Auswirkungen bei den Nachkommen

Jürgen Müller-Hohagen

Viele NS-Täter und Tatbeteiligte haben weitergemacht nach 1945, weitergemacht dort, wo es gefahrlos ging, nämlich besonders im Schoß der Familie. Das ist mir in einer Reihe von Therapien sowie in Briefen und weiteren Mitteilungen klar geworden.

Viele NS-Täter und Täterinnen hatten es heraus, sich durch Biederkeit, Wohlanständigkeit, Vorbildlichkeit und dergleichen nach außen und vor sich selber zu tarnen. Kinder waren ihnen ausgeliefert, wurden – erst recht, wenn sie sich zu wehren versuchten – für verrückt erklärt oder tödlich bedroht.

Auch wo Gewalt nicht im engeren Sinne involviert war, stand sie häufig als Drohung im Hintergrund.

Viele Nachkommen haben dies von der Muttermilch an aufgenommen, sind – mit oder ohne Schläge – aufgewachsen in einer ungreifbaren, aber gleichwohl spürbaren Atmosphäre tödlicher Drohungen, dies von den gleichen Menschen, die mehr oder weniger liebevolle Eltern oder Großeltern waren.

Die Folgen auf Seiten der Nachkommen sind im doppelten Sinne unübersehbar – und doch werden sie ständig als solche übersehen und stattdessen den Betreffenden als individuelle Pathologie zugerechnet. Es kann sich handeln um eigenartige, für den oberflächlichen Blick unverständliche Ängste oder Verhaltensweisen, es kann „agiert“ werden, Wiederholungszwänge und ständige Brüche in Beziehungen mögen rätselhaft wirken, Gewalt wird gegen sich selbst oder gegen andere ausgeübt in Formen, die sich in der ganzen Bandbreite dessen bewegen, womit wir in der psychologischen und psychotherapeutischen Arbeit zu tun bekommen. Jede Auffälligkeit – oder vielleicht erst recht auch jede Unauffälligkeit – kann in solchen Zusammenhängen angesiedelt sein.

Meine Erfahrung aus dieser Arbeit deckt sich mit Eindrücken anderer, dass es fast ausschließlich Frauen sind, die sich mit diesen Themen in Beratung und Therapie wagen. Meist haben sie schon ihr Leben lang eine enorme Last getragen – noch mit für die Männer ringsum.

Was auch immer die Gründe sein mögen, jedenfalls, wenn Männer sich ausdrücklich wegen Täter-Hintergründen an mich gewandt haben, dann standen sie fast durchwegs unter extremstem Druck, vor allem dem von Todesdrohungen, waren schwer suizidal oder befanden sich in der Psychiatrie.

Wenn der Schleier sich zu lüften beginnt, zeigen sich in besonderer Weise Störungen im Dialog, zwischen den Nachgeborenen und ihren Eltern und Großeltern wie auch zu den eigenen Kindern, Dialog zwischen Partnern, Dialog und Kommunikation mit der Umgebung und in der Gesellschaft allgemein. Immer wieder taucht dann tiefstes verlassen und abgeschnitten Sein auf, das sich seit vielen Jahren chronifiziert hat – Sprengstoff auf individuellem wie sozialem Gebiet.

Die größte Schwierigkeit in der Arbeit mit Nachkommen des NS-Kollektivs liegt darin, dass neben dem massiven Leiden durch seelische und körperliche Misshandlung – und fatalerweise oft gerade über diese transportiert – eine tiefreichende und kaum auflösbare innere Verknüpfung mit den elterlichen NS-Tätern zustande gekommen ist. Die wenigen Menschen, die dies in Therapien oder anderswie anzugehen versucht haben, sind als Pioniere zu betrachten, als stellvertretend im Individuellen einen Weg suchend, von dem im Großen so getan wird, als bestände dazu kein Bedarf oder als hätte man ihn längst gefunden. Es ist außerordentlich schwierig, sich aus diesen Loyalitäten zu den Nazi-Vorfahren zu lösen. Man kann sich intensiv von den Eltern, Großeltern usw. abgesetzt haben, und doch bleiben Verkettungen im Unbewussten bestehen und wirken sich bestimmend im Leben der Betreffenden aus.

Wenn die Kinder aber gelernt haben, mit den Wölfen zu heulen oder mit den Wolfsaspekten der ansonsten eher biederen Umgebung, so kann es bedeuten, selber den Wolf in sich zu tragen.

Das nun führt unter Umständen zu einer Bereitschaft für komplizenhafte Aktionen gegen Dritte, gegen Schwächere, Fremde, Juden, Außenseiter, Behinderte…

Solche Komplizenschaft gibt es in bewusster, meist aber in eher unbewusster Form – auch unter Linken, auch unter Psychotherapeuten…

Komplizenschaft und Loyalität hängen eng zusammen. Was an Bindung zwischen Eltern und Kindern grundsätzlich eine tiefe Lebensnotwendigkeit darstellt, ist im Nazi-Zusammenhang massenhaft in eine perverse Komplizenschaft umgeschlagen: Die Kinder opfern unbewusst ihr eigenes Leben und Wohlergehen der „Treue“ zu den Eltern. Und trotzdem sind sie nur bedingt als Opfer anzusehen, denn mit ihrer Komplizenschaft, einschließlich oft ihrem Leiden, verhindern sie die klare Wahrnehmung der Verbrechensbeteiligung der Vorfahren und lenken sie von denen ab, die an hauptsächlicher Stelle Opfer der Nazis wurden.

An dieser Stelle ist es besonders wichtig, genau zu unterscheiden. Da sich nämlich Denken und Fühlen leicht zu einem diffusen Brei vermengen, wenn es um Gewalt geht, und erst recht angesichts von Vernichtung, werden die Leiden auf Seiten der Nachkommen der Täter des öfteren mit denen der Opfer und ihrer Nachfahren gleich gesetzt. „Wir waren die Juden unserer Eltern“, so hat es ja des öfteren geheißen. Das stimmt einerseits, und andererseits ist es grundfalsch, verschleiert die trotzdem oder gerade erst recht über die Gewalterfahrung zementierte Loyalitätsbindung an die Nazi-Eltern – und damit eventuell, wer jedenfalls könnte das ausschließen, die Übernahme von deren Gewalt- und Vernichtungsbereitschaft.

Es macht einen fundamentalen Unterschied aus, ob man vom übermächtigen Kollektiv als Ungeziefer von Geburt an erklärt wird oder ob die tödliche Drohung „nur“ für den Fall der Unbotmäßigkeit gilt, man also zumindest über Bruchstücke einer Handlungsautonomie verfügt.
Deshalb ist es wichtig, Vernichtungsängste auf Seiten der Opfer des Nazi-Systems von ähnlich erscheinenden Ängsten bei Nachkommen aus dem Täterkollektiv zu unterscheiden. Diese sind als Todesängste zu bezeichnen.

Nur wenn Nachkommen des Täterkollektivs sich einigermaßen klar mit dem Vernichtungsanteil der Eltern und anderer Vorfahren auseinandergesetzt haben, können sie ohne Vermengung damit die eigene erlittene Gewalt benennen und öffentlich machen. Das ist ein Prozess, der erst langsam in Gang kommt.