„Politische“ und „private“ Gewalt

Jürgen Müller-Hohagen

Es ist absurd, dass wir uns in der Bundesrepublik Deutschland im allgemeinen Verständnis himmelweit entfernt fühlen von staatlichem Terror und systematischer Folter, nur fünfzig Jahre, nachdem in diesem Land beispiellos gefoltert, gemordet und vernichtet wurde.
Zwar leben wir jetzt in einem demokratischen Staatswesen, aber dessen Funktionsträger haben sich zunächst massenhaft aus ehemaligen Nazis rekrutiert. Daher spricht vieles schon bei oberflächlichem Betrachten dafür, auch im „normalen“ Alltag, in Schulen, Firmen, Vereinen und Familien, Kontinuitäten zu vermuten.

Darauf weisen auch die vorläufigen Ergebnisse meiner Forschungen hin, die sich mit Aus- und Fortwirkungen der Nazizeit bei meiner Klientel einschließlich der jeweiligen Familien befassen. Der Terror ist unter anderem im Schoße deutscher Familien nach 1945 weitergegangen. Dafür stehen Zeugnisse verschiedener Klientinnen und Klienten. Viele Täter und Tatbeteiligte haben weitergemacht nach der „Stunde Null“, sind dabeigeblieben, Schwächere und Wehrlose „fertigzumachen“, vorausgesetzt, sie konnten es ohne Gefahr von Entdeckung und Bestrafung tun. Und was bot sich dafür besser an als die „eigenen Kinder“? Wo sonst außer in der Folter sind Menschen so schutzlos ausgeliefert? Und wo sonst ist die Gefahr des entdeckt Werdens geringer? Angefangen bei verbaler Beschämung und subtiler Schuldzuschiebung über rigoroses „Strafen“ und willkürliches Entziehen finanzieller Versorgung bis hin zu Kindsmisshandlung, Kindesraub, sexuellem Missbrauch und im wahrsten Sinne des Wortes regelrechter Folter sind mir Grausamkeiten und Verbrechen in deutschen Familien nach 1945 bekannt geworden, die in Zusammenhang stehen mit zuvor eingeübten Gewalttätigkeiten. Dabei reichen die Kontinuitäten noch weiter zurück als bis 1933.

Für die NS-Täter im engeren Sinne und für die vielen „Volksgenossen“, welche die Verbrechen wie auch immer mittrugen, ist die biologische Uhr allmählich abgelaufen. Ich kenne genug Stimmen von Älteren und auch von Jüngeren, die der Hoffnung Ausdruck geben, damit würden sich „die Probleme“ weitgehend von selbst lösen. Dieser psychologisch völlig unfundierte, naive Glaube hat sich aber mit den Ausschreitungen gegen Ausländer, Juden, Behinderte als Illusion herausgestellt. Immer wieder stehen wir im Alltag „fassungslos“ vor offensichtlichen Kontinuitäten von Gewalt über mehrere Generationen hinweg.

Dass entsprechende Zusammenhänge bestehen, lässt sich vielfach feststellen. Dies im einzelnen zu begreifen, ist für mich nicht möglich ohne Mittel der Psychoanalyse, insbesondere, wenn ich an die Internalisierung gerade auch der problematischen elterlichen Anteile durch ihre Kinder und Kindeskinder denke, an die Identifikation mit den Aggressoren, an die Macht von Delegationen, Loyalität und Wiederholungszwang.

Beim Blick auf die NS-Zeit und ihre Folgen ist mir darüber hinaus ein Konzept wichtig geworden, das ich als Identifikation mit der Macht bezeichne. Ich beschreibe damit Formen von Einswerden mit gar zu irdischen „höheren Mächten“, die auch heute noch unser Zusammenleben erheblich bestimmen und in denen sich geschichtliche Traditionen besonders niederschlagen. Es handelt sich um die unbewusste Übernahme von Macht-Ohnmacht-Verhältnissen in die Innenwelt von Kindern, Jugendlichen und auch Erwachsenen.

Dabei schaue ich nicht nur auf gewalttätige Jugendliche, möglichst noch weit von München entfernt in den neuen Bundesländern, sondern richte den Blick stärker auf die „besseren Kreise“. Diese Perspektive hat viel damit zu tun, dass ich seit 1986 in einem „Sozialen Brennpunkt“ arbeite, nämlich dem Stadtviertel von München mit dem schlechtesten Ruf. Bei allem Einblick in die dort zutage tretende Gewalt sind mir die beklemmendsten Einzelheiten eher aus „besseren“ Familien bekannt geworden, und zwar sowohl bezüglich des sexuellen Missbrauchs als auch der Fortführungen von NS-Gewaltmustern.

