Warum ich Zygmunt Baumans Analysen so schätze

Jürgen Müller-Hohagen

1992 kamen in deutscher Fassung zwei Bücher eines Autors heraus, der mir bis dahin kein Begriff war: Dialektik der Ordnung (1) sowie Moderne und Ambivalenz (2) des polnisch-britischen Soziologen Zygmunt Bauman.

In den folgenden Jahren habe ich verschiedene Passagen aus diesen Werken immer wieder zitiert, in meinem Buch Geschichte in uns sowie in einer ganzen Reihe von Vorträgen und Buchartikeln .
Warum so oft, lässt sich fragen.
Weil ich die Analysen hervorragend finde.
Weil sie auf der soziologischen Ebene mit Verschiedenem korrespondieren, was mir in der praktischen Arbeit in Beratung und Psychotherapie begegnet, wenn es um Verstrickungen mit dem Nationalsozialismus geht, und weil sie mir helfen, neue Verstehenshorizonte zu gewinnen.
Weil, und dieser Gedanke entstand aus dem Reflektieren auf das „chronische“ Wiederholen des Zitierens, weil irgendwie die Resonanz ausbleibt auf diese ungewöhnlich nüchternen und bestürzenden Analysen.


Dialektik der Ordnung trägt den Untertitel Die Moderne und der Holocaust und beginnt mit einem Vorwort, das alleine schon etwas Unerhörtes hat in seiner untrennbaren Verbindung von Klarblick und Selbstreflexion, wie sich das bei arrivierten Wissenschaftlern selten so findet. Es beginnt wie folgt:

„Nachdem Janina ihre Erinnerungen an die Zeit im Ghetto und im Untergrund niedergeschrieben hatte, dankte sie mir, ihrem Ehemann, für das Verständnis während ihrer langen Abwesenheit in den zwei Jahren, in denen sie an ihrem Buch (3) schrieb und die sie in eine Welt zurückführte, die ?nicht die seine‘ war. Mir war es gelungen, dem Schrecken und der Unmenschlichkeit zu entkommen, als sie in die fernsten Winkel Europas vordrangen. Und wie viele meiner Zeitgenossen unternahm ich später niemals den Versuch, das Geschehene zu ergründen, sondern überließ es den Alpträumen und den niemals heilenden Wunden jener, die ihre Angehörigen verloren hatten oder ihrer Persönlichkeit beraubt worden waren.“ (4)

Bauman deutet hier an, wie wichtig das innere Nachforschen seiner Frau für ihn dabei war, überhaupt seine Verleugnung zu bemerken. Und tatsächlich ist Janina Baumans Buch von einer Genauigkeit und unaufdringlichen Intensität, dass mir seine Beschreibungen und die daraufhin in mir entstandenen Bilder vor Augen standen, als ich nicht lange danach den Film Schindlers Liste sah, der zum Teil an denselben Orten spielt, doch verschiedene Szenen kamen mir daraufhin unauthentisch und verharmlosend vor.

Wie so oft war es wohl auch beim Ehepaar Bauman: Der Mann schwebt in höheren Sphären, während die Frau es vielleicht nach langer Zeit schafft, das in ihr Eingeschlossene zum Ausdruck zu bringen. Dann aber war in diesem Fall das Besondere, dass er hinhörte, nachdachte und Konsequenzen zog.

„Natürlich wusste ich genug über den Holocaust. Das Bild, das ich davon hatte, entsprach dem vieler anderer aus meiner Generation oder dem der Jüngeren: ein entsetzliches Verbrechen, das die Bösen an den Unschuldigen verübt hatten (…) Meine Vorstellung vom Holocaust war wie ein gerahmtes Bild an der Wand, das von seiner Umgebung sauber getrennt ist und mit dem Rest des Mobiliars nichts zu tun hat.“ (5)

Aber jetzt änderte sich etwas.
„Nach der Lektüre von Janinas Buch wurde mir bewusst, wie gering mein Wissen war – oder besser, wie wenig ich nachgedacht hatte. Mir dämmerte, dass ich überhaupt keine Vorstellung hatte von jener Welt, die ?nicht die meine war‘.“ (6)

