Symposium zur Avantgardemusik (Wolfgang-Andreas Schultz)

Symposium im Dachau Institut Psychologie und Pädagogik zum Thema:
Avantgardemusik, Trauma, Perspektive

27. und 28. Februar 2006

Teilnehmende:

  • Prof. Dr. Wolfgang-Andreas Schultz, Musikwissenschaftler und Komponist
  • Prof. Dr. Benjamin Maoz, Tel Aviv, Mediziner, Vizepräsident der Internationalen Balintgesellschaft
  • Ingeborg Müller-Hohagen, Dachau, Vorstand des Montessori Landesverbands Bayern
  • Dr. Jürgen Müller-Hohagen, Dachau, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut

Die Idee zu diesem Symposium entstand aus einem Gedankenaustausch zwischen Wolfgang-Andreas Schultz und Jürgen Müller-Hohagen während der Entstehung des Fachartikels von Schultz zum Thema: Avantgarde und Trauma. Die Musik des 20. Jahrhunderts und die Erfahrungen der Weltkriege („Lettre International“ Nr. 71,  Berlin 2005, im Internet abrufbar unter https://www.wolfgangandreasschultz.de/avantgardedetails.html).

Zielrichtung des Symposiums war es, die hochinteressanten Befunde und Thesen des Artikels mit Einsichten aus anderen Fachgebieten zu vergleichen:

Benjamin Maoz: Familienmedizin in Israel, dies unter besonderer Berücksichtigung der Salutogenese von Antonovsky (an der Entwicklung dieses Konzepts war Maoz maßgeblich beteiligt)

Ingeborg Müller-Hohagen: Montessori-Pädagogik (langjährige Tätigkeit an Montessori-Schulen als Lehrerin und Rektorin)

Jürgen Müller-Hohagen: Psychologische und psychotherapeutische Tätigkeit in einem „Sozialen Brennpunkt“ in München, seit 20 Jahren Erforschung von seelischen Nachwirkungen aus der Zeit des Nationalsozialismus

Einige „Highlights“ aus der intensiven zweitägigen Diskussion:

Schultz: Sein Interesse ist es, als Komponist einen Weg zu finden, der nicht am 20. Jahrhundert und seinen extremen Schrecken vorbeigeht und der andererseits nicht zurückführt zu Brahms.

Maoz: Parallelen zur Abwehr des Traumatischen, wie Schultz es für die Avantgardemusik beschrieben hat, sieht er in der dehumanisierten Medizin, in der Beziehung zwischen Arzt und Patient allenfalls angelernt wird und damit nicht mehr ist als ein „Skill“, eine handwerkliche Fertigkeit, nicht aber Grundlage des Tuns. Er sagt das, ohne die Errungenschaften der Medizin abwerten zu wollen. Ein ganz wichtiger Weg aber ist die Balintgruppenarbeit, die immer noch zu wenig Platz in der Medizin hat, d.h. die methodisch reflektierte Betrachtung der Arzt-Patienten-Beziehung und ihrer Auswirkungen.

Ingeborg Müller-Hohagen: Maria Montessori, die von Haus aus übrigens Ärztin war, hat ganz entscheidende Wege gezeigt und praktiziert, wie aus der Dehumanisierung in der Pädagogik herauszukommen ist: Kraft der Selbstentfaltung, das Kind als Baumeister seiner selbst, göttliche Kraft, vorbereitete Umgebung, nicht alle Kinder machen im gleichen Augenblick das Gleiche (wie im Militär). Eltern suchen für ihre Kinder solche Wege – und dann haben sie große Angst davor. Das „Dritte Reich“ wirkt hier noch fort bis heute. Damals wurden, anders als etwa in Skandinavien, den heutigen „Pisa-Wunderländern“, alle reformpädagogischen Bestrebungen abgeschnitten, wurde gerade gegen Eigenentwicklung, Beziehung, Freiheit in der Pädagogik gearbeitet.

Jürgen Müller-Hohagen: Immer wieder geht es in seiner gesamten Arbeit um Wahrnehmen des Unsagbaren. Insbesondere bei massiven Traumatisierungen im Zusammenhang mit der NS-Zeit fehlen bis heute oft noch die kommunikativen Räume, die aber erst die Voraussetzung sind, damit die Traumatisierungen wahrgenommen und – wenigstens teilweise – überwunden werden können. Anderenfalls wirken sie aus den seelischen Untergründen in das ganze Leben hinein. Das ist oft weitgehend ins Unkenntliche abgesunken, damit aber umso schwerer angehbar. Ist in diesem Zusammenhang die Avantgarde aus Musik, Kunst, Literatur, Wissenschaft hilfreich? Oder bräuchten umgekehrt diese Bereiche von anders woher Impulse, um diese Dimensionen überhaupt wahrnehmen zu können?

