Folgen und Spätfolgen des Nationalsozialismus in Beratung und Psychotherapie

Jürgen Müller-Hohagen

So lautete der Titel einer Arbeitsgruppe, die ich 1989 auf einer Tagung von Erziehungsberaterinnen und Beratern geleitet habe. Den Bericht für die Tagungsdokumentation finde ich auch nach längerer Zeit noch so lesenswert, dass ich ihn unverändert wiedergebe.

Der Termin der Arbeitsgruppe rückte näher, und ich merkte, dass ich in Angst geriet. Um zwei Punkte kreiste sie. Zum einen war da die Befürchtung, mir könnten in der Öffentlichkeit dieser Gruppe peinliche „Fehlleistungen“ passieren, in denen sich – entgegen meinen bewussten Einstellungen – eigene Nazi-Tendenzen manifestieren würden (etwa in Form von Versprechern). Die Jenninger-Rede zwei Wochen nach der Tagung war eine bestürzende Bestätigung für die Notwendigkeit solcher Selbstreflexion. Und als zweites war ich in Sorge vor einem lähmenden Schweigen in der Gruppe. Bei Licht betrachtet, waren diese Befürchtungen wenig begründet, denn immerhin hatte ich mich seit längerem mit der Thematik dieser Arbeitsgruppe befasst, ein Buch dazu geschrieben (Müller-Hohagen 1988) und zuvor zusammen mit den Kollegen meiner Beratungsstelle eine Fachtagung ausgerichtet. Trotzdem war ich in Unruhe.

Einigermaßen löste sie sich erst, als ich im privaten Bereich und dann im Team der Beratungsstelle über meine Ängste gesprochen und die geplanten Inhalte der Gruppe vorgestellt hatte. Ich brauchte diesen Rückhalt. Uns allen war klar, wie lastend diese Thematik ist.

Im Mittelpunkt meiner vorgesehenen Einführung für die erste Sitzung stand ein Bericht, der mich in besonderem Maße beschäftigt hat. Es handelte sich um das Buch von Helen Epstein (1987): „Die Kinder des Holocaust“. Die Autorin, selbst Kind von Holocaust-Überlebenden, schreibt in der Einleitung:

„Lange Jahre war es in einer Art Kasten tief in mir vergraben. Ich wusste, dass ich – verborgen in diesem Kasten – schwer zu erfassende Dinge mit mir herumtrug. Sie waren feuergefährlich, sie waren intimer als die Liebe, bedrohlicher als jede Chimäre, jedes Gespenst. Gespenster aber hatten immerhin eine Gestalt, einen Namen.

Was aber dieser Kasten in mir barg, hatte weder Gestalt noch ließ es sich benennen. Im Gegenteil: Es besaß eine
Macht von so düsterer, furchtbarer Gewalt, dass die Worte, die sie hätten benennen können, vor ihr zergingen.

Oft war mir, als trüge ich eine entsetzliche Sprengladung mit mir herum. Flüchtige Bilder von Tod und Vernichtung hatte ich gesehen. War ich in der Schule vorzeitig mit einer Probearbeit fertig oder hing ich auf dem Heimweg meinen Tagträumen nach, so schien mir alles Gesicherte aus der Welt verschwunden …

Waren die Eltern abends ausgegangen und hockten mein kleiner Bruder und ich vor dem Fernseher, so erschien mir das Zimmer, ja, unser ganzes Leben, schutzlos, unbehütet. Jeden Augenblick konnten Einbrecher oder Mörder bei uns eindringen und über uns Wehrlose herfallen …

Der eiserne Kasten in mir war mit großer Umsicht konstruiert – so wie man (…) Kernreaktoren baut. Ich dachte mir Bleiwände um das gefährliche Gehäuse, kreisförmig angelegte Kühlungsrohre, die mögliche Explosionen abschwächen, ja, überhaupt unwirksam machen konnten. All das war mit einer Metallhülle umgeben, und so vergrub ich es in mir (…) Ich wusste, der eiserne Kasten musste eines Tages ans Licht geholt, geöffnet und durchmustert werden: aber mittlerweile war er so eingemauert, dass es keinen Zugang mehr zu geben schien.

