Vater und Sohn: Kassel und Haifa; Deutschland und Israel

Benyamin Maoz

Rede zur Präsentation des Buches:

Hans Mosbacher, ein glücklicher Jude.

Von Kassel nach Haifa

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister der Stadt Kassel, sehr geehrter Euroregio Verlag. liebe Familie, Freunde, Bekannte, liebe Eva Schulz-Jander, sehr geehrte Damen und Herren,

ja , da steh ich nun im Kassler Rathaus und spreche in einer Zeremonie zu Ehren meines Vaters Hans Mosbacher.

In dem großen Rathaus, vor dem ich als Kind eine ziemliche Angst gehabt habe, so wie ich Angst vor vielen offiziellen großen Gebäuden hatte. Z.B.: das Polizeipräsidium im Königstor, die (früheren) Türme der Martinskirche, die wir auf dem Weg durch die Untere Königstraße zur damaligen Synagoge plötzlich in einer Seitenstraße erblickten. Diese Gebäude erlebte ich als bedrohend, weil sie für mich als jüdisches Kind die gefährliche antisemitische Atmosphäre demonstrierten. Hitler hat ja auf den breiten Treppen dieses Rathauses eine Rede gehalten; im Polizeipräsidium wurde mein Vater durch die Gestapo 1937 im Polizeigefängnis in einer Einzelzelle eingesperrt, als man 1937 die jüdische Loge (Bnei Brit) auflöste.

Immer wenn ich nach Kassel komme, lebe ich in zwei Welten: einerseits in der Gegenwart, in den Beziehungen zu Freunden, in manchen Vorträgen, die ich für die Christlich-Jüdische Arbeitsgemeinschaft, für die Franz-Rosenzweig-Gesellschaft und für die Kassler Universität im Laufe der Jahre gehalten habe. Auch in den wunderschönen Parkanlagen Wilhelmshöhe und Aue, in den fantastischen Rembrandt- und Frans-Hals-Kunstsammlungen.

Andererseits  lebe ich in der Vergangenheit. Wenn ich zum Beispiel durch die Königstrasse gehe, dann sehe ich vor mir die vielen früheren jüdischen Geschäfte so wie: Tietz, Löser, Gumpert, Schuh-Baum, ?die Dame? usw.

Wenn ich im Ratskeller essen gehe, denke ich immer daran, dass dies eines der sehr wenigen Restaurants war, welche bis 1937 Juden zugelassen haben und wo ich als Kind mit meinen Eltern manchmal essen ging.

Bis vor einigen Jahren hatte ich noch einen einzigen Verwandten in Kassel, den ich aber vor dem Krieg und vor unserer Auswanderung leider  nicht gekannt hatte: Zahnarzt Rolf Kahn, der so genanter Halbjude war und mit dem  ich u. a. Erinnerungen an unsere gemeinsame Familie austauschen konnte.

2.

In solch einer „leeren“ Situation sucht man sich oft eine Art Pseudo-Verwandte. In meinem Fall war das Herr Wolfgang Prinz, der die Geschichte der Kassler Juden in der Nazizeit erforscht und aufgeschrieben hat. Bis ich merkte, dass dies eine Pseudo-Beziehung war, die plötzlich abgebrochen wurde.

Ich freute mich sehr, als ich vor einigen Jahren einen Sohn der besten Freunde meiner Eltern in Kassel traf, ich meine Herrn Heinz Ehrenberg, der in der Nähe von Eschwege wohnt und regelmäßig zu meinen Vorträgen nach Kassel kam.

Als ich 1969 zum ersten Mal nach dem Krieg wieder nach Kassel fuhr, fragte ich Leute im Zug, ob dieser bis zum Hauptbahnhof durchfährt. Wir kamen ins Gespräch, und ich erzählte, dass ich hier geboren bin und zum ersten Mal wieder hier herkomme. Die hessischen Bürger gaben mir freundliche Auskunft, aber sagten anschließend ziemlich taktlos: ?Dann kommen bei Ihnen sicher die Heimatgefühle wieder zurück.? Das war natürlich nicht so, es kam eher ein Gefühl von Trauer und Sehnsucht; aber auch ein Gefühl von Stolz, dass ich als überlebender Jude, aus Israel, als ein Tourist, nach 32 Jahren auf Besuch nach Kassel komme. Es ist ein sehr merkwürdiges Gefühl, das Hermann Hesse so benannte: ?Ins eigene Haus, unbeachtet, durch die Hintertüre hineinzukommen.?