Auch wenn Erfahrungen eines einzelnen Psychotherapeuten keine Aussagen darstellen über die zahlenmäßige Häufigkeit der hier angesprochenen Zusammenhänge, so können sie doch wichtige Anregungen zum genaueren Hinschauen geben. Und das gilt nicht nur mit Blick auf den sexuellen Missbrauch. Ich verfüge über eine Reihe von Hinweisen, dass an NS-Verbrechen Beteiligte nach 1945 ihr verbrecherisches Tun in vielfältiger Weise innerhalb der Familie fortgesetzt haben: Kindsmisshandlung, Kindesraub, Betrug, Zerstörung der Existenzgrundlagen, versuchter oder ausgeführter Totschlag und Mord – alles extrem tabuierte Felder, in denen viele Mystifikationen stattgefunden haben. Sie reichen von unbewussten Vorgängen des Verleugnens und Verdrängens über Formen der Verschleierung bis hin zu völlig bewusster und planvoll eingesetzter Lüge und einem Leben in Lüge. Die Opfer sind meist in für sie tragischer Weise darin einbezogen.
Ich fordere dazu auf, sowohl in der psychologischen Arbeit als auch im Alltag Fortführungen von NS-Gewaltsamkeit konkreter überhaupt für möglich zu halten. Insbesondere aus Familien, die bei Nachbarn, Kollegen, Kirchengemeinden oder Sportvereinen als vorbildlich, als musterhaft gelten, sind mir die grausigsten Einzelheiten bekannt geworden. Kontraste zwischen äußerem Schein und innerer Wirklichkeit hat es natürlich „immer schon“ gegeben, auch anderswo auf der Welt. Doch wenn diese „allzumenschlichen“ Tendenzen sich mit sehr realen Interessen verbinden, dass nichts bekannt werden solle über eigene Verwicklungen in die Nazi-Verbrechen – dann ist dies ein Boden, auf dem Sündenböcke entstehen.

Die „Kunst“, auf andere zu projizieren, sie zutiefst zu verwirren, sie in ihren eigenen Wahrnehmungen zu verunsichern und von sich selbst und den eigenen Machenschaften abzulenken, kann hier äußerst entwickelt sein. Mit Derartigem in der Arbeitswelt konfrontiert zu sein, ist schon abgründig genug. Um wie viel mehr gilt dies für Kinder in ihrer totalen Abhängigkeit von den Eltern.

Es ist kaum möglich, im üblichen Sinne die Richtigkeit solcher Behauptungen zu beweisen. Mehrere Bereiche sind angesprochen, für die Tabuierung und Dunkelziffern typisch sind, für sexuellen Missbrauch ebenso wie für das wirkliche Familienleben von Nazi-Tätern nach 1945, für Kindsmisshandlung ähnlich wie für heimlichen Mord. Diese Bereiche sind bereits konstituiert durch Verschleierung, und an sie zu rühren, weckt vielfältige Abwehr.

Wenn ich hier von Verleugnung spreche, so habe ich zugleich das angesprochene mögliche Kontinuum bis hin zur absichtsvollen Lüge mit im Blick.

Das Hauptergebnis meiner Forschungen ist nicht, hier und da in ein paar Familien Kontinuitäten der Gewalt gefunden zu haben, die mit Fort- und Auswirkungen der Nazizeit (oder auch noch davor) zu tun haben. Das Hauptergebnis ist vielmehr die ständige Entdeckung von Verleugnung.

Eigentlich ist es unglaublich, dass die bisher aufgestellten Behauptungen überhaupt erläutert werden müssen. Vieles ist doch, ein wenig an psychologischer Kenntnis vorausgesetzt, fast schon selbstverständlich. Dass Gewalt weiterwirkt, wieso muss das in Deutschland und anderswo in der Welt immer wieder von neuem „entdeckt“ werden? Wieso immer wieder diese „Fassungslosigkeit“, wie zum Beispiel in den letzten Jahren gegenüber dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien? Oder zum 8. Mai 1995 die Aufregung derer, die meinten, dem Leiden auf deutscher Seite sei nicht gebührende Aufmerksamkeit gewidmet worden. Auch rechtsradikale Tendenzen in den neuen Bundesländern waren längst vor 1989 bekannt. Vieles wird gewusst und doch beiseitegeschoben. Auch das gehört zur Verleugnung.