„Ich begann mich dafür zu interessieren, was Historiker, Sozialwissenschaftler und Psychologen über den Holocaust herausgefunden hatten. Ich stöberte in Bibliotheksregalen, die ich nie zuvor gesehen hatte. Der Faktenreichtum der vielen historischen Studien und die Seriosität der theologischen Traktate, auf die ich stieß, war außerordentlich. Es gab sogar einige wenige sorgfältig recherchierte und gut beschriebene soziologische Untersuchungen.“ (7)

Und dann folgt eine der wichtigsten Passagen:
„Die Analyse der von Historikern zusammengetragenen Fakten ließ nur eine Schlussfolgerung zu: Der Holocaust war kein Bild an der Wand, sondern ein Fenster, durch das Dinge sichtbar wurden, die normalerweise unentdeckt bleiben. Und was zum Vorschein kam, geht nicht nur die Urheber, die Opfer und die Zeugen des Verbrechens etwas an, sondern ist von größter Bedeutung für alle, die heute leben und auch in Zukunft leben wollen. Der Blick durch dieses Fenster verstörte mich zutiefst, aber je bedrückter ich wurde, desto mehr wuchs in mir die Überzeugung, dass es äußerst gefährlich ist, diesen Blick nicht zu tun.“ (7)

Was zeigt sich nun so Bestürzendes, wenn man durch dieses Fenster zu schauen wagt?
„Die Wahrheit ist, dass die einzelnen ‚Elemente‘ des Holocaust – die ihn in ihrer Summe erst möglich machten – durchaus normal waren“. (9)
Es ist die Verbindung des Holocaust zu dem, was wir als Normalität ansehen.

Als zentrale Linie durchzieht sein Buch Dialektik der Ordnung die Erkenntnis, dass die Vernichtung der europäischen Juden trotz der Singularität und Monstrosität dieses Verbrechens nicht herausfiel aus dem historischen Prozess abendländisch geprägter Zivilisation. Man kann nicht sagen, die Entwicklung sei völlig zwangsläufig darauf zugelaufen, aber man kann sich auch nicht „beruhigen“ damit, von einem „bloßen Rückfall in die Barbarei“ zu sprechen. Vielmehr gilt es, von historischer, soziologischer wie auch psychologischer Seite jene Elemente näher zu untersuchen, jene Vorbedingungen, jede für sich nicht übermäßig bedeutsam, in ihrem Zusammenkommen aber von furchtbarer Wirkung, die das möglich werden ließen. Geschichte wiederholt sich nicht als 1:1-Abbildung von etwas Vergangenem, aber Elemente können fortdauern oder irgendwann entstehen und zu neuen (und dabei teilweise doch wieder alten?) Konfigurationen zusammengefügt werden.

„Die Faktoren selbst, die den Holocaust aller Wahrscheinlichkeit nach historisch erst ermöglichten, haben sich nur wenig verändert – oder zumindest können wir uns dessen nicht sicher sein.“ (10) Die Gefährdungen liegen also nicht nur in der Vergangenheit.

Eine weitere Passage:
„Schließlich ist es nicht der Holocaust, dessen Monstrosität wir nicht zu begreifen vermögen, es ist die westliche Zivilisation überhaupt, die uns seit dem Holocaust fremd geworden ist – und das zu einem Zeitpunkt, als sicher schien, dass sie beherrschbar, dass ihre innersten Mechanismen und ihr gesamtes Potential durchschaubar seien; zu einem Zeitpunkt, als diese Zivilisation einen weltweiten Siegeszug antrat.“ (11)

Hier wird also unsere Zivilisation insgesamt angesprochen, wird sie als zutiefst problematisch gekennzeichnet, problematisch aber in erster Linie nicht wegen verschiedener furchtbarer „Bilder an der Wand“, sondern in ihrer Grundstruktur, in ihrer Normalität.
„Damit es zur Vollstreckung eines Genozids kommt, müssen also durchaus bestimmte Bedingungen erfüllt sein, ohne dass man diese im einzelnen aber als außergewöhnlich bezeichnen könnte.“ (12)

