Bindungskonzepte und politische Gewalt

Jürgen Müller-Hohagen

In den letzten Jahren ist durch die auf Bowlby zurückgehende Bindungsforschung und durch die psychoanalytische Säuglingsforschung das Thema der frühkindlichen Bindungsvorgänge in neuer Weise in den Blickpunkt der Fachöffentlichkeit gelangt. Das Bild des „kompetenten Säuglings“, wie Martin Dornes es genannt hat, eröffnet wesentlich andere Perspektiven als die herkömmliche Vorstellung einer weitgehend symbiotischen Abgeschlossenheit. Die Interaktion ist bereits vor der Geburt viel wichtiger, als früher angenommen wurde, und dies erst recht für die Zeit danach. Bindung bewegt sich nicht auf vorgegebenen Schienen, sondern sie entwickelt sich im Rahmen der stattfindenden Interaktionen. Von daher lassen sich mittlerweile die Bedingungen für gelingenden wie für entgleisenden Dialog, um es mit René Spitz auszudrücken, weitaus präziser fassen als noch vor wenigen Jahren.

Was bei diesen Konzepten der neueren Bindungsforschung offensichtlich fehlt, ist ein Bezug zur gesellschaftlichen Situation und dabei besonders zur politischen Gewalt.

Das gilt sehr deutlich auch für den 1981 erschienenen Klassiker Unsichtbare Bindungen von Boszormenyi-Nagy und Spark. Dieses Buch ist ungeachtet seines ansonsten großen Verdienstes ein Beispiel für die Verleugnung des Gewaltthemas. In seinem Sachregister finden sich weder zur Gewalt noch zum sexuellen Missbrauch Eintragungen. Ihre Forschungen haben sich offensichtlich in einem Mittelfeld gesellschaftlicher Realität bewegt, wo es zwar in den Familien vielfältige Verwicklungen und Problembereiche gibt, wo aber die Grundstrukturen weitgehend intakt sind. Was hier beschrieben wurde, bezieht sich nur auf einen relativ gewaltfreien Bereich der Wirklichkeit.

Eine derart das Ausmaß von Gewalt ausklammernde Sicht ist bis heute typisch für weite Teile des öffentlichen Diskurses. Es fehlt an einer realistischen Einschätzung, wie sehr das gesellschaftliche Ganze infiltriert ist von Gewalt. Bei der Erforschung seelischer Weiterwirkungen des Nationalsozialismus ist das unübersehbar.

Von psychoanalytischer Seite ist die Gewaltdimension des menschlichen Lebens sehr betont worden – und doch besteht hier, und das geht durchaus auch auf Freud zurück, zugleich eine auffällige Zurückhaltung, aktuelle Gewalt beim Namen zu nennen. Es geht in den theoretischen Abhandlungen so sehr um feinst verästelte innere Vorgänge, dass „nackte“ Gewalt meist hinter dem Horizont verschwindet.

Beim Durchschauen der Sachregister verschiedener Klassiker der psychoanalytischen Säuglingsforschung ist das Ergebnis jedenfalls dasselbe wie zuvor: kein Eintrag zum Thema Gewalt und zu ähnlichen Stichworten.

Eine Ausnahme bildet das Buch von Martin Dornes Die frühe Kindheit. Hier findet sich ein langes Kapitel über Misshandlung, in dem es intensiv um gewaltgeprägte Interaktionen zwischen Eltern und Kindern und die oft lebenslangen Folgen geht. Sogar die gesellschaftliche Situation wird gestreift, allerdings nur im letzten Absatz, wo das Thema der Armut kurz, aber immerhin angesprochen wird. Dornes bezeichnet sie als „eine spezielle Form von (sozialer) Misshandlung, deren Linderung wir, bei aller Liebe zu Psychologie und Psychotherapie, nicht aus den Augen verlieren sollten.“

Dem sei nur insofern widersprochen, als diese „Linderung“ auch innerhalb des psychologischen Feldes erfolgen kann, einschließlich des Informierens der Öffentlichkeit über gesellschaftliche Untergründe, die sich zeigen, wenn man nur hinschaut.