Schultz: In der Musik bilden – anders als in Literatur und Kunst – Inhalt und Verfahrensweise eine völlige Einheit. Von daher ist das Unsagbare hier schwer zu fassen, doch gleichzeitig ist damit die Musik hier besonders dicht am „Eingemachten“. Als er in der Traumaforschung über den eingeschränkten Zeithorizont nach Traumatisierungen gelesen hat, hat er Parallelen zur Musik nach 1950 gesehen.

Maoz: Im individuellen Bereich haben wir im Laufe der Jahre gelernt, das eine Illusion ist, Traumata im engeren Sinne lösen zu können. „Die Unruhe bleibt immer.“ Gleichwohl gibt es ein „Wunder des Überwindens“, was aber nicht ausschließt, dass Traumatisches immer wieder hervorkommen kann.

Gemeinsames Zwischenfazit: Viel weitere Bereiche unserer Welt, als üblicher Weise gemeint wird, sind geprägt durch Traumata, die nicht bearbeitet sind, nicht wahrgenommen werden, sondern sich dann in Wiederholungen, Spiegelungen, Verschiebungen manifestieren.

Schultz: Die heftige Abwehr des Publikums gegen neue Musik hat wahrscheinlich mit dieser nicht wahrgenommenen Traumaseite zu tun, man erkennt sich nicht darin.

Jürgen Müller-Hohagen: Das hat zwei Seiten, man wehrt das Traumatische ab – nimmt es zuvor aber untergründig wahr -,  wehrt damit das eigene Traumatische ab, und dann erkennt man sich nicht mehr im Medium Musik. Die wechselseitige Beziehung zwischen musikalischem Raum und Individuum kommt nicht zustande. Das tut ihm besonders weh, wenn er daran denkt, welch intensive Anstrengungen etwa in der Erziehungsberatung unternommen werden, gerade solche Räume und solchen Austausch zu fördern. Wird hier nicht im individuellen Bereich, im sehr begrenzten Raum des „Sprechzimmers“ etwas versucht, was eigentlich aber im größeren gesellschaftlichen Raum geschehen müsste, was aber, siehe Avantgardemusik, nur unzureichend erfolgt?

Schultz: Das ist das Drama heute. Musik muss zu sehr dem Bild entsprechen, wie „moderne Musik“ zu sein habe, und das ist fixiert auf die Musik der 50er und 60er Jahre. Nach 1945 hat man versucht, ganz elementar anzufangen, beim Einzelton, Konnotationen herauszulassen – und damit Geschichte.

Gemeinsam von allen Seiten: Die große Bedeutung von Resonanz – zwischen Kunst und Publikum, Schule und Schülern, Therapeuten und Klienten, Individuum und Gesellschaft?

Schultz an Ingeborg Müller-Hohagen: Nachfrage hinsichtlich der göttlichen Kraft im Kind (Montessori) – Antwort: Montessori hat das nie näher dargelegt, sie kam aus dem Katholizismus, hatte aber wohl viel Östliches, Buddhistisches in ihren Gedanken. Schultz sieht Verbindung mit Sri Aurobindo.

Jürgen Müller-Hohagen an Schultz: Was wäre heute in seiner Sicht die zeitentsprechende Oper (so wie in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts etwa La Traviata oder Carmen)? Schultz meint, vielleicht eine Oper, in der etwas zu erfahren ist von einem Weg vom Personalen zum Transpersonalen, in der spirituelle Krisen nachvollziehbar werden, in der auch über das spezifisch Abendländische (Individuumzentrierung) hinauszukommen ist, Wege über das Ich-Bewusstsein hinaus (Ken Wilber). Aber ob er das noch erleben wird?

Schultz hat in seinem Artikel die wichtige Frage nach einem möglichen posttraumatischen Wachstum angesprochen, also Trauma nicht ausschließlich in seiner negativen, das Leben belastenden Seite zu sehen, sondern auch auf Potenziale für Lösungen, neue Entwicklungen und dergleichen zu schauen. Um diese Themen geht es zentral im Konzept der Salutogenese des israelischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky, an dessen Entwicklung Maoz eng mitgearbeitet hat. Er wurde deshalb gebeten, einige Grundzüge zu erläutern.

Um mit der theoretischen Seite zu beginnen, ist zu sagen, dass vieles von den Reizen, die ständig auf uns einströmen, weggeschoben wird, weil es uns sonst völlig mit Informationen überlasten würde. Das ist ein ganz normaler Vorgang. Es sind Spannungen, die sodann aber in entgegen gesetzte Richtungen weiter wirken können: Wenn sie aufgrund entsprechender Vorerfahrungen und Ressourcen eher mit zuversichtlichen Handlungsoptionen verknüpft sind, können sie eine positive Herausforderung darstellen – oder anderenfalls, wenn die Reize als Gefahr eingeordnet werden und wenn keine Wege gesehen werden, mit ihnen wirksam umzugehen, kann aus ihnen ein negativer (eventuell gefährlicher) Stress resultieren.

Antonovsky machte hier die prägnante Unterscheidung: ease = es geht leicht – disease = Krankheit.

