Wagnis Solidarität

Gemeinsam haben wir, Ingeborg und Jürgen Müller-Hohagen, im Herbst 2015 als Buch veröffentlicht: Wagnis Solidarität. Zeugnisse des Widerstehens angesichts der NS-Gewalt. Grundlage sind unsere Begegnungen mit Menschen, die schon früh die Kriegsabsichten der Nazis erkannt und dagegen gekämpft haben. Und sogar noch unter den grauenhaften Bedingungen der KZ-Haft wurde von ihnen Solidarität gelebt, so weit es nur ging. Wir hatten das große Glück, einige von ihnen persönlich kennenzulernen. Da es sich meist um Linke handelte, Kommunisten und Sozialdemokraten, ist dieser Teil des Widerstands nach 1945 in Deutschland West und Ost sehr unterschiedlich weitergegeben worden. Für den Bereich der Bundesrepublik sprechen wir vom „Großen Vergessen“.

In dem Buch ziehen wir Linien auch zur Gegenwart, so zur schulischen Arbeit von Ingeborg und zu Erfahrungen von Jürgen in Psychotherapie und Beratung. Am Ende, geschrieben im Spätsommer 2015, äußern wir uns mit Blick auf die gegenwärtige Situation so:

„Es gibt, allen Unkenrufen zum Trotz, unendlich viel an Hilfsbereitschaft, an altruistischen und solidarischen Aktivitäten im heutigen Deutschland.
Aber: Lässt sich Deutschland deshalb als solidarische Gesellschaft bezeichnen?“

Diese Frage beschäftigt uns weiter. Und wir dehnen sie auf Europa aus. Und auf die Welt überhaupt. So heißt es in jenem Schlusskapitel:

„Es gibt nicht nur Finanz- und Wirtschaftskrisen, sondern auch eine weltweite Solidaritätskrise.
Vielleicht öffnen sich in der Krise aber auch neue Wege. Immerhin hat es das Wort ‚Solidarität‘ in letzter Zeit bis in die Titelzeilen deutscher Tageszeitungen geschafft. Welche Perspektiven deuten sich hier an? Mehr Öffnung? Oder am Ende weiteres Auseinanderbrechen?“

Darüber ließe sich zurzeit mehr als nur ein Buch schreiben. Wir wählen – jedenfalls erst einmal – einen anderen Weg, indem wir im Folgenden Ausschnitte aus Medienberichten zusammentragen, in denen es um Solidarität oder Verwandtes geht. Wir machen das unsystematisch, subjektiv und ohne Anspruch auf Vollständigkeit, dabei auch mit kontroversen Positionen. Was unter Solidarität verstanden wird, ist nicht einheitlich. Ein weites Feld…


Februar 2016


Würzburger wollen Flüchtlinge aus Clausnitz. Von KAA

„Das ‚Würzburger Bündnis für Zivilcourage‘ möchte die Flüchtlinge aus Clausnitz in seiner Stadt aufnehmen. Deswegen wandte sich der Zusammenschluss von mehr 70 Organisationen an das Rathaus (…). In dem Dorf in Sachsen hatte am Donnerstag ein brüllender Mob einen Bus mit 15 Flüchtlingen an der Fahrt zur Unterkunft gehindert. (…)“

Süddeutsche Zeitung, 2. 2. 2016, S. R 13


Erkenntnis und Ethos. Er hat seine moralischen Prinzipien, und er hat seine Lehren aus dem Weltkrieg gezogen. Über die humorvolle, anrührende und tiefgründige Autobiografie des SPD-Politikers Erhard Eppler. Von Franziska Augstein

„(…) Epplers Weg in der Politik war mühselig. (…) Das änderte sich für ihn grundlegend, als er 1968 in der Großen Koalition Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit wurde. Von Anfang an war ihm klar, dass Entwicklungshilfe nicht funktioniert, wenn sie ‚von oben‘ verabreicht wird. Sein Ministerium verstand er nicht als Institution zur Förderung deutscher Exporte. Außerdem hatte er die Bedeutung der Ökologie entdeckt. Wenige Monate, nachdem Helmut Schmidt 1974 Bundeskanzler geworden war, demissionierte Eppler. Gar zu unterschiedlich waren die politischen Prioritäten der beiden. Anstatt sich bloß zu freuen, den komischen Kerl los zu sein, behauptete Schmidt: ‚Jetzt habe ich ihn rausgeworfen.‘ Das war entwürdigend. Bis heute leidet Eppler unter dieser Lüge.“

Süddeutsche Zeitung, 22. 2. 2016, S. 14


Unter Kraftmeiern. Von Nico Fried

„(…) Die EU muss eben immer erst in den Abgrund schauen, um auf den Gedanken zu kommen, dass man gemeinsam womöglich doch mehr erreichen kann.“

Süddeutsche Zeitung, 20./21. 2. 2016, S. 4


Verirrte Schafe am rechten Rand. Christlich oder nicht? Die Kirchen suchen ihre Haltung zu AfD-Anhängern. Auch der Vatikan schaltet sich ein. Von Matthias Drobinski

„(…) Die AfD setzt dagegen auf Abschottung, geschlossene Grenzen und die Sicherung des Eigenen statt der Solidarität mit Armen und Fremden – aus Sicht der Bischöfe ist das unchristlicher Egoismus, garniert mit fremdenfeindlichen Tönen.“

Süddeutsche Zeitung, 20./21. 2. 2016, S. 7


(Zum Tod von Umberto Eco)

„Bis zuletzt war der politische Beobachter ein überzeugter Europäer. ‚In diesem Augenblick bin ich sehr pessimistisch, weil der Sinn für Solidarität abnimmt. Und ohne Sinn für Solidarität funktioniert Europa nicht mehr‘ (September 2015).“

Tagesschau, 20. 7. 2016, 20 Uhr


Die Zeit drängt. Europa kann die Flüchtlingskrise nur bewältigen, wenn es jetzt sehr viel Geld ausgibt. Von George Soros

„(…) Die internationale Gemeinschaft unterschätzt den Bedarf an Unterstützung für die Flüchtlinge nach wie vor enorm, und zwar ienerhalb als auch außerhalb der Grenzen der Europäischen Union. Die Flüchtlingskrise zu bewältigen und dabei das überwiegend ungenutzte hervorragende Kreditrating der EU – es liegt bei der Bestnote AAA – besser auszuschöpfen, erfordert einen Paradigmenwechsel. (…) Dafür gibt es Vorbilder. (…) Kurz gesagt: Von einer derartigen Anschubfinanzierung würden alle Seiten profitieren – und die Zeit drängt.“

Süddeutsche Zeitung, 18. 2. 2016, S. 2


Lasst uns nicht allein! Die Regierungschefs der EU fürchten die Radikalen. Doch wer Angela Merkel nun hängen lässt, schadet Europa. Von Matthias Krupa

„(…) Zu Recht fürchten die Länder jene Fliehkräfte, die ein ‚Brexit‘ mit sich brächte. Solidarität aus Eigeninteresse – warum gilt das nicht auch in der Flüchtlingskrise?

(…) Deutschland braucht jetzt Solidarität – aber es wäre eine Solidarität im Interesse aller. Denn was wäre gewonnen, wenn die EU Großbritannien hielte, aber die Unterstützung der Deutschen verlöre?“

Die Zeit, 18. 2. 2016, S. 1


Was wollen wir weitergeben? Besitz ist den Bundesbürgern eher unwichtig, ihre Arbeit aber lieben sie. Sie haben mehr Angst vor Ausländerhass als vor Überfremdung. Die Soziologin Jutta Allmendiner erklärt die Ergebnisse der neuen ZEIT-Studie über Werte und Normen. Ein Gespräch von Andreas Lebert und Wolfgang Uchatius

„Allmendinger: (…) Der soziale Aufstieg wird über alle Schichten und Altersgruppen als großer Wert empfunden. Auch das Wir-Gefühl ist extrem wichtig. Das gehört zu den Themen, bei denen wir die höchsten Zustimmungswerte überhaupt verzeichnet haben.

ZEIT: Extrem hohe Zustimmung gab es auch bei einer scheinbaren Nebensächlichkeit: der Bedeutung gemeinsamer Mahlzeiten.