Wenn das Schreckliche und das Normale nicht so sauber voneinander zu trennen sind, wie wir das gerne hätten, was entscheidet dann darüber, welche Richtung eingeschlagen wird? Was setzt jene Faktoren, jene Elemente so in Bezug zueinander, dass es zur Entwicklung des typisch modernen Genozid kommt, von dem das 20. Jahrhundert voll war seit dem Völkermord an den Armeniern? Was ist der „Sinn“ in diesem „Wahnsinn“? Baumans Antwort zielt genau in die entgegengesetzte Richtung zur verbreiteten Annahme, darin ausschließlich einen „Rückfall in die Barbarei“ zu vermuten.

„Der moderne Genozid verfolgt ein höheres Ziel. Die Beseitigung des Gegners ist ein Mittel zum Zweck, eine Notwendigkeit, die sich aus der übergeordneten Zielsetzung ergibt. Dieses Ziel ist die Vision einer besseren, von Grund auf gewandelten Gesellschaft. Der moderne Genozit ein Element des ?Social Engineering‘, mit dem eine soziale Ordnung realisiert werden soll, die dem Entwurf einer perfekten Gesellschaft entspricht (…) Das ist die Vision des Gärtners, nun allerdings über die ganze Welt gehegt (…) Dieser Gärtner hasst das Unkraut, das Hässliche inmitten des Schönen, die Unordnung inmitten der Ordnung (…) Nicht als solches muss das Unkraut ausgerottet werden, sondern weil es die schöne Ordnung des Gartens verhindert (…) Der moderne Genozid, wie die moderne Kultur allgemein, ist eine gärtnerische Tätigkeit, sozusagen eine unangenehme Pflicht innerhalb der gesamtgestalterischen Aufgabe (…) Alle Vorstellungen von einer Gesellschaft als Garten definieren bestimmte soziale Gruppen als Unkraut: Unkraut muss ausgesondert, gebändigt, an der Ausbreitung gehindert werden, von der Gesellschaft ferngehalten, und wenn all dies nichts nützt, vernichtet werden.“ (13)

In seinem anderen Buch drückt Bauman es so aus:
„Die Moderne machte den Genozid möglich, als sie das zweckgerichtete Handeln von moralischen Zwängen emanzipiert hatte. Die Moderne ist zwar nicht die hinreichende Ursache des Genozids, aber ihre notwendige Bedingung. Die Fähigkeit, menschliches Handeln in großem Maßstab zu koordinieren, eine Technologie, die es erlaubt, in großer Entfernung von dem Objekt des Handelns wirksam zu agieren, eine minutiöse Arbeitsteilung (…), das Anhäufen von Wissen, das dem Laien unverständlich ist und damit die Autorität der Wissenschaft erhöht (…), sind die integralen Attribute der Moderne. Aber sie bedingen ebenso die Ersetzung der Moral durch instrumentelles Handeln (…) und ermöglichen damit den Genozid, sofern Kräfte existieren, die entschlossen sind, ihn durchzuführen. Mit anderen Worten, mittels einer radikalen Schwächung moralischer Hemmungen und der Durchführung großangelegter, von moralischer Beurteilung unabhängiger (…) Projekte stellt die Moderne die Mittel für den Genozid bereit.“ (14)

Die folgende Feststellung klingt auf den ersten Blick sarkastisch:
„Das Lob der Garten- und Heckenscheren wurde nicht nur von intellektuellen Träumern und selbsternannten Wortführern der Wissenschaft gesungen. Es durchdrang die moderne Gesellschaft und blieb der wohl hervorstechendste Zug ihres kollektiven Geistes. Politiker und Praktiker des ökonomischen Fortschritts stimmten in den Chor ein.“ (15) Dies gelte nicht nur für Hitler-Deutschland und Stalins Sowjetunion.