So entwickelte ich Strategien, um an das tief Verborgene zu gelangen (…) Ich brauchte Gefährten, Menschen, die das gemeinsam mit mir zu unternehmen bereit waren, brauchte Stimmen, die mir sagten, all das, was ich da mit mir trage, sei Wirklichkeit, nicht grausige Phantasie. Meine Eltern konnten mir nicht helfen, sie waren ja selbst ein Teil davon. Zu Psychiatern hatte ich kein Vertrauen; sie verfügten über noch mehr Namen für all das, als ich selbst schon ausprobiert hatte, um die Dinge zu umschreiben, zu verhüllen. Es musste Menschen geben wie mich, die ebenfalls einen eisernen Kasten, ähnlich dem meinen, in sich herumtrugen.

So machte ich mich auf (…) um Menschen zu finden, die wie ich im Bann einer Geschichte lebten, die sie nicht selbst erlebt hatten. Ihnen wollte ich Fragen stellen. Vielleicht konnte ich so jenen Teil von mir erreichen, der sich mir selbst am beharrlichsten entzog“ (S. 9 ff).
Um diese Suche geht es in dem Buch von Epstein, und es ist erschütternd zu erfahren, wie tiefreichend die Kinder von Holocaust-Überlebenden in das Grauen miteinbezogen sind. Gerade weil ihre Eltern so überwältigt waren, dass sie über das unvorstellbar Erlittene sich ihren Kindern nicht zureichend mitteilen konnten, gerade deshalb waren die Kinder erst recht von klein auf engstens damit verbunden, es hat sie umgeben, es war in ihnen, so wie der eiserne Kasten von Helen Epstein. Die Nazi-Verbrechen wirken fort über Generationen.
Besonders erschreckt hat es mich, wenn immer wieder in dem Buch die Feststellung steht, wie ähnlich es – bei aller äußeren Verschiedenheit – den Kindern des Holocaust innerlich ergangen ist, wie sie still mit ihren Eltern litten, wie sie Fragen nicht zu stellen wagten, sie ganz wegschoben, wie sie nach außen hin sich unbekümmert gaben.

Von diesem fortdauernden Leiden wenigstens Kenntnis zu nehmen, ist für einen Deutschen nicht leicht. Aber, so muss man ganz realistisch zugleich doch feststellen: Diese Schwierigkeit ist unendlich viel geringer als das, was die Kinder des Holocaust ihr Leben lang zu tragen haben. Wenn jemand sich über die Last der Vergangenheit auf uns Deutschen beklagen will, dann möge er doch einmal ein Buch wie das von Helen Epstein studieren und sich vor Augen führen, unter welcher Last die Kinder und Kindeskinder der Opfer noch heute leiden. Vielleicht verändern sich dann einige Relationen.

Was diese Last der Vergangenheit auf uns Deutschen betrifft, so hat sie sich seit 1945 weit weniger, als man gern meint, verringert, nämlich durch die massive Verleugnung und Verdrängung der Nazizeit (siehe Müller-Hohagen 1988). Das gilt auch für Psychologie, Sozialpädagogik, Psychotherapie, also den ganzen Bereich von Erziehungsberatung (siehe Graumann 1985, Lockot 1985, Lohmann 1984). Sichrovsky (1987) schreibt dazu: „Der Psychologisierungsboom der 60er und 70er Jahre, der nahezu alle Lebensbereiche erfasste, bescherte uns Zehntausende von Fachleuten, die als Helfer versuchten, die Bundesdeutschen glücklich und zufrieden zu machen – und die die eigene Geschichte verdrängten. Von der kollektiven Barbarei zur kollektiven Verdrängung. Die Antwort eines Universitätsprofessors auf die Frage, warum man sich in Deutschland so wenig mit den Folgen der Täter bei ihren Kindern beschäftigt: Das ist ein unbeliebtes Thema“ (S. 22 f). Bei Dörte von Westernhagen (1987) heißt es in ähnlicher Weise: „Von vielen Tätern hat man erfahren, dass sie nach außen sozial angepasst und unauffällig weiterleben. Aber ist wirklich vorstellbar, dass das die ganze Wahrheit ist? Vor ihren innerpsychischen Prozessen stehen wir wie vor einem Rätsel, zumal unter Psychoanalytikern nicht ein Fall der Behandlung eines Täters bekannt ist“ (S. 98). Und in bezug auf die zweite Generation: „Aber ist es nicht auffällig, dass zwar die Erkenntnis, welchen Einfluss Eltern vor allem in den ersten Lebensjahren ihrer Kinder auf diese haben, praktisch Allgemeingut ist, aber die zweite Generation bis vor kurzer Zeit für sich daraus kaum Schlüsse hat ziehen können?“ (S. 99)

