Übermittlung von NS-Täterbezügen an nachfolgende Generationen
Dies ist ein Thema mit vielen Fragezeichen. Wir wissen wenig darüber. Warum? Blicken wir erst einmal in Richtung auf die Täter:innen. Sie haben ab 1945 sehr heftig vernebelt. Manches davon lebt immer wieder auf, so auch zurzeit.
- Mit großem Erstaunen haben Besatzungssoldaten 1945 und danach festgestellt, dass fast niemand zugab, Nazi gewesen zu sein. Und Täter oder Täterin? Das natürlich erst recht nicht. „Unschuldig!“ plädierten sogar noch die Hauptverbrecher in den Nürnberger Prozessen.
- Ganz allgemein ist festzustellen, dass Täterschaft nur äußerst widerwillig zugegeben wird. Nietzsche hat das vor Langem schon glasklar benannt:
„’Das habe ich getan‘, sagt mein Gedächtnis. ‚Das kann ich nicht getan haben‘ – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.“ (Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Berlin 2013, S. 54, Nr. 68).
Im Zusammenhang mit dem NS und seinen Verbrechen hat das aber noch eine ganz zugespitzte Dimension. - Für den zur Deportation vorgesehenen Juden war der Finanzbeamte, der akribisch seinen gesamten Hausstand erfasste, ein Teil des Täterkollektivs, war Täter. Dieser aber, wie sah er sich? Auf jeden Fall nicht als Täter. Weder damals noch später.
- Insgesamt aber gilt für alle, die an den Verbrechen beteiligt waren oder sie ermöglichten: Egal, welche Sichtweise sie einnahmen (einschließlich Lüge, Verleugnung, Verdrängung usw.), das änderte nichts an der Tatsache ihres Mitwirkens.
- Menschen, die zu Tätern wurden, waren sie von vornherein so „veranlagt“, oder hatten sie sich freiwillig indoktriniert, oder waren sie hineingezogen worden zum Beispiel durch Kameraden, oder waren sie es durch das perfide Nazi-System, möglichst viele zu Komplizen der Verbrechen zu machen, oder hatten sie sich beteiligt gegen ihren Willen und tatsächlich (und nicht später gelogen) aus Angst um ihr Leben oder das ihrer Lieben? Hier kann es viele Unklarheiten für die Nachkommen geben.
- Ein beklemmendes Thema bis heute: Wie konnte es sein, dass aus ganz normalen Männern Täter wurden (siehe Gellately 1993, Browning 1996, Welzer 2005)? Und nach 1945 wurden sie plötzlich wieder „normal“, diese Männer und auch Frauen?
Und ihre Nachkommen sollen davon „unbehelligt“ sein? - Der Verlust an Mentschlichkeit bei den Täter:innen (siehe Beitrag Peter Pogany-Wnendt) – welches Ausmaß hatte er am Ende des NS-Reichs? Und wie ging es damit weiter? Und bei den Nachkommen?
- Viele Formen von Gewalt sind von ehemaligen NS-Täter:innen und weiterhin NS-Identifizierten gegen ihre „eigenen“ Kinder ausgeübt worden: Vernachlässigung, Misshandlungen, sexualisierte Gewalt, Missachtung, massive Abwertungen bis hin dazu, sie als verrückt zu erklären. Dies geschah erst recht, wenn die Eltern das eherne Schweigegebot bedroht sahen. Sich später von solchen Gewalterfahrungen zu lösen, ist für die Nachkommen sehr schwer.
- Täter:innen und NS-Identifizierte haben sich nach 1945 massenhaft als „Opfer“ dargestellt. Diese Täter-„Opfer“-Umkehrung war eines der wirksamsten Verschleierungsmittel gegenüber sich selbst, den Nachkommen und nach außen.
- Und auf gesellschaftlicher Seite hat der „Große Frieden mit den Tätern“, wie Ralph Giordano (1987) es genannt hat, der Vernebelung noch weiteren Schub verliehen.
Was sind Folgen dieser Vernebelungen über die Generationen hinweg? Und dies speziell hinsichtlich möglicher Kontinuitäten von Täterbezügen bei den Nachkommen?
- Wenn jetzt noch, Jahrzehnte später, nach der Wahrheit hinter dem Verschweigen der Vorfahren, also nach ihrer wirklichen Beteiligung gesucht wird, kann sich das überraschend schwierig gestalten. Das gilt mit Blick auf Familie und soziale Umgebung (immer noch: „Nestbeschmutzer“) wie auch das eigene Innenleben. Eindringlich beschrieben ist das in Veronica Frenzels Buch In Eurem Schatten beginnt mein Tag (2022).
- Bei vielen von denen, die voll Abscheu auf die NS-Zeit blicken, besteht untergründig gleichwohl eine Befürchtung, sie könnten irgendwie als „nazihaft“ dastehen, sich als „Erben“ ihrer Eltern oder Großeltern „verraten“.