Auch Bauman wiederholt sich, variiert dieses unerhörte und unerhört wichtige Thema in verschiedenen Akzentuierungen:
„Zum einen: Der moderne Genozid ist kein unkontrollierter Gefühlsausbruch und kaum jemals ein absichtsloser, völlig irrationaler Akt. Er ist, ganz im Gegenteil, eine Übung in Sozialtechnologie und in der, mit Hilfe künstlicher Mittel vorgenommenen, Schaffung jener ambivalenzfreien Homogenität, die die schmutzige und undurchsichtige soziale Realität selbst nicht hervorgebracht hat (…)
Zum anderen: Alle Visionen einer künstlichen Ordnung sind notwendig (in ihren praktischen Konsequenzen, wenn auch nicht immer in ihrem ursprünglichen Entwurf) inhärent asymmetrisch und führen auf diese Weise zu einer Dichotomie. Sie spalten die menschliche Welt in eine Gruppe, für die die ideale Ordnung errichtet werden soll, und eine andere, die in dem Bild und der Strategie nur als ein zu überwindender Widerstand vorkommt – als das Unpassende, das Unkontrollierbare, das Widersinnige und das Ambivalente. Dieses Andere, das aus der ?Schaffung von Ordnung und Harmonie‘ hervorgegangen ist, das Überbleibsel des klassifikatorischen Bestrebens, wird aus jenem Universum der Verpflichtung herausgeworfen, das die Mitglieder der Gruppe bindet und ihr Recht anerkennt, als Träger moralischer Rechte behandelt zu werden.“ (16)

Angesichts der Häufung solcher Variationen zum beklemmenden Thema erheben sich vielleicht Fragen. Ist das alles nicht viel zu abstrakt, zu weit entfernt von den „wirklichen Menschen“? Wo bleibt die Psychologie, wo bleiben die Täter? „Hitler und seine Hintermänner“, „Hitlers Krieger“, „Hitlers Frauen“? Alle diese schauerlich schrecklichen Psychopathen, Monster, Verbrecher – zum Glück weit weg von uns, die wir uns verdienstvoller Weise solche Sendungen bei Chips und Bier, Käse und Wein mal anschauen?

Eben gerade darum geht es bei Bauman, nämlich dass entgegen der allgemeinen Annahme und auch dessen, wie Bauman selber es so lange gedacht hatte (17), nicht irgendwelche psychopathischen Charakterstrukturen entscheidende Vorbedingungen von Genoziden sind, sondern im Gegenteil die Normalität ganz normaler Menschen und von modernen Arbeitsabläufen innerhalb einer hochentwickelten Arbeitsteilung.

Auf der psychologischen Ebene lässt sich zum Beispiel sagen:
„Das Böse braucht keine fanatisierten Anhänger und auch kein begeistertes Publikum. Allein der Selbsterhaltungstrieb genügt.“ (18)
Das Böse fällt nicht heraus aus der Normalität.

Warum sind mir diese Analysen des Soziologen Zygmunt Bauman so wichtig geworden?

Sie helfen mir innerhalb meiner psychologischen Erforschung von seelischen NS-Auswirkungen, manches, was mir dort begegnet, eher zu begreifen, manches auf den ersten Blick nur monströs Wirkende und doch von „normalen“ Leuten Begangene, diese Nähe von Kultur und bürokratisch organisiertem Massenmord, von Normalität und Terror. Sie helfen mir, bisher verborgene Zusammenhänge zu erkennen.
Meine Forschungen sind durchzogen von dieser Thematik, von der beklommenen, gar zu berechtigten und zugleich fast schon hoffnungslosen Frage: Wie konnten und können Menschen anderen Menschen so etwas antun? Nicht Monster, sondern normale Menschen anderen, ebenfalls normalen Menschen?

Gegenüber dieser Frage versagen die üblichen psychologischen Konzepte und Perspektiven, wirken naiv, verharmlosend, banal. Es kann doch nicht wirklich entscheidend gewesen sein, ob Hitler, Himmler und die Millionen „kleiner Rädchen“ jeweils eine unglückliche Kindheit hatten. Die individuelle Sozialisation innerhalb der Familie ist kein hinreichender Erklärungsgrund, wenn es um die Organisierer und Durchführer des Holocaust geht.