Allmendinger: Ja, eine ganz starke Norm, die ebenfalls zeigt, wie wichtig das ‚Wir‘ ist: Gemeinsames Essen hält die Gemeinschaft zusammen. Und auch hier gibt es die massive Angst, dass das verloren gehen könnte.“

Die Zeit, 18. 2. 2016, S. 15


Marhallplan für Syrien. Kein Land zahlt so viel für die Syrien-Hilfe wie Deutschland. Darin zeigt sich vor allem die deutsche Überforderung. Von Hannes Soltau

„(…) Dass ausgerechnet die deutsche Regierung bei der Geberkonferenz für mehr Zusammenhalt in Europa warb, ist bemerkenswert. Noch vor wenigen Jahren wollte dieselbe Regierung von Solidarität nichts wissen: Als im Jahr 2011 Tausende Flüchtlinge auf der Insel Lampedusa landeten, die italienische Regierung den humanitären Notstand ausrief und andere EU-Länder um Hilfe bat, versagte Innenminister Thomas de Maizière diese Hilfe mit den Worten: ‚Italien ist gefordert, aber noch lange nicht überfordert.’“

Die Zeit, 18. 2. 2016, S. 31


SPD-Politikerin landet mit Rede Facebook-Hit. Von DPA

„Die SPD-Abgeordnete Natascha Kohnen hat mit einer Landtagsrede zur Flüchtlingspolitik den bisher größten Hit der bayerischen Politik in den sozialen Netzwerken gelandet. Bis Dienstagnachmittag sahen sich (…) mehr als 400 000 Menschen ihre flammende Kritik am Kurs der CSU in der Flüchtlingspolitik an. ‚Seit drei Monaten gehen Sie dem ganzen Land auf die Nerven mit ihrem populistischen Rausgeplärre‘, hatte sie den CSU-Kollegen in der Plenarsitzung vor zwei Wochen entgegengeschleudert. (…).“

Süddeutsche Zeitung, 17. 2. 2016, S. R 13


Angstfreie Verletzbarkeit. David Grossman geht in seinem neuen Roman unter die Alleinunterhalter – und es ist ihm richtig ernst. Von Insa Wilke

„(…) ‚Ich möchte‘, sagt Dovele ihm, ‚ich möchte, dass du mich siehst. Dass du mich ganz genau anschaust‘. Es geht um das ‚innere Leuchten‘, das ‚was von einem Menschen ausgeht, ohne dass er Kontrolle darüber hat‘.“

Süddeutsche Zeitung, 17. 2. 2016, S. 12


Seehofer kritisiert „Empörungskampagne“. Von DRU

„(…) Seine Aussage, wonach es in Deutschland eines ‚Herrschaft des Unrechts‘ gebe, wiederholte Seehofer allerdings nicht noch einmal. Mit diesem Begriff aus einem Interview hatte er in der Woche zuvor bundesweit für Empörung gesorgt. Auch in seiner eigenen Partei hatte es Kritik daran gegeben, da die Bezeichnung stark an einen ‚Unrechtsstaat‘ erinnere, wie etwa die DDR einer war. Seehofer zeigte indes nicht die Spur von Reue oder Bedauern. Stattdessen beschimpfte er Medien und Politiker, die ihn absichtlich falsch verstanden hätten. Er habe wieder einmal ‚den putzigen Versuch einer Empörungskampagne gegen mich erleben‘ dürfen, sagte er. Doch solche Kampagnen hätten immer nur den Effekt, dass er noch mehr Solidarität von der Bevölkerung erfahre.“

Süddeutsche Zeitung, 15. 2. 2016, S. R 15


Bürger für Europa. Man kann eh nichts tun? Stimmt nicht. Wenn die überzeugten Europäer aller Länder gemeinsame Sache machen, sind sie stärker als die Populisten. Plädoyer für einen Neuanfang. Von Evelyn Roll

„In der nächsten Woche beim EU-Rat wird sich zeigen, ob es die Europäische Union im eigentlichen Sinn überhaupt noch gibt, ob die 28 Länder sich in der Flüchtlingsfrage wenigstens auf einen Minimalkonsens einigen können. Es wird, auch wenn das nicht gelingt, nicht den einen großen Knall geben, mit dem die europäische Union dann auseinanderfliegt. Abner sie löst sich mehr und mehr auf in zu wenig Solidarität, Ernsthaftigkeit, Enthusiasmus und zu große Skepsis.

(…) Aktionen und Forderung europaweiter Bürgerbewegungen könnten jedenfalls sein: Einsetzung eines Europäischen Flüchtlingsbeauftragten, Einberufung eines Konvents über die Zukunft Europas, Trasparenz der europäischen Institutionen, Stärkung des europäischen Parlaments, solidarische und gerechte Verteilung von Pflichten und Lasten. (…)

Und allein das könnte den Briten deutlich mache, wie dumm und, das auch: unsolidarisch ein Brexit wäre. (…)

Eine Bürgerbewegung für Europa heißt aber natürlich nicht, blind und bedingungslos einfach dafür zu sein. Ganz im Gegenteil. Europa kritisieren gehört dazu: Europapolitik muss 28 Ländern nützen, nicht nur den großen Starken. Ein deutsche Europa ist keine Lösung. Die Euro-Zone muss solidarisch konsolidiert werden zu einer Wirtschafts- und Sozialunion. (…)

Eine Europapartei gründen also? Ist das jetzt nicht etwas naiv? – Natürlich. In der Naivität dieser Idee liegt ihre Kraft. Und wirklich naiv wäre nur, gar nichts zu tun.

Europäer aller Länder, vereinigt euch!“

Süddeutsche Zeitung, 13./14. 2. 2016, S. 49


Wenn die Welt an Religion erkrankt. Micha Brumlik, Margot Käßmann und Milad Karimi über die Bedeutung von Glaube und Religion in der Flüchtlingsfrage. Von Bettina Röder.

„(…) Der Dialog der Religionen über all diese Fragen ist überfällig. Der Diskussionsabend in Berlin war ein wichtiger Beitrag. Und es soll nicht der letzte sein, wie die Veranstalter angekündigt haben.“

Publik Forum, 12. 2. 2016, S. 32 f


Die Würde des Menschen zu schützen ist unser Ziel“. Ein einzigartiges Bündnis fordert: Deutschland muss ein weltoffenes Land bleiben! Die ZEIT dokumentiert den Aufruf in Auszügen.

„(…) Gerade in Krisenzeiten dürfen wir die rechtsstaatlichen, sozialen und humanitären Errungenschaften unserer Gesellschaft nicht aufgeben. Die Würde des Menschen zu schützen ist unser Ziel. Deshalb engagieren wir uns mit vereinten Kräften für Weltoffenheit, Solidarität, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Deutschland und Europa.

Dr. Zekeriya Altug, Sprecher, Koordinationsrat der Musline

Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm, Landesbischof, Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

Reiner Hoffmann, Vorsitzender, Deutscher Gewerkschaftsbund

Ingo Kramer, Präsident, Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände

Kardinal Dr. Reinhard Marx, Erzbischof, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz

Prof. Dr. Rolf Rosenbrock, Präsident, Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege

Dr. Josef Schuster, Präsident, Zentralrat der Juden in Deutschland

Prof. Christian Höppner, Präsident, Deutscher Kulturrat

Alfons Hörmann, Präsident, Deutscher Olympischer Sportbund

Prof. Dr. Kai Niebert, Präsident, Deutscher Naturschutzring“

Die Zeit, 11. 2. 2016, S. 2


Ist er so perfide … oder sind wir so dumm? Zwischen Putins Angriff und Obamas Abwesenheit – noch nie war Europa so einsam wie heute: Ds ist auch eine Chance, die neue geopolitische Lage illusionslos in den Blick zu nehmen. Von Bernd Ulrich

„(…) Aber eines ist klar: Ohne den Abschied von den Illusionen über Wladimir Putin und ohne das Eingeständnis, dass Barack Obama sie verraten hat, versperren sich die Europäer den blick auf die Wirklichkeit, in der aus dem Spiel um die macht im Mittleren Osten schon längst das Spiel um die zukunft der EU geworden ist. Und sie verstellen sich den Weg zu ihrer größten eigenen Stärke: der Solidarität.“

Die Zeit, 11. 2. 2016, S. 3


Jörg, hier ist Frohsinn“. Roger Willemsen zeigte eine unfassliche Haltung, bis in den Tod. Seine letzten Nachrichten waren voller Dankbarkeit für das Leben und die Gegenwart, die er so liebte. Von Jörg Bong

„(…) Anti-Narzissmus hieß das Programm in dieser Hinsicht: der Andere! Auch das Andere. Die Differenz, ja. Im Gespräch nicht immer bloß sich selbst zu hören. Im Hinsehen nicht nur das Eigene zu sehen. Er begriff das als ein radikales Lieben, und das tat er verschwenderisch: lieben. Unterwegs hat er viele großartige Freunde gefunden. Zusammenarbeit begriff er prinzipiell als eine ‚Verschwörung‘. Als eine Mitarbeit an einem Engagement, bei dem auch er nur Mitarbeiter war. Auch an ganz konkreten Engagements, bei denen er sich – wie bei allem anderen – mutwillig verausgabte: seiner Arbeit für Amnesty International, für Care. Unzählige Auftritte hat er bestritten, Honorare abgegeben, bedeutende Teile seines Vermögens. Ohne ein Wort darüber zu verlieren.“

Die Zeit, 11. 2. 2016, S. 39


Sinngemäß: Papst Franziskus hat angesichts der erneuten heftigen Angriffe zu verstärkter internationaler Solidarität für die syrische Zivilbevölkerung aufgerufen.