Ein Bereich, der in besonderem Maße weggeschoben und verleugnet wird, ist die verbreitete Realität der Folter in unserer Welt, gerade in diesem Jahrhundert der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation. Dass wir uns in Deutschland diesbezüglich in einem „Zustand der Unschuld“ wähnen, ist absurd angesichts des nur einige Jahrzehnte zurückliegenden beispiellosen Folterns. Doch auch das heutige Foltern in weiten Teilen der Welt wird bei uns wenig wahrgenommen, insbesondere wenn Rüstungsproduktion „Arbeitsplätze sichert“.

Der uruguayische Psychoanalytiker Marcelo Viñar schreibt: „Heute weiß ich, dass diese drei Monate (von Haft und Folter; Hinzufügung M-H) mein Leben und meine Wahrnehmung der Welt zutiefst verändert haben – auch wenn ich nur einem Teil des üblichen Martyriums ausgesetzt war und mein anschließender Gefängnisaufenthalt relativ kurz dauerte (…)
Heute, 23 Jahre danach, weiß ich, dass diese Zeit des Terrors, die nicht länger als drei Monate währte, mein persönliches Schicksal und das meiner Familie nachhaltig bestimmt hat – zunächst im traumatischen Wiedererleben der kurzen Zeitspanne des Martyriums und später im unaufhörlichen Versuch, etwas daraus zu machen. Heute weiß ich: Schon das Wenigste ist fürchterlich und bleibt eingebrannt für immer.“ (1)

Im Bericht eines argentinischen Arztes, 1978 in Buenos Aires von der Polizei verschleppt, weil er einem Nachbarschaftsrat angehörte, der sich für die baurechtliche Regelung einer Siedlung einsetzte, heißt es:

„Die Folterer und Wächter behandelten uns für gewöhnlich, als wären wir Aussätzige. Wir waren wie Gegenstände – unnütze und lästige Gegenstände. Mit ihren eigenen Worten: ?Du bist Scheiße. Seit wir Dich hierher gebracht haben, bist Du ein Nichts. Außerdem erinnert sich schon niemand mehr an Dich. Du existierst nicht. Wenn jemand Dich sehen würde, was niemand tut – glaubst Du, dass man Dich hier suchen würde? Wir sind alles für Dich. Die Gerechtigkeit sind wir. Wir sind Gott.'“ (2)

Der Mensch als Aussätziger, oder, noch eine Dimension weiter, der Mensch schon überhaupt nicht mehr als Mensch. 1947 zog der französische KZ-Überlebende Robert Antelme die folgenden Schlussfolgerungen.

„Wir glauben nicht, dass die Helden, die wir aus der Geschichte oder der Literatur kennen, ob sie nun die Liebe, die Einsamkeit, die Angst vor dem Sein oder Nichtsein, die Rache aus sich herausgeschrien oder ob sie sich gegen Ungerechtigkeit oder Demütigung erhoben haben, sich jemals dazu veranlasst sahen, als einzigen und letzten Anspruch ein starkes Gefühl der Zugehörigkeit zur Gattung Mensch zum Ausdruck zu bringen. Zu sagen, wir hätten damals das Gefühl gehabt, als Angehöriger der Gattung in Frage gestellt zu werden, mag wie ein Rückblick, wie eine nachträgliche Erklärung anmuten. Aber es war genau das, was wir damals unmittelbar und ganz schmerzhaft erlebten, und es war übrigens auch das, genau das, was die anderen wollten.“ (3)

Vergötterung, wie zuvor bei den Folterern des argentinischen Arztes, kann auch bei sexuellem Missbrauch angezielt sein. Die Familie einer Klientin, über die ich in Geschichte in uns berichtet habe (4) , und vor allem sie selbst vergötterten ihren Vater bis zu seinem Tod in höherem Alter. Solche Vergötterung auf Seiten der Misshandelten und Missbrauchten ist eine der furchtbarsten und hartnäckigsten Folgen der Gewalt. „Der Vater bewohnt mich!“ Alles mache sie wie er, stammelte die Klientin voll Erschütterung in einem späten Stadium ihrer Therapie. Sie brach in Tränen aus. Nichts sei ihr Eigenes. Er sei ihre Klugheit, ihr Witz, ihr Charme, einfach alles. Sie sei nur er.
Sie hatte also unter seiner extremen Gewalt alles Eigene weitgehend aufgeben, zumindest es tief verbergen müssen. Jetzt allerdings war sie gerade dadurch, dass ihr dies aufging, über die Vergötterung hinaus.