Als wir noch in Kassel wohnten, in der Sophienstraße 5, bekamen wir Besuch von Walter Katz. Er war ein Kassler Jude, der schon 1934 mit Frau und Kindern nach Palästina ausgewandert war und in Jerusalem lebte. Er kam 1936 als palästinensischer Staatsbürger, also aus Eretz Israel, mit einem palästinensischen (englischen) Pass, braungebrannt, nach Kassel, um seine Mutter zu besuchen (die leider später umgekommen ist). Er kam als Tourist und musste sich vor nichts fürchten. Ich fand das wunderbar. Seitdem identifiziere ich mich stark mit dem zionistischen Prinzip, dass Juden ihr eigenes Land haben müssen und ihre eigene Sprache und Kultur; als solche können sie dann fremde Länder als gleichberechtigte Gäste besuchen und dort Beziehungen anknüpfen. Diesen Weg konnte ich Gott sei Dank in meinem Leben  auch gehen.

Ich habe meine frühe Kindheit im Rahmen des damaligen Kassler Judentums verbracht in einer wohlhabenden, gebildeten und kulturliebenden Familie und ihrem Freundeskreis. Dieses Milieu wird ja von Eva Schulz-Jander in dem Buch über meinen Vater deutlich und mit vielen Farben beschrieben.

Es gab damals weniger als 3000 Juden in Kassel (in meiner Phantasie waren es viel mehr). Die meisten gehörten zur oberen Mittelschicht und nahmen sehr aktiv an dem Kultur- und Kunstleben der Stadt teil. Man ging oft in die damals sehr gute Oper, in Konzerte, ins Theater, in Vorträge, Museen und Ausstellungen. Man war Mitglied von kulturellen und gesellschaftlichen Organisationen, nicht nur von jüdischen. Man feierte Familienfeste mit Gedichten und Aufführungen, humoristisch, ironisch und witzig, auf einem hohen kulturellen Niveau. Man machte schöne Ausflüge und Reisen usw.

3.

All das lief nach 1933 noch einige Zeit weiter, u.a. im Rahmen des ?Kulturbundes? der Juden in Deutschland, den die Nazis befohlen hatten, nachdem es für Juden verboten war, ins Theater zu gehen und weiter am öffentlichen Kulturleben teilzunehmen. Einer der wenigen Säle, die Juden noch mieten konnten, war der Morhart-Saal in der Morhart-Bibliothek. Hier gab es ab und zu lokale Vorstellungen, aber auch Auftreten von jüdischen Künstlergruppen aus ganz Deutschland, so wie die kleine Oper und das kleine Orchester des Kulturbundes, die u.a. die leichte Oper ?Der Barbier von Bagdad? aufführten. Die Künstler wohnten bei Kassler Juden, auch bei uns.

Dieses war übrigens der Kern des ?Palestine Orchestra?, das durch Hubermann 1936 in Tel Aviv gegründet und im Eröffnungskonzert durch Toscanini dirigiert wurde. Es ist heute das Israel Philharmonic Orchestra.

Warum erzähle ich Ihnen das und was hat es mit dem Buch über meinen Vater zu tun?

Ich möchte Ihnen zeigen, dass wir die Kultur und die Tradition des damaligen deutschen Judentums, inklusive des Kassler Judentums, in Palästina und Israel  fortgesetzt haben (nicht nur dort, auch in den USA und in anderen Ländern, aber im Zusammenhang mit Hans Mosbacher reden wir hier über Palästina-Israel und vor allem über Kassel und Haifa). Ich will ihnen auch andeuten, was Kassel alles  verloren hat, nachdem die so aktive und rege jüdische Bevölkerung nicht mehr da war. Sie war Gott sei Dank zum größten Teil ausgewandert. Die Dagebliebenen allerdings, so wie meine Großmutter Clara Mosbacher und meine Lehrer Bacher und Kleeblatt, sind deportiert und ermordet worden.