Was mich betrifft und was sicherlich auch für eine ganze Reihe von Gruppenteilnehmern gelten würde, so stamme ich von Sympathisanten-Eltern ab („Mitläufer“). Wie mir in den letzten Jahren immer klarer wurde, bedeutet dies, dass ich in einer Welt von Nebel aufwuchs. Verdrängung, Verleugnung, aber auch ganz bewusstes Verschweigen haben eine enorme Rolle gespielt und tun das auch heute noch in unserem persönlichen wie auch öffentlichen Leben. Das ist sehr viel zentraler, als wir bisher gemeint haben. „Die kalte Amnestie“ (Friedrich), „der große Frieden mit den Tätern“ (Giordano) und „die Unfähigkeit zu trauern“ (A. und M. Mitscherlich) haben sich tief in uns eingegraben. In universitären und therapeutischen Ausbildungen wie auch in Psychotherapien hat dies bisher erst verschwindend wenig Aufmerksamkeit gefunden. Das sage ich nicht so dahin, sondern das habe ich mit erheblichem Erschrecken im Rückblick auf meinen eigenen Werdegang erkannt, um dann erst zunehmend in meiner Arbeit als Erziehungsberater und Psychotherapeut auf die verbreiteten seelischen Auswirkungen der Nazizeit aufmerksam zu werden.

Zumal da ich seit mehr als sechs Jahren in Dachau wohne, ist mir zugleich auch die Begrenztheit der psychologischen Perspektive in diesen Fragen bewusst. Wenigstens ein gewisses Maß an historischen Kenntnissen halte ich für unerlässlich, wenn wir uns von psychologischer Seite mit der Nazizeit und ihren Folgen auseinandersetzen wollen. Anderenfalls geraten wir leicht in peinliches Psychologisieren, sehen nur noch „Betroffene“, anstatt vor allem die entscheidende Differenz von Tätern (einschließlich von sich subjektiv „unschuldig“ wähnenden „Mitläufern“, Wehrmachtsoldaten usw.) und Opfern zu berücksichtigen. Für unsere Arbeit, die ja nicht im luftleeren Raum stattfindet, sondern ganz konkret in Deutschland, ist es wichtig, diese Perspektive nicht aus den Augen zu verlieren, bzw. sie überhaupt erst wahrzunehmen. Anderenfalls kann es zu peinlichen „Fehlleistungen“ kommen, so wie ich das ja bei der Vorbereitung der Arbeitsgruppe befürchtete. Dann sehen wir uns verdutzt dem Wirken von Abwehrmechanismen gegenüber, wie wir sie – eigene therapeutische Selbsterfahrung vorausgesetzt – bei uns in diesem Ausmaß doch nicht erwartet hätten. Mir ist dies wiederholt so gegangen in bezug auf Verleugnung und Verdrängung (siehe Müller-Hohagen). Und immer mehr frage ich mich inzwischen, wie es eigentlich mit unseren Identifikationen aussieht, nämlich nicht nur allgemein in bezug auf unsere Eltern und (auch therapeutische) Ersatzeltern, sondern sehr entscheidend mit deren vor uns verborgen gehaltenen Nazi-Anteilen. Identifikationen laufen bekanntlich in erheblichem Maße unbewusst ab. Und ich bin wohl realistisch mit der Annahme, dass auch lange Analysen nur selten an diesen Bereich unseres „kollektiven Unbewussten“ heranführen.

Aufgrund der hier angedeuteten Überlegungen hielt ich es für vorrangig, in der Arbeitsgruppe bei uns selber zu beginnen. Deshalb skizzierte ich zu Anfang der ersten Sitzung meine eigenen Hintergründe, die persönlichen wie die beruflichen, die beide davon geprägt sind, dass Bezüge zur Nazizeit lange im Nebel verborgen blieben. Ich rechnete durchaus mit verhaltenen Reaktionen der Teilnehmer bis hin zu allgemeinem Schweigen und wusste es von daher umso mehr zu schätzen, welch persönliche und tiefgehende Diskussion sich sofort in dieser Gruppe von immerhin 30 Teilnehmern entwickelte. Meine vorbereiteten Fallberichte bot ich zwar an, aber wir brauchten darauf gar nicht zurückzugreifen, ebenso wenig wie auf die bereit gehaltenen Literaturauszüge. Im folgenden gebe ich die Hauptlinien der Diskussion wieder.