Bayerischer Rundfunk, Bayern 4, 7. 2. 2016, Nachrichten um 17 Uhr


BWL im Gebetskraftwerk. Theodolinde Mehltretter vertraut auf Führungsstärke und Barmherzigkeit: Einst leitete sie Adelholzener, heute kümmert sie sich um Nonnen im Alter. Von Christian Krügel

„Theodolinde Mehltretter zögert keine Sekunde, wenn man sie nach Barmherzigkeit und Führungsverantwortung fragt. ‚Natürlich passt das zusammen‘, sagt sie im Brustton der Überzeugung. ‚Es geht nicht darum, immer nur lieb zu sein. Barmherzigkeit heißt, stets mit Wohlwollen den Mitarbeitern zu begegnen und ein gutes Ergebnis für alle anzustreben, das man gemeinsam erreicht. Manchmal hart und konsequent, aber immer ehrlich, offen und dem Menschen zugewandt.’“

Süddeutsche Zeitung, 6./7. 2. 2016, S. R 6


Leute des Tages. Von EPD

Bundespräsident Joachim Gauck hat dem früheren Münchner Oberbürgermeister und Bundesminister Hans-Jochen Vogel (SPD) zu dessen 90. Geburtstag gratuliert. (…) Gauck würdigte Vogels Engagement gegen Rassismus und Rechtsextremismus: ‚Sie haben nämlich aus der Geschichte gelernt, gerade aus Ihrer eigenen jugendlichen Verführbarkeit.‘ Die Solidarität mit Israel sei für Vogel eine Selbstverständlichkeit. Vogel gründete vor 50 Jahren die Deutsch-Israelische Gesellschaft mit sowie vor mehr als 20 Jahren den Verein „Gegen Vergessen – Für Demokratie‘.“

Süddeutsche Zeitung, 6./7. 2. 2016, S. R 6


Außenansicht. Helles Land, dunkles Land. Die Schonfrist für Deutschland ist vorbei – die Niederländer ringen schon länger mit Problemen, wie sie jetzt ihre Nachbarn erleben. Von René Cuperus

„(…) Wie die Niederländer werden auch die Deutschen euroskeptischer werden. Nicht, weil sie antieuropäisch sind, sondern weil sie das heutige Europa für nicht gut geführt und verwaltet halten und weil es sie stört, dass viele Mitgliedsstaaten die solidarische europäische Schicksalsgemeinschaft untergraben.“

Süddeutsche Zeitung, 5. 2. 2016, S. 2


Das große Teilen. Die Armen dieser Welt haben sich auf den Weg zu uns gemacht, weil auch sie Wohlstand wollen. Für uns heißt das: Wir werden Verzicht lernen müssen. Von Marc Brost und Mark Schieritz

„(…) In diesen Wochen trifft die Ungerechtigkeit der Welt auf die Ungerechtigkeit in den westlichen Staaten. (…) Aber es besteht Grund zur Hoffnung, dass sich etwas ändert – aus der Erkenntnis, dass der Preis der weltweiten Ungleichheit ein Leben hinter Mauern und Stacheldraht wäre. Nicht nur für die Armen, sondern auch für uns. (…) Wenn wir nicht teilen, dann werden unsere Staaten gated communities der Globalisierung. Und wenn die Geschichte eines lehrt, dann dieses: Mit Gewalt und Abschreckung lässt sich kein Ordnung auf Dauer begründen.“

Die Zeit, 4. 2. 2016, S. 6


Die Verbannten. Wen meinen wir, wenn wir von Flüchtlingen sprechen? Erst jetzt wird sichtbar, in welchem Ausmaß wir es mit den „Illegalen“, den „sans-papiers“, zu tun haben. Von Adam Soboczynski

„(…) Der sans-papiers kommt der vom italienischen Philosophen Giorgio Agamben zitierte altrömischen Figur des Homo sacer nahe, des aller Rechte beraubten Menschen. (…) Zuwanderer sind als politisch Verfolgte und Hochqualifizierte bis zu einem gewissen grad durchaus erwünscht, der sans-papiers aber fällt durch jedes Migrationsraster. (…) Und man fragt sich, wo eigentlich jener Typus des Sozialdemokraten abgeblieben ist, der nach Köln nicht nur an Ausweisungen und neue Polizeieinheiten denkt, sondern an robuste und ausdauernde Sozialarbeit, die derzeit notwendig wäre, um den Ausgestoßenen der Zuwanderung zu einem Mindestmaß an Ansehen und Respekt zu verhelfen. (…) Die Verbannten werden nur als Täter sichtbar. Als Opfer politisch bedingter Ausgrenzung kommen sie unter keinen Umständen in Betracht.“

Die Zeit, 4. 2. 2016, S. 35


Miese Sieger. Erfolg fördert die Neigung zu unethischem Verhalten. Von Sebastian Herrmann

„Ein erfolgreicher Wettkampf weckt manchmal die dunklen Seiten des menschlichen Wesens. Sobald ein Triumph über einen Konkurrenten errungen ist, befördert dies unethisches und unehrliches Verhalten des Siegers. Das berichten Amos Schurr und Ilana Ritov von der Ben-Gurion-Universität und der Hebräischen Universität Jerusalem (…). (…) Demnach empfinden erfolgreiche Menschen eher das Gefühl, ihnen stünden Privilegien zu. Haben sie nicht allen bewiesen, dass sie besser als andere sind? Und mit diesem Gefühl im Hinterkopf steigt die Bereitschaft zu unethischem Verhalten.“

Süddeutsche Zeitung, 3. 2. 2016, S. 14


Das können wir schaffen“. Prognose des Landratsamts: Bis April könnten 2400 Flüchtlinge im Landkreis unterkommen, bis Jahresende sogar 3200. Von kho

„Während in München und Berlin heftig um Obergrenzen für weitere Flüchtlinge gestritten wird, hat das Dachauer Landratsamt verschiedene Szenarien durchgerechnet und sich auf die Bewältigung der anstehenden Aufgaben konzentriert. (…) ‚Diese 2400 Plätze können wir schaffen‘, erklärte Landrat Stefan Löwl. (…) Die Anmietung zusätzlicher Areale und Gebäude erweise sich jedoch als schwierig, räumte Löwl ein. ‚Im Vorfeld ist die Aufregung groß, doch sobald eine Einrichtung steht, beruhigt sich die Lage wieder.’“

Dachauer Rundschau, 3. 2. 2016, S. 12


Bundesrüpelblik Deutschland. Die USA gelten vielen als unzivilisiert und rau. Aber eigentlich geht es bei uns viel chaotischer zu: Sexuelle Belästigung wird kaum geahndet. Und es gibt Gesetze, an die sich kein Mensch hält. Von Jörg Häntzschel

„In den USA (…) geißelt man gern die europäischen ’nanny states‘, die Kindermädchenstaaten, für ihre angebliche Einmischung in das Leben der Bürger und für ihre Sozialmaschinerie, die die Erfolgreichen bestrafe und die Schwachen und Faulen noch schwächer und fauler mache. (…)

Während der amerikanische Staat sich die Forderungen von Schwarzen-, Frauen- und Schwulenbewegung seit den Siebzigern immer mehr zu eigen gemacht hat und sich deshalb entschlossen in das gesellschaftliche Miteinander einmischt, zieht sich der deutsche Staat daraus zurück. (…) In der Regel kommt die Liberalität eher den Tätern, nicht den Opfern zugute, den Starken, nicht den Schwachen. Sie sind strukturell im Vorteil. Eine Debatte über das Verhalten einiger Einwanderer ist möglich; sie wird auch dazu beitragen, dass Exzesse wie in Köln nicht mehr stattfinden. Eine Debatte über das Verhalten von Deutschen wird hingegen nicht geführt, und nicht nur was das Verhalten gegenüber Frauen angeht. Kehrt man nach ein paar Jahren in den USA nach Deutschland zurück, ist man erstaunt darüber, wie ruppig, gleichgültig und missgünstig man in Deutschland miteinander umgeht. Niemand will eine Benimmdebatte. Aber wie wäre es mit einer Debatte darüber, wie sich das Miteinander angenehmer, zivilisierter gestalten ließe?

(…) In den USA, wie in den meisten westlichen Ländern, ist das ‚hate crime‘ als Straftatbestand seit Langem eingeführt: Jedes Verbrechen, das motiviert ist durch die Zugehörigkeit des Opfers zu einer bestimmten Gruppe (…), wird besonders scharf geahndet. Es macht einen Unterschied, ob ich jemanden beleidige, oder ob ich ihn als Schwulen beleidige. In Deutschland gibt es, abgesehen von Volksverhetzung, nichts Vergleichbares. (…)

Woher dieses neue, uneingestandene Laisser-faire in Deutschland stammt, ist klar: Der deutsche Staat hat sich im Nationalsozialismus und in der DDR so gründlich in das Privatleben seiner Bürger eingemischt wie in keinem anderen westlichen Land. (…)

Immer steht dabei (in den USA; Hinzufügung M-H) die Frage im Raum, wie sich das Zusammenleben gerechter und freundlicher organisieren ließe. Es ist eine Frage, die in Deutschland erstaunlich selten gestellt wird.“

Süddeutsche Zeitung, 2. 2. 2016, S. 11


Januar 2016


Schäm dich. Grabschen geht gar nicht. Oder: Nicht mehr? Wie unsere Gesellschaft sich ihre liberale Moral erkämpfte. Von Till Briegleb

„(…) Solange die Vorstellung in den – westlichen – Menschen siegt, dass ihnen allein ihr individuelles Versagen die Anerkennung der Gesellschaft vorenthält, fesselt ein Gefühl von Scham sie in Ohnmacht. Deswegen konnte die Befreiung von Schamängsten in der Geschichte immer nur dann gelingen, wenn große Gruppen von Menschen sich von ihrer emotionalen Isolation durch Solidarität befreiten.“

Süddeutsche Zeitung, 30./31. 1. 2016, S. 17


Öko? Ego! Weltrettung, das war einmal. Heute versucht man, die globalen Herausforderungen mit Bio-Läden und Gesundheitswahn zu lösen. Von Patrick Illinger

„(…) Psychologen haben die sedierende Wirkung des Bio-Konsums längst entschlüsselt.: Gutes handeln funktioniert nur in kleinen Dosen. (…) Nach einem Kauf im Bioladen, so haben es mehrere Verhaltensexperimente gezeigt, sinkt die Hilfsbereitschaft, die Neigung zu Niedertracht steigt.“

Süddeutsche Zeitung, 30./31. 1. 2016, S. 49


Personen und Konflikte

„Barbara John, langjährige Ausländerbeauftragte der CDU in Berlin, wirft den Kirchen vor, ihre Positionen in der Asyldebatte im Ton moralischer Überlegenheit vorzutragen. Wenn der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, erklärte, dass jeder Flüchtling ein Abbild Gottes sei, sei dies zwar richtig, doch solche Aussagen hätten ‚keine Bedeutung für eine klare Flüchtlingspolitik‘. 