„In Wirklichkeit ist sie doch aufgewachsen mit dem Teufel im Leib,“ dieser Satz, ausgesprochen von Marcelo Viñar im fernen Montevideo während einer internationalen Tagung über politische Gewalt, bei der ich über die Arbeit mit dieser Klientin berichtet hatte, fasst zusammen, was viele Kinder von Nazis und anderen politischen Gewalttätern von klein auf in sich aufgenommen haben – und was die Folteropfer in sich aufnehmen sollen.


Wenn ich Berichte aus KZs, aus südamerikanischen Folterzentren und von sexuellem Missbrauch nebeneinander stelle, so behaupte ich damit natürlich nicht auf jeder Ebene eine Übereinstimmung. Ich bin einer Meinung mit Hermann Langbein, dem Autor von Menschen in Auschwitz, wenn er schreibt:

„Das Böseste, das Unvergleichliche des Nationalsozialismus war: (…) Die weitaus größte Zahl der Opfer des Nationalsozialismus wurde ermordet, nicht weil sie Feinde oder vermutliche Feinde waren, nicht weil sie irgendwie eine Machtausweitung gefährdet hätten, wenn sie in ihren Ländern Positionen hatten, die weitaus überwiegende Mehrheit der Opfer des Nationalsozialismus waren Menschen, deren einzige Schuld darin bestanden hat, dass sie auf die Welt als Kinder von Juden oder Zigeunern gekommen waren. Das ist unvergleichlich.“ (5)

Doch vergleichbar ist auf dieser Linie: Die Unterworfenen werden nicht – wie grausam auch immer – für begangene „Missetaten“ bestraft, sondern angezielt wird ihre Zerstörung als Person. Hier jedenfalls sehe ich zentrale Gemeinsamkeiten zwischen sexuellem Missbrauch, Folter und KZ-Haft. Bei Ursula Wirtz heißt es: „Inzest ist ein Angriff auf die Identität und das Menschsein.“ (6)

„Man bleibt für immer von einer Art Tätowierung gezeichnet, so wie Kafka es in ‚Die Strafkolonie‘ beschrieben hat, eine Tätowierung, die in Körper und Seele eingraviert ist“, so schreibt Viñar über die Folgen der Folter. (7)

Und Jan Philipp Reemtsma drückt es so aus: „Die Folter (…) ist die totale Herrschaft des Menschen über den Menschen. Die Folter ist der größte Schrecken, den der Mensch für den Menschen bereithält – nicht der Tod, der sowieso irgendwann kommt (…) Anders die Folter: Sie ist nicht ?unvorstellbar‘, auch wenn das, was real in ihr geschieht, alle Vorstellungen überbieten und immer undarstellbar sein mag. In ihr kommen die Ängste, die jeder kennt, da jeder einen Körper hat, mit all den Bildern zusammen, die eine geängstigte Menschheit für ihre conditio nur je gefunden hat.“ (8)

Darauf weist auch Hermann Langbein hin, der im KZ Auschwitz der Leitungsgruppe des Widerstands angehörte: „Ich darf ein Wort eines Überlebenden von Auschwitz, Jean Améry, zitieren. Er schrieb: ?Wir fürchteten uns nicht im Lager, dass wir sterben. Wir fürchteten uns, wie werden wir sterben.‘ Es gab verschiedene Formen, zu sterben. Und die böseste Form war die der Folter, die angewandt wurde, wenn man unbotmäßig war.“ (9)

„Unbotmäßig zu sein“, dies ist eine „Bedrohung“ der Mächtigen, der sie mit allen Mitteln Einhalt gebieten, die Nazis damals, die südamerikanischen Diktatoren und ihre Helfershelfer der siebziger und achtziger Jahre, aber auch diverse biedere Familienväter, die sexuelle Gewalt anwenden, um sich mächtig zu fühlen.

