Täter als „Opfer“

Jürgen Müller-Hohagen

Unter den „Mechanismen“, die aus „normaler“ Loyalität, wie sie für menschliches Leben konstituierend ist, Komplizenschaft zwischen Nazi-Eltern und ihren Nachkommen haben werden lassen, nimmt die Selbstdarstellung der Täter als „Opfer“ eine zentrale Position ein.

Begangene Schuld einzugestehen, gehört zum Schwersten im Leben. Und zur Vermeidung solcher Einsicht dient häufig die Umdefinition der Täter zum „Opfer“, sei es zum „Opfer der Umstände“ oder zum „Opfer“ der eigentlichen Opfer. Diese waren dann selber schuld. Diese Täter-Opfer-Umkehrung findet sich nicht nur in Deutschland oder Österreich, aber hier wohl doch in besonderer Weise. Mir selbst ist sie seit längerem im Alltag wie in meiner therapeutischen Arbeit sehr aufgefallen.

Wir Nazi-Nachkommen sind in einer Welt vermeintlicher „Opfer“ aufgewachsen, in einer Welt der falschen Töne.
Eine Frau vom Jahrgang 1915 schrieb an ihre Nichte, die Fragen gestellt hat.

„Von Deinem Standpunkt aus hast Du sicherlich recht mit Deiner Kritik. Unser Handeln und unsere Reaktionen müssen Dir und Deiner Generation vielfach unverständlich erscheinen. Es stimmt schon, dass wir manches verdrängt haben bzw. dass in der ersten Nachkriegszeit die Sorge um das Überleben so sehr im Vordergrund stand, dass die Schrecken der Vergangenheit dahinter zurücktraten. Ich habe ernsthaft versucht, mich mit meiner persönlichen Vergangenheit – BdM, Arbeitsdienst – auseinanderzusetzen, weiß aber aus vielen Gesprächen mit jungen Menschen, dass für sie unsere Beweggründe damals unverständlich sind…“
Dieser Brief steht für Hunderttausende, für Millionen wahrscheinlich.

Die „Schrecken der Vergangenheit“, nur das Erlittene der eigenen Seite, nicht das der ausgeklammerten Verfolgten. Kein Wort über die Opfer.

Ein ehemaliger Waffen-SS-Mann 1991 in einem Brief an seine Tochter. Auch sie hat Fragen gestellt. Die Antwort sieht so aus:
„Es wird immer in Kriegen zu solchen Ausschreitungen kommen – danach gibt es leider immer wieder das ‚Wehe den Besiegten.'“
Ähnlich uneinsichtig äußerte sich ein ehemaliger Wehrmachtssoldat ebenfalls Anfang der neunziger Jahre in einem Brief an mich.
„Ich bin an den sogenannten Quellen der Hölle vorbeigestrichen, ohne zu ahnen, dass es eine solche war. Auch ich glaubte, als Auslandsdeutscher, an Hitler, war ich damals doch jung und unerfahren (…) Ich möchte mir erlauben, Ihnen zu berichten, wie ich, als einer der unmittelbaren Leidtragenden, mit diesem Komplex, dieser seelischen Krankheit fertig geworden bin.“

Auch hier existieren die Nazi-Opfer auf vielen, vielen Seiten nicht.

Diese Art von Verleugnung und Verwirrung haben zahllose Angehörige der Nazi-Generationen gegenüber der Öffentlichkeit verwandt – und im Kontakt mit den eigenen Kindern sowie in Kindergarten, Schule und Ausbildung. Die jüngere Generation nahm schon ab frühestem Alter die verzerrten Berichte der Älteren in sich auf. Deren Erlebnisse in Bombenkrieg und Gefangenschaft, bei Flucht und Vertreibung, mit Hunger und Währungsreform standen im Zentrum der Familienhistorie, vermittelt oftmals in so intimen Situationen wie Zubettbringen und Mahlzeiten.

Die konkrete Beteiligung der Eltern an Nazi-Verbrechen oder deren Billigung blieben damit ebenso außerhalb der Familienkommunikation wie die Leiden der wirklichen Opfer und die Stimmen der Überlebenden, also außerhalb der Konstruktion von Wirklichkeit.
Dann suchen auch die Nachgeborenen das Schweigen.

Susanne Menzel, frühere Praktikantin an meiner Beratungsstelle, schrieb ihre Diplomarbeit in Psychologie zum Thema Offener Dialog oder Familiengeheimnis? Kommunikation in der Familie über die Nazizeit. Sie suchte Interviewpartner, fragte in ihrem liberalen Freundeskreis – und erhielt lauter Absagen.

