind. Wir brauchen Freunde. Welch zentrale Bedeutung das hat, ist mir während meiner Forschungen über Nazi-Auswirkungen in neuer Weise aufgegangen. Das hat mich dazu geführt, das Konzept der Verbundenheit zu entwickeln.
    Großen Anteil daran hatte Eugen Kessler, ehemaliger Häftling und später über viele Jahre Vorsitzender der Lagergemeinschaft Dachau. Er hat zum Beispiel gesagt:
    „Ich bin der Meinung, dass für jeden Menschen die Freundschaft das Wichtigste ist, denn ohne Freundschaft ist das Leben zwecklos. Die Bedeutung der Freundschaft, die kann einen Menschen formen. Freunde sind ein Teil unseres Denkens.“
  5. Es ist gut, wenn es über individuelle Kontakte und Freundschaften hinaus Orte gibt, wo ein Austausch über Fragen der politischen Gewalt und ihrer Folgen möglich wird und man sich gegenseitig unterstützen kann. Es braucht viele solche Plattformen des Vertrauens. Das Dachau Institut will dazu beitragen.