Kritisiert wurde Marx auch beim Treffen der CSU in Wildbad-Kreuth. Auch der barmherzige Samariter wäre überfordert gewesen, wenn er sich (…) um fünf Schwerverletzte hätte kümmern müssen, sagte ein Abgeordneter mit Blick auf die Bibel. Dennoch halten sowohl Marx wie auch der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, an ihrer Haltung fest. Er frage sich, was passiert, ‚wenn ein Land nach dem andern die Grenzen schließt‘, sagte Bedford-Strohm. Darauf erwarte er eine Antwort von der Politik.“

Publik-Forum, 29. 1. 2016, S. 6


Wird sie springen? Viele in Europa halten Merkels Flüchtlingspolitik für verrückt. Doch so einfach ist es nicht. Die Kanzlerin verfolgt eine Strategie. Und die ist hochriskant. Von Matthias Krupa und Bernd Ulrich

„(…) Merkels politische Didaktik braucht den Blick in den Abgrund. (…) Erst wenn alle Europäer sich bildlich vorstellen müssen, wie eine EU ohne merkel aussähe, was dem Kontinent blüht, wenn nun auch Deutschland die Binnengrenzen dicht macht, wie die Lkw sich an den Schengen-Grenzen stauen, erst wenn sie die neuen Zäune schon beinahe berühren können und das Blut am Stacheldraht zu schmecken vermeinen, erst dann ist eine Wende in Richtung europäischer Solidarität möglich.

(…) Lange wird Deutschland in Europa nicht mehr isoliert sein. Entweder die anderen helfen dem gutwilligen, aber zu schwachen Hegemonen bei dar Flüchtlingsarbeit, oder das Land in der Mitte schließt – wie alle anderen auch – seine Grenzen. Auch dann ist Europa wieder geeint. Es ist dann bloß ein anderes Europa.“

Die Zeit, 28. 1. 2016, S. 3


Und plötzlich rebelliert er. Jahrelang ließ Europa Italien mit den Flüchtlingsströmen allein. Jetzt sperrt sich Premier Matteo Renzi dagegen, die EU-Politik zu unterstützen.Von Birgit Schönau

„ (…) Ohnehin ist Renzi der Meinung, Italien habe bereits genug für Europa gegeben – in jener Zeit, als die Masse der Flüchtlinge über das Mittelmeer kam und nicht über den Landweg. Jahre, in denen Europa von Italien verlangte, die Außengrenzen zu sichern und dafür zu sorgen, dass die ungebetenen Einwanderer nicht weiter nach Norden reisten. Wie der Partner im Süden mit dem Problem fertigwurde, interessierte Brüssel wie Berlin damals wenig. Die Kosten für die Operation Mare Nostrum etwa, mit der vor Sizilien 150 000 Flüchtlinge gerettet wurden, trug Italien allein.“

Die Zeit, 28. 1. 2016, S. 4


Ich war nie zu spät.“ Hans-Jochen Vogel wird 90. Ein Gespräch über Selbstkontrolle und den Kontrollverlust der Politik. Gespräch: Marc Brost und Jochen Lang

„(…) ZEIT: Was sind für Sie die Ideale der Sozialdemokratie?

Vogel: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. (…)

ZEIT: Hält die SPD diese Werte noch hoch genug?

Vogel: Sie bemüht sich nach Kräften.

ZEIT: Das heißt: Nein.

Vogel: Entschuldigung, das ist jetzt eine unzulässige Schlussfolgerung. Ich bin durchaus damit einverstanden, dass wir die Mitte ansprechen. Ich wünsche mir aber, dass wir der zunehmenden sozialen Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft dieselbe Bedeutung zumessen.“

Die Zeit, 28. 1. 2016, S. 9


Neubürgerin abgeholt

„WEIBOLDSHAUSEN – Für Bürgermeister Hans Seibold war es ‚eine Dienstleistung in Reinkultur‘, seine jüngste Gemeindebürgerin willkommen zu heißen. Höchstpersönlich holte er die kleine Evangelina zusammen mit ihren Eltern Hanna und Vasyl im Weißenburger Krankenhaus ab. Evangelina erblickte am 20. Januar morgens das Licht der Welt und wohnt zurzeit mit ihren Eltern im alten Pfarrhaus in Weiboldshausen, in dem nun 18 Asylbewerber leben. (…)“

Weißenburger Tagblatt, 25. 1. 2016, S. 19


Du hast drei Tage Zeit“. Sie sollte ihrem Glauben abschwören: Die Sudanesin Meriam Ibrahim weigerte sich und wurde zum Tode verurteilt. Eine italienische Journalistin organisierte die Rettung der Christin – und schrieb ein Buch darüber. Von Antonella Napoli

„(…) Daniel schämte sich nicht, wenn ihm die Tränen in die Augen traten. (…) Außerdem war da die internationale Anteilnahme, die nicht im Mindesten nachließ oder abebbte, im Gegenteil: De Druck auf die sudanesische Regierung wurde von Tag zu Tag größer und massiver. Diese Demonstration der Nähe und Solidarität erfüllte ihn mit Stolz. (…)

Regierungschef Matteo Renzi sagte der Initiative offiziell seine Unterstützung zu. In diesem Freiheitskampf stand Italien an vorderster Front. Er sagte: ‚Wenn Europa angesichts eines Falls wie Meriams, die zum Tode verurteilt worden ist, weil sie ihren Glauben nicht verleugnet hat, und die ihr Kind im Gefängnis zur Welt bringen muss, schwiege, oder, schlimmer noch, sich hinter leeren Slogans und rhetorischen Floskeln verstecken und sich weiterhin hinter seinen Grenzen verschanzen würde, statt sich auf seine Werte zu besinnen, dann beginge es Verrat an dem Zweck, zu dem es entstanden ist, und veröre für immer seine Identität und seinen Platz in der Welt. Und wir wären es nicht mehr wert, uns Europa zu nennen.’“

Die Zeit, 21. 1. 2016, S. 50


Wien setzt Obergrenze für Flüchtlinge. Österreich will bis Ende 2019 höchstens 127500 Asylbewerber aufnehmen – die Kanzlerin übt Kritik, die CSU sieht sich bestätigt. Bundespräsident Gauck rügt die mangelnde Solidarität Osteuropas.Von Kathrin Kahlweit, Daniela Kurr und Jan Bielicki

„Bundespräsident Joachim Gauck verlangte eine offene Debatte über die Begrenzung des Zuzugs. Diese sei ’nicht per se unethisch‘, sagte Gauck am Mittwoch beim Weltwirtschaftsforum in Davos. (…) Zugleich warnte er vor einem Zerbrechen Europas: ‚Wollen wir wirklich, dass das große historische Werk, das Europa Frieden und Wohlstand gebracht hat, an der Flüchtlingsfrage zerbricht?‘, fragte er. Scharfe Kritik übte er an der mangelnden Solidarität innerhalb Europas in der Flüchtlingskrise. Er könne ’nur schwer verstehen, wenn ausgerechnet Länder Verfolgten ihre Solidarität entziehen, deren Bürger als politisch Verfolgte einst selbst Solidarität erfahren haben‘.“

Süddeutsche Zeitung, 21. 1. 2016, S. 1


Ein Weltbürger. Der Aktionsradius zwischen Amerika, Europa und Israel war ihm zur neuen Heimat geworden: Im Alter von 96 Jahren ist der britische Verleger und Diplomat George Weidenfeld gestorben.Von Alexander Menden

„Der von ihm eigens gestiftete ‚Weidenfeld Safe Havens Fund‘ dient seit Ende 2015 der Unterstützung von Christen aus dem Nahen Osten, die vor dem IS flüchten. ‚Ich habe eine Schuld zu begleichen‘, sagte der Verleger, Diplomat und Philanthrop vergangenen Oktover in der BBC. Christen hätten ihm das Leben gerettet, nachdem er als 19-Jähriger vor den Nazis aus seinem Geburtsland Österreich nach England geflohen sei: ‚Sie nahmen mich auf wie einen Sohn, sie intervenierten beim Innenministerium und sorgten dafür, dass auch meine Eltern gerettet wurden.‘

(…) Was Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ‚auf dem Gebiet der Erfüllungs- und Versöhnungspolitik‘ erreicht habe, sei ‚beispiellos in der Geschichte‘. Gerade sein nie versiegendes Interesse an Deutschland bewegte ihn dazu, die Deutschen zu kritisieren, wenn er eine Fehlentwicklung zu entdecken glaubte. So nannte er die seiner Meinung nach wahllose Aufnahmebereitschaft der Deutschen in der Flüchtlingskrise (…) ‚Ignoranz‘. Die deutsche Öffentlichkeit freue sich, ‚als könnte man damit die Schuld der Großeltern wieder tilgen, Hitler ausmerzen, indem die Deutschen endlich die Guten sind‘.