In seinem Buch Folter schreibt Jan Philipp Reemtsma:
„Das Herrschen selbst – und damit alle Ziele, die in Herrschaftsverhältnissen verfolgt werden, vom Mehrwert bis zum sexuellen Missbrauch – braucht die Folter als Horizont von Möglichkeit. Es ist sehr einfach zu erklären: Wer herrscht, muss sicher sein, dass ihm gehorcht wird, dass nicht etwa freiwillig ein Bund mit ihm geschlossen sei (…) Solange die Möglichkeit der Freiwilligkeit nicht widerlegt ist, bleibt Herrschaft in den Augen derer, die herrschen, unsicher, kündbar. In der Logik von Herrschaft (liegt) die Folter als immer gegenwärtiger Horizont von Möglichkeit (…) (Es) ließe sich vielleicht zeigen, dass die Gesten der Herrschaft auch ihre eigene Geschichte zitieren, dass sie so oft ohne die Folter auskommen, weil die Drohung verstanden wird. Damit diese aber immer verständlich bleibe, ist es notwendig, dass anderswo mit dem Zitat sich nicht begnügt wird.“(10)

Hier überlappen sich in der Ausübung massiver Gewalt „Politisches“ und „Privates“, und dies ungeachtet aller sonstigen Unterschiedenheit, die zu betonen in diesem Zusammenhang unerlässlich ist.


Der Terror wird meist anderswo festgemacht, zeitlich weit zurück im Nazi-Reich oder gar im Mittelalter, räumlich distanziert in Afrika oder Lateinamerika. Vieles wäre zu verhindern gewesen, hätten Menschen sich nicht dermaßen sorglos auf die „Normalität“ ihrer Lebensverhältnisse verlassen und Terror allenfalls als Problem der anderen angesehen. In eben dieser Weise hatte auch Marcelo Viñar bis Anfang der siebziger Jahre in Uruguay gelebt, in der „Schweiz Südamerikas“ -bis, wie er es ausgedrückt hat, „der Hurrikan der Geschichte“ ihn mit sich gerissen hat. Seine Schlussfolgerungen gelten nicht nur für dort, und sie gelten nicht ausschließlich mit Blick auf politische Gewalt im üblichen Sinne, sondern in mancher Hinsicht auch für den „privaten“ Bereich und vor allem für deren Verzahnung.

„Jede Person ist, unabhängig davon, ob sie es weiß oder nicht und ob sie damit einverstanden ist oder nicht, Zusammenfassung und Spiegel der Geschichte ihrer Zeit und ihres Ortes. Sie lebt dies in der außerordentlichen Spannweite dessen, wozu wir Menschen fähig sind, im Guten wie im Schlechten. Sie ist gewöhnlich und zugleich besonders in ihren vielfältigen Ausdrucksformen, sei es als Einzelsubjekt der Familien- oder persönlichen Geschichte oder als Staatsbürger, der ein Atom der Geschichte eines Landes oder der Welt bildet. Subjekt einer persönlichen und einer kollektiven Geschichte zu sein, dies ist eine Schnittlinie, aus der niemand entkommen kann.“ (11)

Solche Schnittlinien sind es, denen ich mich in fragmentarischer Weise anzunähern suche, Schnittlinien des „Politischen“ und „Privaten“ bei den Tätern, Schnittlinien damit auch für die Opfer: „Die Zeit des Horrors ist abgrundtief und zerstörerisch. Paradoxerweise ist sie gleichzeitig aber auch unauslöschlich; sie bildet eine Grundlage und erzeugt Wirkungen, die das Leben des Subjekts und vielleicht auch das seiner Nachfahren bestimmen.“ (12)

Anmerkungen

  1. Viñar, Marcelo (1996): Gedächtnis und Zukunft. Über den Einfluss des politischen Terrors auf das kollektive und das individuelle Bewusstsein, S. 111. In: Müller-Hohagen, Jürgen (Hg.): Stacheldraht und heile Welt. Historisch-psychologische Studien über Normalität und politischen Terror. Tübingen
  2. Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.) (1987): Nie wieder. Ein Bericht über Entführung, Folter und Mord durch die Militärdiktatur in Argentinien. Weinheim, S. 24
  3. Antelme, Robert (1987): Das Menschengeschlecht. Als Deportierter in Deutschland. München, S. 12
  4. Müller-Hohagen, Jürgen (1994, 20022: Geschichte in uns. Seelische Auswirkungen bei den Nachkommen von NS-Tätern und Mitläufern. München, Berlin, S. 191-210
  5. Langbein, Hermann (1996): Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Schlussfolgerungen für die Nachgeborenen, S. 11. In: Müller-Hohagen, Jürgen (Hg.): Stacheldraht und heile Welt, S. 10-20
  6. Wirtz, Ursula ((1989): Seelenmord. Inzest und Therapie. Zürich, S. 9
  7. Viñar aaO, S. 124
  8. Reemtsma, JanPhilipp (Hg.) (1991): Folter. Hamburg, S. 13
  9. Langbein aaO, S. 16
  10. Reemtsma aaO, S. 34
  11. Viñar aaO, S. 111f
  12. ebd., S. 112