Verbundenheit

Jürgen Müller-Hohagen

Psychologie ist eine Wissenschaft, in deren Mittelpunkt das Individuum steht. Von daher gehört sie mit zur Erfolgsgeschichte des modernen Individuums und seiner Ablösung aus sozialen Abhängigkeitsverhältnissen. Sie ist daraus hervorgegangen, und sie hilft die Individualisierung des Lebens immer noch weiter zu befördern.

Zugleich gingen seit langem mit dieser Entwicklung Tendenzen einher, die Bedeutung des Individuums zu verabsolutieren, soziale Bindungen und gesellschaftliche Bedingtheiten zu leugnen, Verpflichtungen gegenüber anderen auf ein Minimum zu beschränken, moralische Gebote für schädlich zu erklären. Lange Zeit wurde ein solcher Individualismus vor allem von anarchistischen Außenseitern vertreten. Heute aber ist zu fragen, ob er nicht inzwischen stärker und wirkungsvoller von der Mitte der Gesellschaft aus wirksam ist. Konkurrenz aller gegen alle, Karriere, finanzieller Erfolg, Personenkult in den Medien werden immer mehr zu dem, was als normal gilt. Diese Entwicklung hat wahrscheinlich unter anderem auch mit Wirkungen des Nationalsozialismus und anderer totalitärer Systeme zu tun, nämlich die Menschen aus ihren hergebrachten Bindungen gerissen (oder gelockt), also traditionelle Verbundenheit gewaltsam aufgelöst zu haben. An deren Stelle trat die Bindung an Führer, Volk und Vaterland – und dann? Das Vakuum wird immer spürbarer. Fragen nach dem „sozialen Kitt“ häufen sich, womit die tiefer liegende Problematik aber noch nicht berührt ist.

An psychologische Beratung und Therapie richten sich tagtäglich dringende Anfragen, für jenen Kampf aller gegen alle „fit“ gemacht zu werden. Zugleich landen hier aber auch verstärkt die Verwundeten und die hoffnungslos Abgeschlagenen. In der Arbeit mit ihnen – aber durchaus gelegentlich auch bei den „Erfolgreichen“ – blitzt manchmal etwas auf von anderen Perspektiven des Menschseins, von neuen Formen von Verbundenheit.