Identität und Verbundenheit

Jürgen Müller-Hohagen

Frau Sartorius (1) berichtete von einem kürzlich erlebten Zustand von Depersonalisation. Sie hatte sich selbst ganz fremd gefühlt und spürte neben sich eine Leiche. Aus dem Zusammenhang der Therapiestunde heraus vermutete ich zunächst, die Leiche stehe für den Vater. Doch dann kam mir der Einfall, es verhielte sich genau umgekehrt: Sie selber war die Leiche, und der Vater war in ihr, lebte in ihr und durch sie. Sie brach in Tränen aus. „Das stimmt. Der Vater bewohnt mich!“ Alles mache sie wie er, nichts sei ihr Eigenes. Er sei ihre Klugheit, ihr Witz, ihr Charme, einfach alles. Ihre Brüder hätten sich schon früh von ihm distanzieren können. Sie aber sei nur er.

Natürlich hatte dieser Ausbruch, wie so vieles in Therapien, einen dialektischen Charakter. Indem sie so weit gekommen war, ihr Verschmolzensein mit dem Vater wahrzunehmen und mit einem anderen Menschen zu teilen, war sie zugleich darüber hinaus, war sie erstmals in ihrem Leben wirklich abgetrennt von ihm.

Doch beleuchtet diese zentrale Erfahrung ihrer Therapie stellvertretend für viele andere Menschen in Deutschland, wie zutiefst fragwürdig das ist, was wir für unsere Identität halten. Dass wir Menschen hier in vielen Illusionen leben, ist ein Grundtatbestand unseres Lebens, doch vor dem Hintergrund der Nazi-Verbrechen und der konkreten Verstrickung der eigenen Familie hat dies oft eine extreme Zuspitzung.

Zum Thema unserer menschlichen Identität haben mich vor Jahren schon die Ausführungen des nordamerikanischen Psychoanalytikers Heinz Lichtenstein beeindruckt. Sie halfen mir, mich von solchen Illusionen zu lösen. „Ich bin der ich bin“ gebe es nämlich für uns Menschen überhaupt nicht, sondern das gelte allein für Gott.(2) Der Mensch sei vielmehr in seiner Identität grundlegend auf andere hin ausgerichtet. Er komme nicht mit einer feststehenden Identität auf die Welt, er übernehme sie aber auch nicht direkt von der Mutter oder seiner Umgebung insgesamt. Denn dafür müsste er diese ja abgegrenzt wahrnehmen können, und dies würde bereits die Ausbildung seiner Identität, seiner Abgegrenztheit, voraussetzen. Narziss in der griechischen Sage verliebte sich nicht in einen anderen und auch nicht in sich selber, sondern in sein Spiegelbild. „Der Spiegel bedeutet ein drittes Element zwischen dem Liebenden und seinem Objekt.“(3)

Diesen Spiegel nun begreift Lichtenstein als „das sensorische Ansprechen des Säuglings auf die mütterliche libidinöse Bezugnahme“ („the sensory responsiveness on the part of the infant to the mother’s libidinal attachment“).(4) Er spricht hier die völlige Verschränkung zwischen Kind und Mutter (bzw. menschlicher Umgebung allgemein) an, von „Innen“ und „Außen“.
Neuere Untersuchungen (siehe besonders Stern, Lichtenberg) haben genau das Gegenteil der lange Zeit für wissenschaftlich gesichert geltenden Auffassungen ergeben, denen zufolge der Mensch in den ersten Monaten seines Lebens in einer selbstgenügsamen, nach außen hin abgeschirmten Welt existieren würde. In Wirklichkeit sichert es von vornherein unser Überleben, wenn wir die soziale Umwelt in feinster Weise wahrnehmen und mit ihr in Kontakt sind. Hier, auf dieser tiefen Ebene, sind wir anderen Menschen entscheidend verbunden. Das gehört zu den Grundbedingungen menschlichen Lebens.

Das Zitat von Lichtenstein ist mir noch aus einem weiteren Grund so wichtig. Dort wird nämlich der Säugling nicht als passives Objekt seiner Umgebung verstanden, sondern ebenso entscheidend wie deren Einflüsse ist sein „sensorisches Ansprechen“.

Die Bedeutung dieser Linie, unseres Eigenanteils und unserer (relativen) Autonomie betone ich besonders angesichts der heiklen Frage nach den eigenen Nazi-Bezügen unter uns Nachkommen. Es kann sich immer wieder herausstellen, dass wir in erheblichem Maße „sie“ sind, manches an Loyalitätsbindung an die Nazi-Vorfahren aufweisen, Anteile von ihnen haben, auch solche, die man vielleicht als Nazi-Anteile bezeichnen kann. Aber wir müssen nicht nur „sie“ sein, wir haben auch anderes in uns, wir haben unsere eigene Aktivität, können eigene Bezüge herstellen, haben Freiheit.

Diese Spannung zwischen Loyalität und Autonomie hat für Menschen wie Frau Sartorius eine zugespitzte Bedeutung.

Psychotherapie in Deutschland steht in meiner Sicht in verschärfter Weise vor der Aufgabe, zwischen solchen verschiedenen Anteilen unterscheiden zu helfen.

Und dazu wiederum ist eine wichtige Voraussetzung, mehr über Identität im Lichte von Verbundenheit nachzudenken – aber einer Verbundenheit, die nicht festbindet.

Anmerkungen

  1. So habe ich eine Klientin genannt, über die ich in Geschichte in uns ausführlich berichtet habe (S. 191-210).
  2. Lichtenstein, Heinz (1961): Identity and Sexuality. A Study of their Interrelationship in Man. Journal of the American Psychoanalytic Association, Jg. 9, S. 203
  3. Lichtenstein, Heinz (1964): The Role of Narcissism in the Emergence and Maintenance of a Primary Identity. International Journal of Psychoanalysis, Jg. 45, S. 51
  4. ebda.