Die Salutogenese (das von ihm so benannte Gegenteil von Pathogenese = Krankheitsentstehung) hängt entscheidend mit Stressbewältigung zusammen: bewältigen oder Spielball sein.

Und dann ist es zentral für das Konzept, ob es Sinn für die betreffende Person in der Situation gibt, oder Bedeutung, Glaube, Werte, Ziele. Antonovsky hat hier vom „sense of coherence“ gesprochen. Wichtig ist, dass dieser einigermaßen flexibel ist, denn wenn er dogmatisch eingeengt ist, werden keine neuen Lösungen mehr gefunden, sondern man greift automatisch nur noch auf frühere zurück.

Wichtig: Gesundheit ist ein Prozess, ist nicht statisch festgelegt.

Maoz zu Schultz: „Brücke zwischen uns beiden ist das Dynamische“ (Gesundheit als Prozess, Musik als Fließendes).

Anschließend wurde noch eingehender über die Rolle von Verdrängung und Verleugnung im Zusammenhang mit Traumatisierungen diskutiert. Keineswegs sind sie als grundsätzlich negativ zu sehen, vielmehr ermöglichen sie oft erst das Über- und Weiterleben. Andererseits können sie dieses nachhaltig einschränken, zu Krankheiten führen, zu unbewusstem Wiederholungshandeln, zu seelischer Erstarrung. Ähnliches lässt sich für den Bereich der Musik annehmen.

Mit Blick auf die Frage eines möglichen posttraumatischen Wachstums sieht Maoz als entscheidend, ob der sense of coherence trotz Belastungen oder vielleicht auch ausgelöst durch diese sich weiter entwickeln kann, ob Sensibilität zunehmen kann und ob mit Anderen über die Erfahrungen gesprochen werden kann. Das schließt das Vorhandensein von tiefen, bleibenden Wunden keineswegs aus.

Maoz abschließend: „Das war eine sehr bewegende Runde“ (auch mit persönlichen Hintergründen der Einzelnen).

In einer weiteren Gesprächsrunde wurde zunächst von Ingeborg Müller-Hohagen ein Input über Themen gegeben, in denen sich die Pädagogik Maria Montessoris mit dem Konzept der Salutogenese und mit den Fragestellungen von Schultz berührt. Von der Salutogenese hat sie besonders angesprochen, dass man vom Gesunden ausgeht, von den Stärken, und dass es darum geht, diese zu erhöhen, anstatt sich, wie so oft in der Pädagogik, auf Schwächen zu fixieren. Ein Beispiel ist, wie an den bayerischen Montessori-Schulen Konzept und Praxis der Leistungsbeurteilung völlig geändert sind gegenüber den üblichen Notenzeugnissen. Hier geben Lehrkraft und Schüler/in unabhängig voneinander Einschätzungen zu einer Vielzahl von Punkten ab, vergleichen diese dann und einigen sich, welcher Wert schließlich angekreuzt werden soll. Sehr oft sind hier die Kinder und Jugendlichen strenger mit sich als die Erwachsenen.

Das Pisa-Desaster dagegen hat aufgezeigt, wie sehr es in deutschen Schulen immer noch nicht darum geht, eigene Lösungen zu finden, sondern die des Lehrers nachzuvollziehen.

Dagegen hat sie immer wieder die Erfahrung gemacht, dass auch ganz „schwierige“ Jugendliche zu erreichen waren, wenn ihre eigene Kraft (hier liegt so etwas wie die „göttliche Kraft“ oder „der Buddha in mir“) angesprochen war und sich entfalten konnte.

Maoz: In jedem Menschen gibt es den göttlichen Funken; der Mensch ist gesund, wenn er seine Potenziale leben kann. Was Montessori beschrieben und praktiziert hat, beschreibt aus einer anderen Perspektive genau den Prozess von Gesundheit.

Ingeborg Müller-Hohagen: Die Achtung vor dem Menschen, auch vor dem kleinen Menschen

Jürgen Müller-Hohagen: Prätraumatisches Wachstum; Bedeutung des Eigenen; dessen Gefährdung ständig durch Herrschaftsansprüche, die genau das nicht wollen.

Schultz: Das ist äußerst wichtig auch für die Musik. Es ist ein häufiges Missverständnis, auch bei Komponisten, das „Eigene“ als eine Art von Markenzeichen zu sehen, damit aber das zuvor beschriebene Eigene i.S. des eigenen Weges, des Prozesses, zu pervertieren. Nicht Kult des „Eigenen“, ist das, was ihm für Avantgardemusik von heute vorschwebt, sondern ein sichtbar werden Lassen von eigenen Wegen mit all ihren Brüchen und Krisen.

Von allen Beteiligten wurde abschließend festgestellt, wie sehr diese intensiven Gespräche aus den Blickwinkeln verschiedener Fachrichtungen die eigenen Wahrnehmungen und Ideen bereichert haben.