Süddeutsche Zeitung, 21. 1. 2016, S. 12


Köln. Von Opfern, Tätern – und was dahintersteckt. Forum und Leserbriefe

(…) Die öffentliche Wahrnehmbarkeit dieser sexualisiserten Gewalt löste einen Aufschrei der Empörung aus. Einen vergleichbaren Solidaritätsschub vermissen wir in unserer alltäglichen bundesweiten Internetberatung www.gewaltlos.de für weibliche Opfer von Gewalt. (…) Wir wünschen uns, dass Opfern von Gewalt grundsätzlich Gehör geschenkt wird – unabhängig vom Tatort und unabhängig vom Täter, und dass man ihnen glaubt.

Maria Elisabeth Thoma, Köln, Vorstandsvorsitzende www.gewaltlos.de

Süddeutsche Zeitung, 21. 1. 2016, S. 13


Die Rosenheim-Angie. Oberbürgermeisterin Gabriele Bauer hält sich beim Thema Flüchtlinge nicht an den üblichen CSU-Sound. Ihr Motto: Wir meistern das. Von Matthias Köpf

„Spätestens seit sie das große München gerade rechtzeitig zum Oktoberfest als wichtigster Ankunftsort für die Flüchtlinge in Oberbayern abgelöst hat, ist die Stadt Rosenheim zu einem der Brennpunkte der deutschen Flüchtlingspolitik geworden. Doch just während ihre CSU-Parteifreunde in Kreuth an immer neuen Forderungen zur Verschärfung dieser Flüchtlingspolitik feilen, hält Rosenheims Oberbürgermeisterin Gabriele Bauer beim großen Neujahrsempfang ihrer Stadt eine Festrede, deren Tenor ein ganz anderer ist: Wir schaffen das. (…) ‚Rosenheim wird diese Integrationsleistung meistern, weil wir eine starke Stadt und ein starker Landkreis sind‘, ausgestattet mit ‚den Mitteln und dem Willen, denen zu helfen, die auf unsere Hilfe angewiesen sind‘. (…) ‚Als Frau, die selber ein Flüchtling war‘, spricht Bauer zu ihren etwa 1000 Zuhörern und weicht mit dem Satz fast unwillkürlich von ihrem Manuskript ab. Sie hat ihre eigene Biografie nie groß nach außen getragen, doch seit ihre Eltern 1961 mit der neunjährigen Gabriele den politischen Pressionen der damaligen DDR gerade noch nach Westberlin entkommen konnten, weiß die heutige Oberbürgermeisterin von Rosenheim aus eigener Erfahrung, wie es ist, in Turnhallen zu schlafen. (…)

Dass Bauer mit ihrer Haltung in Rosenheim nicht allein ist, zeigt der Beifall für ihre Rede. Dass sie es auch in der CSU nicht ist, zeigt das Beispiel von Alois Glück: Der einstige Chef der Landtagsfraktion und Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken hat vor einigen tagen bei der Karlsfelder CSU christliche Werte im Umgang mit den Flüchtlingen angemahnt und dafür großen Applaus geerntet.“

Süddeutsche Zeitung, Bayernteil, 21. 1. 2016, S. R 13


Ein Integrationsplan für die Stadt. „Nicht jammern, sondern handeln‘: Oberbürgermeister Dieter Reiter will flächendeckend Sprachkurse für Flüchtlinge anbieten und die Bedingungen in den Unterkünften verbessern. Die CSU warnt er davor, Ressentiments und Neid zu schüren.Von Christian Krügel und Melanie Staudinger

„Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) kündigt einen ‚Integrationsplan für ganz München‘ an. Damit soll gewährleistet werden, dass Asylbewerber in der gesamten Stadt unabhängig von ihrer Unterkunft und dem Engagement örtlicher Helferkriese Deutschunterricht bekommen und sich rasch in das deutsche Rechti- und Wertesystem integrieren. Bereits in der kommenden Woche wolle er mit Vertretern des Bildungs- und Sozialreferats zusammenkommen, um seine Idee möglichst rasch umzusetzen, sagte Reiter der Süddeutschen Zeitung.

(…) Das Gerede von Obergrenzen und Grenzzäunen klinge zwar am Stammtisch gut, helfe aber kein bisschen weiter, um konkrete Probleme zu lösen.“

Süddeutsche Zeitung, 18. 1. 2016, S. R 1


Personen und Konflikte

„Joan Baez, Sängerin und Bürgerrechtlerin, berühmt geworden durch ihre politisch-musikalischen Auftritte, (…) sieht heutige Protestformen mit Skepsis. ‚Es ist sehr leicht, mal eben einen Hashtag zu retweeten‘, sagte sie in einem Interview zu ihrem 75. Geburtstag am 9. Januar, ‚aber um Veränderungen herbeizuführen, muss man oft Risiken eingehen.’“

Publik Forum, 15. 1. 2016, S. 7


Schön wär’s, wenn’s schöner wär. Was kann, was muss deutsche Kultur heute sein. Ein Desintegrationskurs. Von Shermin Langhoff

„Die Landschaften und die Kultur in Deutschland eint deshalb vor allem eines: Sie sind geprägt von der Vernichtung der Moralität durch den Faschismus. Wenn ich die Frage, was deutsch sei, positiv beantworten sollte, dann ist es die Entwicklung jener Kritik-Kultur zumindest in der Kunst als kritisch-politische Praxis. (…)

Es ist der deutschen Lust an zusammengesetzten Begriffen geschuldet, dass ich bis heute Deutschtürkin bin. Man kann also denken: im Kern deutsch, im Kopf Türkin. Seltsam, wenn ich es mir aussuchen müsste, wäre ich es lieber andersherum. Am liebsten aber wäre mir, wenn es gar keine Rolle spielte. (…)

(…) Wenn ich mich in irgendwas integriert fühle, dann in den daraus erwachsenen Kulturzusammenhang der Kritik-Kultur. Er hat mich von der Shoah an die Wurzeln der türkischen Tätergeschichte geführt: zur langen Geschichte des Verschweigens und Verleugnens des Völkermords an den Armeniern. (…)

Die Menschen, die in den letzten Jahrzehnten nach Deutschland gekommen sind, müssen nicht kulturell integriert werden, sie sind es bereits, weil sie zur Bevölkerung gehören. (…) Aber Achtung: Kultur ist kein Integrationskurs oder wenn, dann für alle.“

Süddeutsche Zeitung, 13. 1. 2016, S. 9


Menschenfreund. Die Flüchtlingssituation sieht einer wie Jürgen Micksch gelassen. „Menschen lernen, miteinander auszukommen“, sagt der Mann, der vor dreißig Jahren Pro Asyl gegründet hat. Porträt eines Unbeugsamen. Von Bernd Kastner

„Aufgeregte Diskussionen wie jetzt um die vielen Flüchtlinge bringen Micksch nicht aus der Ruhe. Für ihn ist das die längst erwartete Globalisierung. ‚Flüchtlinge sind Botschafter für Veränderungen.‘ So hat er den ersten Satz seiner zehn ‚Tutzinger Thesen‘ formuliert, die er zusammen mit der Asyl-Häuser-Idee zum ‚Tutzinger Impuls‘ kombiniert hat. Darin ist das Micksche Denken skizziert. Kriege vertreiben die Menschen ebenso wie Hunger und Armut; die Klimaerwärmung wird alles verschlimmern, und wenn Europa die Meere vor Afrika plündert, tut das das Übrige.

(…) Micksch wirkt als Mediator zwischen Religion und Politik; er reicht Politikern einen ethischen Kompass. Jetzt treibt ihn der Rechtsextremismus und der Islamhass.

(…) Drei Weltreligionen gehen auf Abraham zurück, da müssten die drei doch miteinander auskommen. Abrahamische Teams, bestehend aus Christen, Muslimen und Juden, sollen eine neue Form der politisch-religiösen Integration praktizieren und lehren. Und da Jürgen Micksch gerne nachhaltig handelt, hat sich noch ein neues Projekt ausgedacht: ‚Religionen für biologische Vielfalt.‘

( ..) Micksch predigt den ‚Wandel durch Kontakte‘. Den Anderen, den Fremden kennenzulernen ist Gift für Vorurteile.