Eine Kollegin beginnt, indem sie über ihre eigene Desorientierung 1945 spricht. Sie war 19 Jahre alt, wollte wiedergutmachen, aber wie? Alle Maßstäbe waren in Frage gestellt. Das galt auch zum Beispiel für so persönliche Bereiche wie die Kindererziehung. Sie spricht an, wie schwer bis heute der Austausch darüber mit der jüngeren Generation ist. „Die Jungen schauen einen an, als ob man ein Ungeheuer sei.“ An eine psychologische Verarbeitung sei damals gar nicht zu denken gewesen. „Das hätte einen umgebracht.“ Eine andere Kollegin aus der gleichen Altersgruppe berichtet am zweiten Tag: Wenn sie anfange, etwas von damals zu berichten, dann sagen ihr die Jungen, wie es in Wirklichkeit war, bevor sie selber überhaupt ihre Erinnerungen und Gedanken habe zu Gehör bringen können. Sie habe den dringenden Wunsch zum Austausch, sei aber noch ganz verkrampft. Hier in der Gruppe habe sie das Gefühl, sich ein wenig „zurücklehnen“ zu können dabei.
Die These aus dem Vortrag von Frau Mitscherlich, die Deutschen hätten sich damals mit den Siegern identifiziert, stößt bei diesen älteren Teilnehmerinnen auf Widerspruch. Andere ergänzen noch, im Bereich der späteren DDR hätte man auf gar keinen Fall von einer breiteren Identifikation sprechen können.

Bei allem Verständnis für die extrem schwierige Verfassung der Menschen damals sind wir doch immer wieder erschüttert im Verlauf der Arbeitsgruppe, wenn in Beiträgen die mangelnde Auseinandersetzung mit der Nazizeit oder sogar deren Weiterwirken angesprochen wird. Eine Kollegin berichtet, dass sie aufgrund ihres „jüdisch“ klingenden Familiennamens immer wieder erheblichen antisemitischen Anpöbeleien ausgesetzt war. Mir selbst ist ähnliches aus dem Freundeskreis bekannt, nur war es hier die „jüdische“ Nase. Eine andere Kollegin hat sich intensiv mit dem Buch von Johanna Haarer befasst, das 1934 erstmals erschien unter dem Titel: „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ und das – mit gar nicht so sehr verändertem Inhalt – bis heute weiterverkauft wird („Die Mutter und ihr erstes Kind“), mit einer Gesamtauflage von über 1,2 Millionen!

Ein Kollege berichtet, dass in einem Buch über seinen Heimatort dessen Geschichte detailliert wiedergegeben wird, die Nazizeit aber auf nur einer einzigen Seite! Verleugnungen und Fälschungen ähnlicher Art sind mir über meine eigene Heimatstadt bekannt geworden. Es scheint sich hier um weit verbreitete Vorgänge zu handeln, die erst durch das Wirken von Bürgerinitiativen, Forschungen von Schülergruppen usw. allmählich mehr ans Tageslicht kommen.

Große Mängel im Bereich von Psychologie, Sozialarbeit, Psychotherapie werden uns ebenfalls bewusst. Bis heute bestimmen sie unsere Arbeit. Können wir dafür in dieser Gruppe konkrete Hilfen erarbeiten? Wir stimmen in der Einschätzung überein, dass zuerst einmal unsere Wahrnehmung klarer werden muss in bezug auf unsere eigenen Nazi-Hintergründe und ebenso die unserer Klienten. Mehreren von uns ist in dieser Hinsicht eine Parallele mit der bisher ähnlich verleugneten Thematik des sexuellen Missbrauchs in der Familie aufgefallen. Wenn wir als Berater erst einmal darauf vorbereitet sind, dann berichten Klienten auch darüber. Andernfalls aber können sie nicht von sich aus den Anfang machen, kommen in der Regel gar nicht auf den Gedanken, gehen selbstverständlich davon aus, „so etwas“ gehöre doch nicht in die Beratung. In diesem Zusammenhang wird auch darauf hingewiesen, wie wesentlich unser Blickwinkel durch die von uns explizit oder implizit verwendeten Theorien bestimmt wird, welch großen Unterschied es etwa macht, ob wir in bezug auf Aggression von einem rein indi-viduumbezogenen Ansatz ausgehen oder gesellschaftlich-historische Bezüge mit hineinnehmen.