Ja, die Juden, nicht nur die Kassler, haben in Deutschland im 19. Jahrhundert (vor allem nach 1848) und dann bis 1933 eine Art jüdisch-deutsche Symbiose aufgebaut, die aber auf einer Illusion beruhte und einseitig war. Sie haben in sich die positiven großen Werte der deutschen Philosophie, Literatur, Musik und Kunst und die europäischen Werte der Demokratie, des Humanismus und Liberalismus aufgenommen. Diese Werte und Ideale sind auch unsere geworden. Ich persönlich erlebe sie als ein Fundament meiner Identität. Die meisten Juden hatten sich enorm assimiliert und angepasst, bis sie die großen Werte des Judentums kaum noch kannten.

Diese Elemente der  europäischen Kultur haben wir bei unserer Auswanderung nach Palästina-Israel mitgenommen. Wir haben sie niemals vergessen und haben sie auf unsere Weise weiter gepflegt und entwickelt. Aber, wir sind gleichzeitig zum Judentum zurückgekehrt, zur jüdischen Geschichte und Kultur, zur hebräischen Sprache und Literatur.

Die Geschichte meines Vaters ist eine Illustration dieses Prozesses. Er (und auch meine Mutter) ist sein Leben lang der deutschen Literatur (den Klassikern und den moderneren Schriftstellern) treu geblieben, hat die ?Kleinkunst? und den Stil der Familienfeiern, so wie diese in Deutschland üblich waren, fortgesetzt und weiter  entwickelt. Diese ?Geburtstagstradition? lebt auch in der Gegenwart weiter in der jüngeren Generation unserer Familie, zwar nicht mehr in deutscher Sprache, wohl aber im Stil.

4.

Auch mein Vater Hans Mosbacher hat versucht, das Judentum wieder neu zu lernen, durch viele Vorträge, Kurse und liberal-religiöses Familien- und Gesellschaftsleben.  Er  hat sich sehr aktiv mit der biblischen Archäologie des Heiligen Landes beschäftigt. Ich bin ihm auf diesem Weg gefolgt und war in Palästina auf einem humanistischen Gymnasium und lerne bis heute weiterhin jüdische Geschichte, jüdische Literatur und Talmud. Gleichzeitig versuche ich, den europäischen Humanismus in Israel, auch in der heutigen schweren politischen und gesellschaftlichen Situation, aktiv zu vertreten.

Ich versuche auch hier in Deutschland (u.a. in Kassel), sowohl im Kreise meiner Freunde als auch in der Psychosomatischen Medizin, in der Balint-Arbeit, der  Entwicklung der Arzt-Patienten-Beziehung und der Salutogenese von dem, was in der jüdisch-israelischen Gesellschaft und Kultur geschaffen wurde, zu vermitteln, um zu einer kreativen Zusammenarbeit beizutragen.

Die räumliche Entfernung zwischen Deutschland und Israel macht nur vier bis fünf Flugstunden aus. Ich meine aber die kulturelle Brücke, den Dialog.  Es ist in dem heutigen Fall die Brücke zwischen Kassel und dem Herkules ? und Haifa und dem Karmel, aber es ist auch, im weiteren Sinn, die Brücke zwischen manchen deutschen Klassikern des 18.,19. und 20. Jahrhunderts, über Fontane, Thomas Mann bis zur modernen deutschen Nachkriegsliteratur ? und der Hebräischen Bibel, Talmud, Buber, Rosenzweig, Bialik, Agnon, Amos Oz und anderen. Die  Brücke eines Dialoges und nicht eine illusionäre Symbiose. Ein Dialog, der trotz allem, was 1933 bis 1945 geschehen ist, doch wieder möglich ist.  Es ist nicht nur die Brücke zwischen zwei Städten und zwei Ländern, sondern auch die Brücke zwischen den Generationen. Ich vermittele meinen deutschen Kollegen und Freunden nicht nur israelische Kultur, sondern auch etwas von dem Geist des nicht mehr bestehenden deutschen Judentums und dessen Blüte in den Jahrzehnten vor 1933.

Diese Brücke muss gepflegt werden, darum bin ich so froh darüber, dass das Buch über meinen Vater Hans Mosbacher einen wichtigen Stein hierzu beiträgt.

Wenn alle Deutschen und Israelis so gut zusammen arbeiten würden wie Eva Schulz-Jander und ich, würde die Welt bald erlöst werden…!

Vielen Dank!

Benyamin Maoz

Kassel 18.6.08.