(…) Micksch ist Fänger und Finder. Er findet zur rechten Zeit die richtigen Worte. Den ‚ausländischen Mitbürger‘ etwa, als Ausländer noch weit außerhalb lebten, und die ‚multikulturelle Gesellschaft‘. Das war 1980, als seiner evangelischen Kirche seine bunte Gesellschaft noch suspekt war. Sie verbot ihm den Begriff. Aber da war er schon in der Welt.“

Süddeutsche Zeitung, 9./10. 1. 2016, S. 47


Abschiebung und Ablenkung. Von Heribert Prantl

„Nach den unverschämten Ausschreitungen in Köln wird über eine Verschärfung des Abschiebungsrechts für Flüchtlinge diskutiert; das ist eine billige und nichtsnutzige Forderung. Es gibt schon nach geltender Rechtslage keinen Ahbschiebeschutz für massiv kriminelle Flüchtlinge. Das Gastland muss sich von Kriminellen weder auf der Nase herumtanzen noch an die Geschlechtsteile fassen lassen. (…) Man soll nicht von rechtsfreien Räumen fabulieren; das Recht gilt überall in Deutschland. Man muss es durchsetzen.“

Süddeutsche Zeitung, 8. 1. 2016, S. 4


Brief aus dem Bundestag

5. 1. 2016

„Sehr geehrte Frau Müller-Hohagen, sehr geehrter Herr Dr. Müller-Hohagen,

Herr Özdemir hat mich gebeten, Ihnen zu antworten und herzlich für Ihr interessantes Buch zu danken.

Ihr Buch zeigt, welche wichtigen Lehren man aus der Solidarität im Widerstand gegenüber dem NS-Regime ziehen und auf die heutige Zeit bzw. unsere heutigen Krisen übertragen kann.

Wie Sie richtig beschreiben, gab es zwar seitdem viele gesellschaftliche Veränderungen, nichtsdestrotz ist die Solidarität doch das, was unsere Gesellschaft in Krisensituationen zusammenhält. Unabhängig davon, ob es sich um eine Flüchtlingskrise, eine Währungskrise, oder wie in Ihrem Buch beschrieben um eine menschenverachtende Diktatur handelt, ist die Solidarität das Band, das die Menschen gerade in diesen schweren Zeiten zusammenhält.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein frohes und gesundes Jahr 2016.

Herzliche Grüße

Alexander Waltschew


Dezember 2015


Aus der Ansprache des italienischen Staatspräsidenten Mattarella zum Jahreswechsel:

20 Minuten über viele aktuelle Themen, wirtschaftliche Situation, Arbeitslosigkeit, insbesondere unter den Jugendlichen und jungen Erwachsenen, Flüchtlinge, Korruption, Mafia, sehr viel über europäische und italienische Werte – Solidarität aber kommt nicht vor. Oder doch, wenn auch nur kurz, indirekt im Hinweis auf das von Papst Franziskus für 2016 ausgerufene Jahr der Barmherzigkeit. Also: Solidarität nur ein Thema für die Kirchen?

Telegiornale, Rai 1, 31. 12. 15


Aus der Ansprache von Papst Franziskus beim letzten Tedeum des Jahres im Petersdom, sinngemäß:

Er sprach über die Situation der Flüchtlinge und über Unterstützung, die sie im vergangenen Jahr erhielten. In den Medien werde wenig über solche Solidarität berichtet, aber es gebe viel davon in der Gesellschaft.

Telegiornale, Rai 1, 31. 12. 15


Gar nicht so schlecht. Das Jahr 2015 wirkt auf viele sehr düster, als eine Zeit der Kriege, des Terrors und der Angst. Dabei vergisst man schnell, dass sich auch vieles zum Guten gewendet hat. Zum Glück gibt es Menschen wie Hans Rosling, die einem erklären, dass die Welt besser ist, als sie vielen erscheint.

Der Berufsoptimist

„Hans Rosling ist Medizinprofessor und Volkspädagoge. Vorurteile sind für ihn das größte Elend der Welt. Deshalb zeigt er mit Statistiken und Vorträgen, wie gut es den Menschen eigentlich geht.

(…) Hans Rosling (ist) Professor am Karolinska Institutet (…), der Forschungsklinik in Stockholm, die auch den Nobelpreis für Medizin vergibt. (…)

Auf diese Weise arbeitet sich Hans Rosling zufolge die Menschheit glücklichen Verhältnissen entgegen, die dadurch definiert sind, dass jede Familie eine eigene Waschmaschine (‚die größte Erfindung des Industriezeitalters‘) besitze.“

München heißt willkommen. Von Bernd Kastner

Als die Polizei via Twitter die Bürger bittet, doch keine Hilfsgüter mehr zu bringen, weil genügend vorrätig sei an Wasser und Windeln und Süßigkeiten, da ist der Münchner Hauptbahnhof schon von einer simplen Zugstation zum Symbol geworden. Zum Ort des warmen Willkommens für Zehntausende Flüchtlinge, die allein Anfang September hier ankommen. (…) Hunderte Freiwillige organisieren sich selbst, (…) die Behörden lernen das Improvisieren, und die Linken von der Antifa arbeiten Hand in Hand mit der Polizei. (…) Es geschieht Weltbewegendes, im Wortsinne, rund um den Hauptbahnhof. Die Stadt steigert sich in einen Rausch der Solidarität. Helfen macht glücklich.“

Weitere Überschriften:

  • Demokratie für Myanmar
  • Kubas neue Normalität
  • Weniger Kindersterblichkeit
  • Guter Weltklimagipfel
  • Die Kraft von Frau Reker (Kölner Oberbürgermeisterin, die kurz vor der Wahl von einem rechtsradikalen Attentäter lebensgefährlich verletzt wurde)
  • Ebola besiegt
  • Atomwaffenfreies Iran
  • Grundreinigung im Fußball

Süddeutsche Zeitung, 31. 12. 15 / 1. 1. 16, S. 2


60 Millionen, und mehr. Von Andrea Bachstein

„Was UNHCR, Unicef oder Welthungerhilfe erbitten, ist dabei weit weg von dem, was sie bekommen. 2015 ging weniger als die Hälfte des benötigten Geldes ein, es klafft eine Finanzierungslücke von 10,2 Milliarden Dollar. Flüchtlinge bekommen deshalb weniger zu essen, Unterkünfte werden nicht gebaut, medizinische Versorgung kollabiert. (…) Ein Großteil der Hilfefonds wird gespeist von zu wenigen Ländern: USA, Deutschland, Großbritannien, Kuwait vor allem. Wer hier spart, hat nicht nur ein Defizit auf seiner moralischen Rechnung. Solange humanitäre Hilfe unterfinanziert ist, gibt es für niemanden Entlastung in der Flüchtlingskrise. Anfang Februar ist für Syrien eine neue Geberkonferenz geplant – Großbritannien, Deutschland, Kuwait und Norwegen laden ein. Es gehe darum, ‚die Welt noch einmal wachzurütteln‘, sagte Bundeskanzlerin Merke. Indes: gerüttelt wird schon so lange. Meist vergebens.“

Süddeutsche Zeitung, 31. 12. 15 / 1. 1. 16, S. 4


Un nemico non è per sempre. (Ein Feind ist es nicht für immer.) Von Tzetvan Todorov

„Jemanden, der uns heute angreift, als ‚Barbaren‘ oder ‚Monstrum‘ zu bezeichnen ist falsch; wie uns Mandela gezeigt hat, ist es nützlicher, auch bei ihm nach dem Hauch von Humanität Ausschau zu halten. (…)

Eine gewisse Übereinstimmung ist mittlerweile erreicht unter denen, die sich mit den besonderen Eigenheiten der menschlichen Spezies befassen: Es ist nicht mehr möglich zu sagen, dass der Kampf, die Gewalt, der Krieg die bestimmenden Charakteristiken unserer Spezies ausmachen würden. Wenn wir für nur eine Aktivität als dominierend herausstellen wollten, dann wäre das anstelle von Kampf bis zum letzten Blutstropfen die Kooperation. Diese ist allen Populationen auf der Welt gemeinsam.“

La Stampa, 31. 12. 15, S. 26


Reiche wollen nicht, dass andere viel ärmer sind.“ In Experimenten erforscht der Ökonom Matthias Sutter, was Menschen als fair empfinden. Was lässt sich daraus für den Umgang mit der Flüchtlingskrise lernen? Interview: Roman Pletter

„(…) ZEIT: Gerade entsolidarisieren sich die Staaten in Europa eher. Wann entsolidarisieren sich Gruppen aus ökonomischen Gründen?

Sutter: Meine Kollegen Axel Ockefels und Reinhard Selten dazu ein Experiment gemacht, das Solidaritäts-Spiel. Sie ließen drei Leute jeweils eine Lotterie spielen. Jeder konnte zehn Euro gewinnen, aber auch leer ausgehen. Gewinner konnten dann aber etwas an Verlierer abgeben. (…) Das Ergebnis hat für den Sozialstaat große Bedeutung. Es zeigt: Menschen sind eher bereit, Transfers zu unterstützen, wenn die Empfänger ihre schlechtere Situation nicht selbst verschulden. (…)“

Die Zeit, 30. 11. 2015, S. 21


Geben. Von Carolin Emcke

„Die wunderbarsten Menschen, die ich dieses Jahr neu entdeckt habe, sind die, bei denen keine Zweifel auftauchen darüber, wie man leben sollte, mit denen sich hinausgehen lässt, ob sie zugewandert oder alteingesessen, muslimisch oder katholisch sind, ob sie als Polizisten arbeiten oder als Barkeeperin, als Erziher oder als Violinistin, ob sie einen Pass besitzen oder nicht – diese Begegnungen haben all die konventionellen Bezüge von Herkunft oder Glauben, all die fragwürdigen Koordinaten aus Identität und Differenz durchkreuzt (…).“

Süddeutsche Zeitung, 24.-27. 12. 15, S. 5


Es gab auch gute Nachrichten, man muss sie nur sehen.