„Bald wurde mir jedoch klar, in welch paradoxer Situation ich mich befand: Wie kann man Dialogpartner zu einem Thema finden, das ja gerade in der Unfähigkeit zum Dialog besteht?? Wo immer ich um ein Interview bat, bekam ich herbe Ablehnung zu spüren. ‚Wieso denn gerade ich?‘ – ‚Ich habe nichts damit zu tun!‘ – ‚Meine Eltern kann ich damit nicht belasten.‘ So und ähnlich lauteten die Antworten.“

„Meine Eltern kann ich damit nicht belasten“, in diesem Satz steckt die ganze Verdrehung der Wirklichkeit: die Nachkommen als Täter, wenn sie Aufklärung vorantreiben wollen, die Nazi-Eltern als die „Opfer“. Und die wirklichen Opfer bleiben wieder einmal außerhalb des Blickfeldes.

Die Folgen auf der psychologischen Ebene kann ich hier nur kurz benennen. Ich sehe vor allem extreme Loyalität, heftigste Schuldgefühle, dies insbesondere bei Ablösungsversuchen, selbstdestruktive Aktionen, schwere allgemeine Krankheiten, Unfälle, seelische Verstümmelungen, tiefen Verlust an Vertrauen in die Welt und in sich selbst, psychotische Entwicklungen.

Aber ich möchte auch hinweisen auf das Ausleben der Identifikation mit den Aggressoren, Fortsetzung von Tätereinstellungen und -handlungen, Komplizenschaft mit den Nazi-Eltern, und dies auch bei ansonsten liberalen Nachkommen.
Dies ist ein Aspekt, der uns mehr auf das politische Feld führt. Ich gebe dazu zwei Beispiele. Und da ich Selbstreflexion gerade in diesen Bereichen für entscheidend halte, nehme ich sie aus unserem eigenen Teil der sozialen Realität, also aus der wissenschaftlich ausgerichteten Psychotherapie.

So entdeckte ich bei Thea Bauriedl, der Gründerin eines „Instituts für Politische Psychoanalyse“ in München folgende Sätze:
„In dieser Mächtigkeit des einen über den anderen bleibt unbewusst, dass Subjekt und Objekt sich immer in einer gegenseitigen Abhängigkeit voneinander befinden, auch wenn sie diese Gegenseitigkeit nicht wahrnehmen. Sie reagieren auf jeden Fall wechselseitig aufeinander, welche rationale Begründung oder Beschreibung sie ihrer Beziehung auch immer geben. So kann zwar die Mutter ihr Kind verhungern lassen, der KZ-Aufseher seinen Gefangenen töten, und nicht umgekehrt. Und doch sind beide, um wirkliche Befriedigung in ihrer Beziehung zu erfahren, auf den jeweils anderen angewiesen.“

Diffuse Theoriestücke einer „Täter-Opfer-Dialektik“ werden hier in absurder Weise auf die KZ-Situation angewandt. Wie kann man überhaupt auch nur den Ausdruck „wirkliche Befriedigung“ in diesem Zusammenhang gebrauchen? Die Autorin ist mehrfach wegen ähnlich
problematischer Äußerungen kritisiert worden , doch zeigt sie keine Einsicht, sondern veröffentlicht weiter Passagen von ähnlichem Zuschnitt.

1989 fand in München ein großer psychologischer Kongress statt. Er hatte den anspruchsvollen Titel: „Psychologie für Menschenwürde und Lebensqualität“. Die Organisatoren, ein österreichischer und zwei deutsche Psychologen, schrieben in ihrem Grußwort einige Sätze, die engagiert klingen, deren Sinn aber schwer zu entschlüsseln ist:

„Psychologie (…) mahnt die ethische Frage in den Mittelpunkt des menschlichen und gesellschaftlichen Lebens. Jedes Handeln muss zum ethischen Handeln reifen, weil es kein menschliches Handeln ohne seelische Anteile geben kann (…) Die Geschichte lehrt uns, daran zu zweifeln, dass Menschen absichtlich gut oder schlecht sind.“

Der letzte Satz, eingefügt in einen Zusammenhang dunkler Bedeutungshaftigkeit, ist eine Entschuldigung aller Täter dieser Welt. „Die Geschichte lehrt uns, daran zu zweifeln, dass Menschen absichtlich gut oder schlecht sind.“ Was ist dies anders als eine pauschale Freisprechung von Schuld und Verantwortung? Und die Realität dieser Tagung entsprach genau dieser Interpretation. 300 Beiträge wurden gehalten. Darunter waren nicht mehr als drei Vorträge über Folgen des Nationalsozialismus, und dies unter jenem anspruchvollen Tagungstitel, und das in Deutschland. Und selbst dafür stand nur das Randgebiet der Politischen Psychologie zur Verfügung! Auch diese auffällige Verzerrung sehe ich als eine Auswirkung der Täter-Opfer-Verwirrung an und zugleich als einen Beitrag zu ihrem Fortbestand.

Mit diesen Beispielen, die aus dem für liberal gehaltenen Teil meines Berufsfeldes stammen, möchte ich darauf hinweisen, dass wir nicht nur auf die militanten Rechtsextremisten schauen sollten, wenn wir uns Gedanken über bedrohliche Kontinuitäten in Deutschland und anderswo machen.