Ein Kollege wurde in seinem Team kritisiert, weil er an dieser Tagung teilnimmt. Das sei doch eine Thematik, die außerhalb der Arbeit einer Erziehungsberatungsstelle liege. Anderen Kollegen soll sogar die Teilnahme überhaupt verboten worden sein. Hier haben wir es also in unserem engsten Arbeitsbereich mit massiver Abwehr zu tun.

Hingewiesen wird wiederholt auf das verbrämte Weiterwirken von „Nazi-Tugenden“: Perfektionismus, Ordnung, Sauberkeit, Erziehung zu Gehorsam und Härte (Haarer: „Zärtlichkeit ist dem deutschen Wesen fremd“). Uns ist dabei bewußt, daß diese „Tugenden“ eine sehr viel längere Geschichte aufweisen, aber durch die Nazizeit eine vollends perverse Ausrichtung erhalten haben. Ob wir uns davon wirklich so weit gelöst haben, wie wir im allgemeinen annehmen, verdient einige Zweifel. Die heute so überzogene Leistungsthematik etwa schätzen mehrere von uns als einen Hinweis auf heimliche Kontinuitäten ein. Was hat Vorrang, die lebendige Beziehung oder die perfekte Familie? Können wir uns in Kinder und andere Minderheiten ausreichend einfühlen? Das sind Fragen, von denen auch wir als Berater nicht ausgenommen sind. In diesem Zusammenhang ergibt sich in der Diskussion die Frage nach Aspekten von faschistischem Bewusstsein auch heute. Das ist zwar ein schwer zu greifendes Thema, doch machen mehrere persönliche Beiträge deutlich, dass wir diese Frage zumindest nicht ausklammern können.

Überraschend viele in der Arbeitsgruppe berichten sehr persönlich von sich selber oder aus ihrem Umkreis. Zur Sprache kommen eigene Hintergründe und die der Familie, der schwierige Dialog zwischen den Generationen, aber auch zwischen Geschwistern, die fehlenden Väter oder Identifikation mit ihnen, um sie nicht anklagen zu müssen, die verbitterten Mütter, aber auch Mitschuld der Frauen, was oft übersehen wird, und immer wieder das Schweigen in den Familien, Sprachlosigkeit, Konsum als Ersatz, emotionale Leere. Eine Kollegin weint anstelle ihrer Mutter, die das nie konnte. Das Ausmaß an Offenheit ist bewegend. Gleichzeitig befinden wir uns weiterhin im Rahmen einer Arbeitsgruppe, es geht also keineswegs um „reine Selbsterfahrung“. Ich nehme an, die Mehrzahl von uns hat ganz deutlich vor sich die Alternative gesehen, entweder in gelähmtes Schweigen zu verfallen angesichts des immer noch überwältigenden Themas oder einen Schritt in Richtung auf mehr Offenheit zu riskieren.

In dieser Atmosphäre ist es selbstverständlich, dass am zweiten Tag auch die aufwühlenden Auseinandersetzungen aus dem Plenum des Vormittags im Anschluss an die Vorträge von Keilson und von Brumlik zur Sprache kommen. Der Angriff von Micha Brumlik auf Thea Bau-riedl wegen ihrer Aufzählung auch von Wehrmachtsoldaten im Zusammenhang mit dem Holocaust wird teilweise als überzogen und der Beifall für Brumlik als konformistisch empfunden. Andere sehen das nicht so. Das Erschrecken jedenfalls ist spürbar angesichts der Wahrnehmung, auf welch dünnem Eis wir uns hier bewegen.

Besonders nachdenklich hat mich gemacht, dass auch in dieser so von Offenheit geprägten Gruppe die Auseinandersetzung um die Plenumsdiskussion nach dem Keilson-Vortrag unerwartet schwierig verläuft. Eigentlich sollte es doch im relativ geschützten Rahmen dieser Gruppe inzwischen möglich sein, uns über diese Konflikte zu verständigen. Das Gegenteil ist der Fall. Drei Teilnehmer führen ihre zum Teil im Plenum begonnenen Ausführungen zum Eigenanteil der Juden an ihrer Verfolgung bis hin zur heutigen Situation in Israel und Palästina noch weiter aus, und zwar überraschend hartnäckig. Der Widerspruch aus der Gruppe ist klar und eindeutig. Wir stellen Ausweichen vor der Nazi-Vergangenheit und ihrem Weiterwirken in Gesellschaft wie auch Individuen fest, Ausweichen vor der emotionalen Betroffenheit. Die Politik des Staates Israel wird dort selbst und von prominenter jüdischer Seite (z.B. Erich Fried) scharf kritisiert, so dass gerade wir als Deutsche uns für diese Diskussion nicht besonders be-rufen fühlen müssen – auf jeden Fall aber nicht im gleichen Atemzug mit der Vergegenwärtigung unserer grauenvollen Vergangenheit.