„Dies war immer wieder ein Jahr zum Verzweifeln. (…) Aber das ist allenfalls die halbe Wahrheit.

Wer genauer hinschaute, konnte dieses Jahr 2015 auch anders lesen. Als Jahr, in dem mehr Menschen dem Hunger entkommen sind als jemals zuvor. In dem wieder mehr Kinder geboren werden in Deutschland. In dem die Menschen in Paris dem Terror trotzen. Deshalb widmet das Politik-Ressort diese Weihnachtsausgabe zum Schluss des Jahres 2015 ausschließlich positiven Geschichten. Nicht weil wir die Augen verschließen wollen vor Not und Elend. (…)“

Die Zeit, 23. 12. 2015, S. 2


Fromme Lüge“. Der syrisch-katholische Patriarch Joseph Younan beschuldigt den Westen, das Leid der Christen zu ignorieren. Gespräch: Evelyn Finger

„Younan: (…) Der Bürgerkrieg ist schlimmer, als das Regime es je war. Europa trägt Mitschuld, dass Hunderttausende starben, denn es applaudierte auch jenen Aufständigschen, die von freiheitlichen Werten nichts hielten. Hollande, Cameron und Merkel ließen sich zu Komplizen von Mördern machen. Und jetzt wundern sie sich über die Flüchtlinge. Sie hätten von Anfang an eine friedliche Lösung für Syrien suchen müssen. (…) Europa wollte weiterhin Waffen an Saudi-Arabien und die Golfstaaten verkaufen. Und die Amerikaner pflegten ihre Feindschaft mit Russland. Davon profitierte der IS. (…)“

Die Zeit, 23. 12. 2015, S. 63


Ende einer Welt. Die Christen im Nahen Osten verlieren die Hoffnung. Sie warten auf ein Zeichen der Solidarität.Von Evelyn Finger

„(…) Vor einem Jahr schrieb Ronald S. Lauder, der Präsident des Jüdischen Weltkongresses: ‚Wo sind die Massenproteste gegen die Massaker an den Christen? Als Jude bin ich entsetzt über die Christenverfolgung, die in Ländern wie dem Irak, Syrien, dem Libanon oder Nigeria stattfindet.‘ (…)“

Die Zeit, 23. 12. 2015, S. 64


Brief aus dem Bundespräsidialamt

21. 12. 2015

Sehr geehrte Frau Müller-Hohagen, sehr geehrter Herr Dr. Müller-Hohagen,

Bundespräsident Joachim Gauck dankt Ihnen für Ihren Brief vom 30. November 2015. Er hat mich gebeten, Ihnen zu antworten und für das Buch „Wagnis Solidarität“ zu danken. Gerne wird der Bundespräsident in diesem Buch lesen, denn die Fragen der Solidarität sind so vielfältig wie aktuell.

Mit freundlichen Grüßen

Im Auftrag

Wolfgang Lackner


Das Time-Magazine hat Angela Merkel zur Person des Jahres 2015 gekürt. Wir haben Politiker und Prominente gefragt: Was halten Sie davon? Wen hätten Sie nominiert?

(…)

1) „Der Hype um Angela Merkel ist politisch naiv. Hier wird eine Ikone stilisiert, obwohl ihre Politik nicht durchdacht und auch nicht ehrlich ist. In der EU-Politik hat sie nie wirklich solidarisch mit den europäischen Nachbarn agiert. In der Flüchtlingspolitik unterminiert sie hintenherum, was sie vorne großherzig ankündigt.“

2) „Alexis Zsipras.“

Gesine Schwan, deutsche Politikwissenschaftlerin

(…)

2) „Meine Alternativen sind: 1. Die deutschen Bürgermeister der Kleinstädte, die wider den Ungeist das Unmögliche versuchen. 2. Die vielen Imame der kleinen Moscheen, verfemt und verlacht, die predigen, dass es keine Gottesliebe ohne Menschenliebe gibt. (…)“

Feridan Zaimoglu, deutsch-türkischer Schriftsteller

Die Zeit, 17. 12. 15, S. 7


Hat die Barmherzigkeit Grenzen?
Für Christen ist sie die vornehmste Eigenschaft Gottes. Ein Pro und Kontra aus aktuellem Anlass

„In der Wirklichkeit betreiben wir Politik, und Nächstenliebe ist keine politische Kategorie. Wir sagen: Unsere Mittel sind begrenzt. Das ist wahr und doch eine fürchterliche Ausrede. Denn wir sind ja noch längst nicht an den Grenzen unserer Mittel angelangt. Die meisten von uns haben einfach Angst, die Haustür zu öffnen, die Kriegsflüchtlinge aufzunehmen (…). Papst Franziskus sagt dauern, dass das nötig sei. Zur Bekräftigung hat er soeben ein ‚Jahr der Barmherzigkeit‘ ausgerufen. Dafür lieben ihn viele Leute, weil er das Richtige predigt, aber werden wir selbst es auch tun? Werden wir zu mehr als Almosen bereit sein? Oder uns lieber weiter schämen? (…) Wir wissen, wir sollten barmherzig sein. Wir wagen es nur nicht, weil wir, nun ja, nicht unbarmherzig, aber engherzig sind.“

Die Zeit, 17. 12. 15, S. 60: Evelyn Finger


Gute Menschen. Seit zwei Jahren hilft unsere Autorin in ihrer Freizeit geflüchteten Familien. Eine ehrliche Bilanz.Von Ann-Kathrin Eckardt

„Es gibt dieses sehr beglückende Gefühl, im richtigen Moment am richtigen Ort zu sein und genau das Richtige zu tun. (…) 

Es ist seltsam, weshalb, wenn ich Bilanz ziehe nach diesen zwei Jahren, die Enttäuschungen unsere schönen Picknickausflüge in den Zoo oder an den Starnberger See überlagern. Vielleicht ist es nur eine Momentaufnahme. Vielleicht hat mich die Ernüchterung einfach mehr überrascht als die Befriedigung. Ich muss erst lernen, dass sie zum Helfen dazu gehört.“

Süddeutsche Zeitung, 12./13. 12. 2015, S. 49


Deine, meine, unsere Erinnerung. Wer Deutscher werden will, darf den Holocaust nicht leugnen. Wie aber sollen wir mit Neuankömmlingen umgehen, deren Herkunftsländer den Judenmord bestenfalls ignorieren? Ein Plädoyer für eine neue Gedenkkultur. Von Volkhard Knigge

„(…) Die Erfahrung mit Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Gedenkstätten zeigt, dass ein solcher Zugang zur deutschen Geschichte und ihrer weit über Deutschland hinausgehenden Wirkung Interesse, Teilnahme und Einsicht wecken kann. (…) Für Jugendliche deutscher und nichtdeutscher Herkunft ist es immer wieder verblüffend, dass im Licht der Vergangenheit auch selbstkritisch über die Gegenwart nachgedacht wird, etwa über konkrete Erfahrungen mit Diskriminierung in ihrem Alltag. (…) Die dritte Voraussetzung schließlich besteht darin, Sorge und Solidarität zu balancieren. Hier kann die Erfahrung des Nationalsozialismus helfen. Natürlich gewinnt man daraus keine unmittelbaren Handlungsanleitungen. Aber sie vermittelt, was man besser nicht tut, auch im eigenen Interesse: Ressentiments vergrößern, Ängste, Rassismus und ethnischen Nationalismus schüren, Gewalt. (…)
Ohne denkbare Zusammenstöße wegzureden: Anstatt unüberbrückbare kulturelle Totalkonfrontationen zu imaginieren, wäre es konstruktiver, die entstandene Situation auch als Chance für die verständnisschaffende Kommunikation über historische Erfahrungen und Traumata zu begreifen, die in den Herkunftsländern kaum möglich wäre.“

Süddeutsche Zeitung, 11. 12. 2015, S. 11


Über das Helfen. Eine Gesellschaftskritik. Von Heike Faller

„Dass wir an dieser Stelle mal Veronica Ferres und Carsten Maschmeyer loben würden, hätten wir auch nicht gedacht. Aber tatsächlich: Wir tun es. Die Schauspielerin und der Finanzunternehmer haben nämlich zwei Flüchtlingsfamilien bei sich aufgenommen (…).

