Löcher in der Wirklichkeit

Jürgen Müller-Hohagen

Im Anderen erkennen wir unter Umständen die eigene Situation genauer wieder, so etwa beim Blick von Deutschland, mehr als fünfzig Jahre „danach“, auf lateinamerikanische Länder, wo die Zeit der Militärdiktaturen noch sehr viel näher liegt. Blicke hin und her, Vergleiche, Ähnliches, Unterschiede.

In verschiedenen Ländern dort sind unter demokratischen Verhältnissen „Schlusspunktgesetze“ verabschiedet worden, die den Folterern und Mördern aus der Zeit der Militärdiktaturen Straffreiheit verschaffen. In Deutschland waren die Verhältnisse nach 1945 komplizierter, doch für zahllose Täter führten sie zum gleichen Ergebnis wie im „fernen“ Südamerika. Ralph Giordano nannte dies „den großen Frieden mit den Tätern“.1 Insofern ist die folgende Feststellung des uruguayischen Psychoanalytikers Marcelo Viñar auch bei uns zu bedenken, wenn er schreibt:

„Die Straffreiheit bestätigt das gewaltsame Ereignis erst recht, ein sadistisches, perverses Ereignis, das bekannt ist und zugleich vergessen werden soll. Sie bestätigt das Verbergen, sie beseitigt einen real geschehenen Vorfall. Dies führt nicht zu einem bloßen Schweigen, sondern zur aktiven Eingravierung eines Loches. Es zielt darauf ab, den mit dem Vorfall verbundenen Schrecken für inexistent zu erklären. Das ist mehr als eine Verfälschung, sondern bedeutet die Festschreibung eines Nicht-Sinns.“ 2

Löcher in der Wahrnehmung dessen, was wir für Wirklichkeit halten, bestimmen unser Denken und Handeln eben deshalb, weil wir uns ihrer Existenz nicht einmal grundsätzlich bewusst sind. Das gilt es herzustellen.