Widerstand – beiseite geschoben nach 1945
Jürgen Müller-Hohagen
Die Last der Geschichte bei den Opfern: Wenn dieses Thema überhaupt in den Blickwinkel gerät, so denken wir an das Leiden. Wir stehen erschüttert, beschämt, erschreckt vor den Überlebenden und ihren Nachkommen, versuchen, uns einzufühlen, mitzufühlen – und sind damit möglicherweise nicht weit davon entfernt, sie mit einem Mitleid zu bedenken, das sie letztlich nicht ernstnimmt oder sie gar zum „psychiatrischen Fall“ zu erklären tendiert. So etwas aber wäre eine Anmaßung und ist für viele von ihnen unerträglich. Ich denke an die erregte Äußerung eines Überlebenden in einer Diskussion während einer internationalen Tagung zu diesem Themenkreis in Hannover 1989: „Soll Hitler denn doch noch über uns gesiegt haben?“
Diese Frage ist wohl verkürzt und tendiert dazu, das fortdauernde Leiden und die eventuell damit verbundenen psychischen Störungen zahlreicher Überlebender zu verleugnen oder ihre Schwierigkeit, sich den Kindern mitzuteilen. Aber sie verweist zugleich auf eine umgekehrte Verleugnung, auf die Verleugnung des Widerstands, auf die Verleugnung der Anstrengungen und Erfolge auf Seiten der Verfolgten und so mancher stillen Helfer, den Dehumanisierungsbestrebungen der Nazis menschliche Solidarität entgegenzusetzen und eine bessere Welt aufzubauen.
Ich denke hier nicht zuerst an den 20. Juli und die Weiße Rose, sondern an die vielfältigen Handlungen von Solidarität und Menschlichkeit in den Lagern wie auch im Alltag. Dieser Widerstand rettete unzähligen Menschen das Leben. Er reicht von damals bis heute. Er macht einen wesentlichen Teil der Nachwirkungen der Nazi-Zeit aus und stellt die andere Seite des Leidens dar, die andere Seite dieser extremen Last. In ihm liegt ein großes Vermächtnis.
Erst seitdem ich in der vor den Toren Münchens liegenden idyllischen Kleinstadt Dachau wohne, wo ich einige Jahre im Vorstand des zeitgeschichtlichen Vereins „Zum Beispiel Dachau“ mitgearbeitet habe, weiß ich genauer, wie sehr das KZ dieses Namens, das auf der ganzen Welt Synonym ist für die Nazi-Verbrechen, zugleich auch ein Ort der mitmenschlichen Solidarität und des organisierten Widerstands war.
Wirklich verstehen kann ich bis heute nicht, wieso dieser Widerstand, der ebenfalls in der Stadt selber zu finden war, nach 1945 über lange Jahre in Vergessenheit geriet. Dabei hatte es in Dachau sogar einen gemeinsamen Aufstand von Häftlingen und Bürgern gegeben, durch den die Todesmärsche gestoppt und die Stadt davor bewahrt werden konnte, im letzten Augenblick noch zur Festung erklärt und dann von den Amerikanern zerschossen zu werden. Meinte man später, sich dieses Widerstands schämen zu müssen?
Gerade wegen dieser Tendenz zum Vergessen des Widerstands halte ich fest: Er hat damals unzähligen Verfolgten das Leben gerettet. Und nach 1945 sind Europa und die Welt in Politik und Kultur geprägt von Menschen, die, wie es in Dachau hieß, den „Geist der Lagerstraße“, das solidarische Zusammenhalten über weltanschauliche, „rassische“, konfessionelle Grenzen hinweg, erfahren haben. Kurt Schumacher, der spätere SPD-Vorsitzende, wurde während seiner langen Haft in Dachau von kommunistischen Kameraden vor dem sicheren Tod bewahrt. Die deutsch-französische Aussöhnung ist von solchen Erfahrungen einer tiefen Gemeinsamkeit wesentlich bestimmt worden.
Gewalt macht besonders dann Schule, wenn wir die Menschen vergessen oder gar als „vaterlandslos“ verdächtigen, die Widerstand geleistet und Zeichen von Solidarität gegeben haben. Ohne sie zu heroisieren und damit von uns fernzuhalten – können wir denn nicht von ihnen lernen, uns mit ihnen verbunden fühlen und damit bei allem Erschrecken vor der Last der Geschichte etwas Kraft bekommen, um dann das jeweils uns Mögliche zu tun für eine humanere Welt?
Und ich möchte ausdrücklich an die vielen Kommunisten erinnern, die solch ein Vorbild gaben. Im KZ Dachau waren sie das Rückgrat des Widerstands und damit der Hoffnung unter den Häftlingen. Dies sollten wir nicht vergessen.