- Immer wieder haben NS-Überlebende wie der ehemalige Dachau-Häftling Max Mannheimer den Nachkommen versichert, natürlich seien nicht sie schuld. Aber sie seien verantwortlich, dass so etwas nie wieder geschehe. Das ist eine wichtige Klarstellung. Allerdings, wie weit reicht sie als Beruhigung?
- Denn: Gibt es nicht doch so etwas wie eine Übermittlung von „Täterhaftigkeit“? Dieses Wort kam Jürgen in den Sinn, als es Anfang der 2000er Jahre immer mehr um das (wichtige) Thema der Kriegskinder ging, dabei aber nur ihre Traumatisierungen angesprochen wurden, nicht jedoch die andere Seite, also eine mögliche Weitergabe von Täterhaftem. Als er das auf einer Expertentagung vortrug, kam es zu einer extrem polarisierten Diskussion zwischen „enthusiastischer Zustimmung“ und rigoroser Ablehnung, etwa mit dem Argument eines deutschen Professors, das Wort „Täterhaftigkeit“ gebe es nicht im Duden.
- Aber, bei Licht betrachtet, geht eine entscheidende Frage doch dahin, ob und wie viel von der gigantischen Nazi-Gewalt auf uns Nachkommen, wie auch immer, übergekommen ist, wie wir damit umgehen, was wir davon eventuell weitertragen.
- Täterhaftigkeit heute, wie lässt sich das fassen? Jürgen hat es damals beschrieben als „psychische Dispositionen oder erhöhte Verhaltenswahrscheinlichkeiten, in labilen Situationen wie Partnerschaftskrisen, Konflikten mit pubertierenden Kindern oder in der Unüberschaubarkeit hochkomplexer Arbeitsprozesse im Zweifelsfall nicht – mit Lévinas (1992) zu sprechen – das Antlitz des anderen wahrzunehmen, sondern gerade daran vorbei zu schauen und den Mitmenschen aufs Spiel zu setzen“ (Übermittlung von Täterhaftigkeit an die nachfolgenden Generationen. In Radebold u.a.: Trangsgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten, 2008, S. 157).
- „Es handelt sich hier um eine Mischung von vielleicht allgemein menschlichen, dabei auch spezifisch bürgerlichen Tendenzen der Gewaltsamkeit mit der im NS-Reich praktizierten beispiellosen Gewalt und Vernichtung“ (ebda.).
- Gerade in Familien aus den „besseren Kreisen“ kann es besonders schwer sein, den Schleier von Biederkeit und „Normalität“ zu durchdringen, mit dem Kontinuitäten zur NS-Gewalt verborgen wurden und werden.
- Die Wege der Aufnahme von Täterhaftem bei den Nachkommen sind vielfältig. Insbesondere sind hier zu nennen:
- Unbewusste Identifikation mit den Aggressoren bzw. mit der Täterseite in den Eltern und sonstigen Bezugspersonen
- Unbewusste Loyalitäten gegenüber den Vorfahren – an sich ein völlig alltäglicher und notwendiger Vorgang zwischen den Generationen, aber als Folge des NS-Reichs oft kontaminiert mit der NS-Gewalt (Näheres siehe Jürgen Müller-Hohagen (2001): Seelische Weiterwirkungen aus der Zeit des Nationalsozialismus – zum Widerstreit der Loyalitäten. In Kurt Grünberg und Jürgen Straub: Unverlierbare Zeit, S. 83-118)
- Komplizenschaft über Generationen (Jürgen Müller-Hohagen 1993)
- Wendung der internalisierten Gewaltbezüge gegen sich selbst (selbstschädigendes Verhalten, Depressionen, Angstzustände, psychosomatische Beschwerden, Autoimmunerkrankungen – alles Vermutungen, denen jeweils näher nachzugehen wäre)
- Wendung der internalisierten Gewaltbezüge gegen Sündenböcke: Rassismus, Antisemitismus, weitere Formen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (immer hier die große Frage, welche Rolle untergründige Kontinuitäten von damals spielen können – aber als Möglichkeit daran zu denken, das ist der entscheidende Punkt)
- Typisch für viele Familien ehemaliger Nazis waren nach 1945 Aufspaltungen unter den Nachkommen: Die einen (in der Regel die Mehrheit) hielten den Eltern die Stange, andere (meist nur eine Person) scherten aus. Kontinuitäten zu den Täterbezügen von damals können auf beiden Seiten bestehen, also bei den Angepassten als auch den Abweichlern bzw. Ausgestoßenen. Doch die Folgen unterscheiden sich, insbesondere ob die Richtung von Aggressionen nach außen oder nach innen geht.