Die Ausführungen des Soziologen Bauman können für dieses psychologische Thema natürlich nicht direkt eine Antwort liefern, wohl aber den Horizont, nämlich mit dem Bild des Gärtners und seiner Vision.

Dann lautet die psychologische Frage: Wie gestaltet sich die Sozialisation von Menschen, von durchaus normalen Menschen zu Teilhabern an dieser gärtnerischen Vision?


Genau das ist die Frage, die ich mir wieder und wieder in der Arbeit mit einer Klientin gestellt habe, die wegen ihrer familiären Nazi-Verstrickungen in Therapie gekommen war. Über diese Arbeit habe ich ausführlich in Geschichte in uns berichtet. (19)

Hier war mir hinsichtlich des Vaters von Frau Sartorius, wie ich sie genannt habe, der enge Zusammenhang von politischer und privater Gewalt besonders aufgegangen, von Beteiligung am Vernichtungsprogramm der Nazis bis zum massiven sexuellen Missbrauch der Tochter.
Und dieser Mann war ganz offensichtlich keine „Bestie“ im üblichen Sinne, sondern ein hochgebildeter Akademiker, der nach 1945 in wichtiger Position am Aufbau des neuen Staates beteiligt war und dementsprechend geehrt und von seiner Familie, insbesondere der Tochter, geradezu „vergöttert“ wurde.

Um jemanden wie ihn psychologisch begreifen zu können, reichen die üblichen Kategorien meiner Disziplin nicht, vielmehr sind mir da Baumans Analysen außerordentlich wichtig geworden. Denken und Handeln von Leuten wie dem Vater von Frau Sartorius lassen sich nicht über das Bild der „primitiven Bestie“ verstehen, jedoch über das „Modell des Gärtners“.

Menschen wie sie lerne ich in meiner Arbeit nicht persönlich kennen. Sie würden nie einen Psychologen aufsuchen oder zumindest sich dort ganz unauffällig geben. Aber erfahren habe ich viel über sie, durch Berichte anderer, ihrer Kinder, ihrer Partnerinnen oder Partner, von Menschen also aus dem Bereich des „Unkrauts“, die mir eine Welt des Horrors vermitteln und dadurch, sozusagen als Gegenbild, eine Kenntnis jenes Universums einer spezifisch gnadenlosen „Perfektion“.

Ausgehend von Erfahrungen wie diesen, meine ich, dass es „ungeahnt“ viele Menschen gab und gibt, die mehr als „nur“ identifiziert mit der Macht sind, sondern verschmolzen mit der „Vision des Gärtners“. Sie sind eins geworden mit bestimmten Kräften der Moderne, die eine spezifische Form von „perfekter“ Gestaltung der Gesellschaft erreichen wollen und dabei jeden Preis in Kauf nehmen, besonders wenn andere ihn zu zahlen haben.

Nazi-Verbrechen, Folter, sexueller Missbrauch – die zunächst nur an der Oberfläche wahrgenommenen Ähnlichkeiten reichen tiefer. Analysen wie die von Bauman und therapeutische Erfahrungen wie die mit Frau Sartorius legen solche Schlüsse zumindest nahe. Starres Schwarz-Weiß-Denken, eine Dichotomie des „Sauberen“ und des „Schmutzigen“, Anpassungs- und Schweigegebote, tödliche Drohungen, willkürliches und völlig überzogenes „Strafen“, eine Ideologie der Einheitlichkeit und Widerspruchslosigkeit – all das findet sich in den Berichten über südamerikanische Militärdiktaturen, gilt für das Nazi-Reich sowieso und herrscht andererseits in „privaten“ Verhältnissen wie denen von Familie Sartorius.

Mir scheint, zwischen totalitären Praktiken und massiver Gewalt in der Familie bestehen enge Affinitäten als Strukturen der Gehirnwäsche, der völligen Umdefinition von Wirklichkeit, Machtausübung des Täters, Eindressieren von Unterwerfung beim Opfer, Identifikation auf dessen Seite mit der Macht bis hin zum Einswerden mit den Mächtigen und mit deren „Visionen des Gärtners“.