Wir finden zu den Themen der Arbeitsgruppe zurück, und die Schwierigkeit, persönlich wie auch kollektiv den Nazi-Hintergründen nicht gar zu sehr auszuweichen, ist uns noch deutlicher vor Augen. Wir merken, wie sehr wir uns in den Anfängen unserer Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit, aber auch ihrem Weiterwirken befinden. Von daher ist jetzt am Ende von 4 1/2 Stunden offener und bewegender Diskussion der Wunsch nach weiterführender Literatur kein Ausweichen mehr, wie er es vielleicht am Anfang gewesen wäre.

Wenn ich jetzt, vier Monate später, an die Arbeitsgruppe zurückdenke, so bin ich weiterhin angetan von der lebendigen, offenen, differenzierten Diskussion. Und doch tue ich mich schwer mit einem Resümee. Die Hauptfrage ist für mich: Wieweit standen jene drei Kollegen allein für sich, oder drückten sie gruppendynamisch auch etwas für uns andere aus? Ich meine, an solchen Fragen können wir nicht vorbeigehen als Kinder von Nazis – und darum handelte es sich überwiegend in dieser Gruppe, wie eine Teilnehmerin unwidersprochen feststellte. Nach der Jenninger-Rede sind solche Fragen erst recht angebracht.

Zugleich möchte ich hier klar festhalten: Ich finde es bestürzend, dass gerade nach dem Vortrag von Keilson solche Dialogschwierigkeiten in Plenum und Arbeitsgruppe auftraten. In dem Vortrag ging es um das Schicksal von Kindern, denen die Eltern durch die Nazis für immer weggerissen wurden (siehe dazu auch Vegh 1983). Zwar distanzierten wir uns in beiden Situationen entschieden von jenen Kollegen, jedoch so ganz kann sich wohl niemand von uns Nazi-Nachkommen von der Frage unbetroffen fühlen: Wie weit sind wir, jeder für sich, in der Lage, das lebenslange Leiden dieser Opfer an uns heranzulassen?

Diese Frage möchte ich anstatt eines Resümees hier stellen, gerade uns, die wir beruflich und meist auch persönlich viel mit Kindern zu tun haben. Unbewusste Nazi-Anteile in uns können sehr wesentlich darauf hinauslaufen, dass wir uns – ganz unbemerkt – schwer damit tun, uns in die Opfer einzufühlen. Berater und Therapeuten sind davon nicht ausgenommen, können es aber vielleicht doch eher bemerken und verändern.


Literatur

  • Epstein, Helen: Die Kinder des Holocaust. Gespräche mit Söhnen und Töchtern von Überlebenden. München, 1987
  • Friedrich, Jörg: Die kalte Amnestie. NS-Täter in der Bundesrepublik. Frankfurt, 1984
  • Giordano, Ralph: Die zweite Schuld – oder: Von der Last, Deutscher zu sein. Hamburg, 1987
  • Graumann, Carl Friedrich: Psychologie im Nationalsozialismus. Berlin, Heidelberg, 1985
  • Lockot, Regine: Erinnern und Durcharbeiten. Zur Geschichte der Psychoanalyse und Psychotherapie im Nationalsozialismus. Frankfurt, 1985
  • Lohmann, Hans-Martin: Psychoanalyse und Nationalsozialismus. Beiträge zur Bearbeitung eines unbewältigten Traumas. Frankfurt, 1984
  • Mitscherlich, Alexander und Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München, 1967
  • Müller-Hohagen, Jürgen: Verleugnet, verdrängt, verschwiegen – die seelischen Auswirkungen der Nazizeit. München, 1988
  • Sichrovsky, Peter: Schuldig geboren. Kinder aus Nazifamilien. Köln, 1987
  • Vegh, Claudine: Ich habe ihnen nicht auf Wiedersehen gesagt. Gespräche mit Kindern von Deportierten. München, 1983
  • von Westernhagen, Dörte: Die Kinder der Täter. Das Dritte Reich und die Generation danach. München, 1987