Dies näher zu erforschen, sind Aufgaben für eine Psychologie, die ebenfalls den Holocaust nicht mehr als ein Bild unter anderen an der Wand begreift, sondern als Fenster auf die aktuelle Wirklichkeit, wie sie nun einmal ist. Das bekannte Milgram-Experiment, auf das Bauman länger eingeht (20) , ist ein solcher Ansatz.


Auf einen weiteren Punkt, der mir bei Bauman sehr wichtig ist, möchte ich abschließend aufmerksam machen, nämlich auf die Bedeutung der ethischen Dimension.

Das immer noch gängige Bild, dass es letztlich „Bestien“ waren, zumindest Verbrecher, welche den Holocaust erzeugt haben, geht implizit von der selbstverständlichen Annahme aus, diese Typen seien bar jeder moralischen und ethischen Verankerung oder, wie es heute so gerne heißt, ohne Werteorientierung gewesen. Baumans Analysen legen uns genau das Gegenteil nahe. Denn er spricht von der Vision des Gärtners, und darin steckt nun gerade viel von Werteorientierung.

Das ist etwas, was nicht gerne gehört wird.
Aber es ist um so wichtiger.
Hier liegen Abgründe, die völlig aktuell sind.
Das Böse ist eben nicht säuberlich getrennt vom Reich der Werte, sondern oft genau im Gegenteil bis zur Unkenntlichkeit damit verwoben.

Hier liegen weiterhin große Aufgaben nicht nur für Philosophie und Theologie, sondern ebenso für Psychologie in ihren Praxisfeldern und ihren theoretischen Konstruktionen.

Wenn wir Einsichten wie die von Bauman ernstzunehmen versuchen, dann verharren wir nicht beim Blick auf die Vergangenheit, so wichtig er auch ist, sondern deren Untersuchung verbindet sich mit der beklemmenden Frage, wieweit solche Elemente auch heute bestehen, in Deutschland und anderswo.


Dann erst kann der letzte Punkt, der mir bei Baum sehr bemerkenswert ist, zum Tragen kommen. Er legt nicht nur, so wichtig das ja ist, eine nüchterne Beschreibung der „Vision des Gärtners“ und ihrer Folgen vor, sondern spricht auch die andere Seite an, die Seite der menschlichen Freiheit, nämlich „dass der Selbsterhaltungstrieb die moralische Pflicht nicht notwendigerweise besiegt (…) Die Tatsache, dass einige wenige widerstanden, entkräftet die Logik der Selbsterhaltung und beweist, dass es immer Entscheidungsmöglichkeiten gibt.“ (21)

Anmerkungen

  1. Bauman, Zygmunt (1992): Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust. Hamburg
  2. Bauman, Zygmunt (1992a): Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg
  3. Janina Bauman (1986): Als Mädchen im Warschauer Ghetto. Ein Überlebensbericht. München
  4. Zygmunt Bauman (1992), S. 7
  5. ebd., S. 7
  6. ebd.
  7. ebd., S. 8
  8. ebd.
  9. ebd., S. 22
  10. ebd., S. 100
  11. ebd., S. 98f
  12. ebd., S. 129
  13. ebd., S. 106f
  14. Bauman (1992a), S. 69
  15. ebd., S. 52
  16. ebd., S. 55
  17. siehe Bauman (1992), S. 7: „Die Welt des Holocaust zerfiel in anomale Mörder und hilflose Opfer und jene, die versucht hatten, den Opfern zu helfen, soweit es eben ging. Nach dieser Vorstellung begingen die Mörder ihre Verbrechen, weil sie Psychopathen waren oder von einer wahnwitzigen Idee besessen.“
  18. ebd., S. 221
  19. Müller-Hohagen, Jürgen (1994, 2002): Geschichte in uns. Seelische Auswirkungen bei den Nachkommen von NS-Tätern und Mitläufern. München, Berlin, S. 191-210
  20. Bauman (1992), S. 166ff
  21. ebd., S. 221