Aufgenommen heißt in dem Fall nicht etwa, dass sie die Flüchtlinge ins Gartenhaus eines leer stehenden Bungalows mit Blick auf den novemberlichen Maschsee gesteckt haben, sondern dass sie diese in ihre Villa haben einziehen lassen, und zwar in die alten Kinderzimmer der Familie. Sie kochen und essen offenbar zusammen, sie reden miteinander, sie machen gemeinsam Ausflüge.“

Die ZeitMagazin, 10. 12. 2015, S. 17


Wir schaffen das, immer noch! Eine Umfrage von ZEIT und ZEIT ONLINE zeigt: Die Flüchtlingshelfer in Deutschland lassen sich nicht beirren. Von Daniel Erk, Parvin Sadigh und Sascha Venohr

„Knapp 3500 ehrenamtliche Flüchtlingshelfer haben sich innerhalb von zwei Wochen an der Onlinebefragung beteiligt. (…) Die Helfer sind nach wie vor optimistisch – und sie sind verlässlich. (…) Fast drei Viertel der Befragten gaben an, sich weiterhin im gleichen zeitlichen Umfang wie bislang engagieren zu wollen. Und das, obwohl die Flüchtlingshelfer nicht nur Positives zu berichten wissen. Der Frust über Bürokratie und Behörden, über die Politik und auch über Spannungen unter den Helfern selbst zieht sich durch die Antworten. (…)

Die Gründe für dieses ungebrochene Engagement sind vielfältig. Häufig genannt wurde die große Dankbarkeit der Flüchtlinge und die Freude der Kinder, die nach Jahren des Kriegs und Monaten der Flucht endlich wieder zur Ruhe kommen. Viele Helfer verstehen ihr Tun als moralische Pflicht angesichts einer drohenden humanitären Katastrophe, als Ausdruck ihres christlichen Glaubens oder als ein Zeichen der Demut angesichts des eigenen Wohlstands.“

Die Zeit, 10. 12. 2015, S. 4


Wir sind seltsam, aber nicht verrückt. Heißen die Deutschen ihre Flüchtlinge aus schlechtem historischen Gewissen willkommen? – Unsinn! Wider das geschichtspathologische Argument. Von Bernd Ulrich

„Den Vogel abgeschossen hat bei dieser die Deutschen paternalisierenden und pathologisierenden Denkart der französische Philosoph Alain Finkielkraut im Interview mit der Zeit (…).

Zunächst rein sachlich: Als die ersten Flüchtlingswellen kamen und die deutsche Politik, auch die Kanzlerin, noch lange nicht aufgewacht war, da taten Abertausende Deutsche etwas ganz Schlichtes: Sie gaben den Menschen, die da plötzlich in ihren Vorgärten standen, Wasser und Wurstsemmeln (ohne Schwein). Dass die da bei sich einen historischen Makel verspürt haben sollen und nicht einfach nur einen menschlichen Impuls, ist reine Fantasie. (…)

Und in den letzten Jahren haben die Deutschen auch noch ihre Fähigkeit zur Fremdheit entdeckt und für nützlich befunden. Darum halten sie es für möglich, dass sich auch die Willkommenskultur irgendwann als Zukunftsinvestition erweisen könnte.“

Die Zeit, 10. 12. 2015, S. 12


Das war meine Rettung. Jeanine Meerapfel engagierte Liv Ullmann für einen Film. Ohne die Norwegerin wäre der Dreh geplatzt. Interview: Louis Lewitan

Jeanine Meerapfel: „Es hat uns geschützt, dass eine so berühmte internationale Schauspielerin dabei war. Liv wurde als emblematische Person von der Presse hochgehalten. Sie spielte eine Mutter, deren Sohn in der Diktatur verschwunden ist und die für die Menschenrechte kämpft. Die Mütter der Verschwundenen liefen schon damals (Hinzufügung M-H: 1988) jeden Donnerstag mit weißen Kopftüchern durch Buenos Aires, um an das Schicksal ihrer Kinder zu erinnern. Wir sind dort mehrmals dabei gewesen, mit Liv, und als die Presse kam, sagte sie: Ich möchte mich am Marsch der Mütter beteiligen, und zwar als Privatperson und nicht als Schauspielerin des Films La Amiga. Sie war ein Fels in der Brandung, unsere Rettung.“

Die ZeitMagazin, 10. 12. 2015, S. 84


Mail aus dem Deutschen Bundestag

9. 12. 2015

Sehr geehrte Frau Müller-Hohagen, sehr geehrter Herr Dr. Müller-Hohagen,

vielen Dank für Ihr Schreiben vom 30. 11. und die Übersendung des Buches, in dem ich mit Interesse lesen werde.

Ich wünsche Ihnen alles Gute.

Mit herzlichen Grüßen

Gregor Gysi


Brief aus dem Bundeskanzleramt

Berlin, 8. Dezember 2015

Sehr geehrte Frau Müller-Hohagen,

sehr geehrter Herr Müller-Hohagen

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel hat mich gebeten, Ihnen für Ihr Schreiben vom 19. November 2015 und das von Ihnen verfasste Buch „Wagnis Solidarität“ – Zeugnisse des Widerstehens angesichts der NS-Gewalt“ zu danken.

Die Bundeskanzlerin hat sich über Ihr Zeichen der Verbundenheit und Unterstützung, das Sie ihr im Hinblick auf die Flüchtlingspolitik übermittelt haben, sehr gefreut. Ohne Menschlichkeit, Mitgefühl und Solidarität, also das unbedingte Zusammenhalten und Eintreten füreinander, wäre unsere Welt um Vieles ärmer.

Die Bundeskanzlerin dankt Ihnen für Ihr Engagement, das durch Ihr Buch zum Ausdruck gebracht wird, und sendet Ihnen herzliche Grüße aus Berlin.

Mit freundlichen Grüßen

Sabine Simons


Eine Fernsehsendung über junge Leute in verschiedenen Ländern Europas, die sich in bürgerschaftlichem Engagement für das Miteinander von Menschen einsetzen

Nathanael von der Inititative Singa in Paris sinngemäß: „Die Solidarität und den Einsatz, den wir jetzt für Flüchtlinge leisten, werden sie uns später zurückgeben.“

Arte, Sendung Yourope, 8. 12. 2015


Solidarisch mit dem Landkreis. Auch Haimhausen reiht sich jetzt in die Gemeinden ein, die größere Unterkünfte für Flüchtlinge bieten. Die neue Containeranlage wurde am Freitag eingeweiht. An diesem Montag kommen die ersten Bewohner an. Von Robert Stocker

„Die Containeranlage neben dem Wertstoffhof ist bezugsfertig und bietet 105 Menschen Platz. (…) ‚Jetzt leistet auch Haimhausen seinen Solidarbeitrag‘, sagte Bürgermeister Peter Felbermeier (CSU) am Freitagabend.“

Süddeutsche Zeitung, Regionalteil Landkreis Dachau, 7. 12. 2015, S. R 7


Brief vom Münchener Oberbürgermeister

7. Dez. 2015

Sehr geehrte Frau Müller-Hohagen,

sehr geehrter Herr Müller-Hohagen,

haben Sie ganz herzlichen Dank für Ihren freundlichen Brief vom 30. 11. 2015. Über Ihre Zeilen und Ihr Buch „Wagnis Solidarität“ war ich sehr erfreut!

Die vielfältigen Rückmeldungen zeigen mir, dass ich mit meinen politischen Bemühungen richtig wahrgenommen werde. Hierfür danke ich Ihnen herzlich und wünsche Ihnen eine gesegnete Adventszeit.

Mit freundlichen Grüßen

Dieter Reiter


Die einsame Kanzlerin. In Europa laufen seit Jahren die Fäden bei Angela Merkel zusammen. Doch in der Flüchtlingskrise steht sie im Kreis der EU-Mächtigen ziemlich allein da. Wem nützt ihre Schwäche? Von Daniel Brössler

„Offene Kritik bleibt selten. Fast jeder weiß, wofür er Merkel bald wieder braucht. Ohne Kanzlerin kein Deal, das ist zum Beispiel Cameron klar. Merkels Ruf nach mehr Solidarität aber verhallt.“

Süddeutsche Zeitung, 5./6. 12. 2015, S. 1


Rassismus trifft alle Minderheiten.“ Ijoma Mangold im Gespräch mit Michel Friedmann und Marianna Salzmann

Salzmann: „Mich hat Pegida nicht überrascht. Ich bin 1995 nach Deutschland gekommen. Um die Asylbewerberheime, in denen wir im ersten Jahr wohnten, lungerte stets eine Meute von Neonazis. Immer wieder gab es kleinere Anschläge. Das war für mich normal. In der Schule sagte der Mathelehrer zu mir: Du bist doch Jüdin, du kannst gut rechnen. Als ich dann später über diese Erfahrungen geschrieben habe, hieß es gerne: Na klar, die sind ja auch alle ein bisschen meschugge, die haben halt ein Trauma. (…)

Die Deutschen glauben, die Diskriminierung beträfe nur die Flüchtlinge, die Juden glauben, das, was den Muslimen passiert, habe nichts mit ihnen zu tun. Das ist ein Kreislauf der Entsolidarisierung, den wir durchbrechen müssen. Meine Zweifel, meine Bedenken haben viel mit diesem Gefühl der Entsolidarisierung zu tun. Das ist wahrscheinlich eine unüberbrückbare Differenz in der Wahrnehmung der Welt zwischen denen, die die Erfahrung von Versehrtheit gemacht haben, und denen, die sie nicht gemacht haben.“

Die Zeit, 3. 12. 2015, S. 59


Die Geheimnisse von Cate Blanchet? „Ich habe so viele!“ Von Christoph Amend

„Das Time-Magazin zählte sie zu den ‚100 einflussreichsten Personen des Jahres‘. Und mit der Hauptrolle in ihrem neuen Film Carol wird sie derzeit für einen dritten Oscar gehandelt. Aber an diesem Herbsttag in London will sie erst einmal wissen, wie Angela Merkels Flüchtlingspolitik in Deutschland aufgenommen wird. Gespalten, antwortet der Reporter (…). ‚Es ist unverantwortlich, auch von den Medien, die gesamte Flüchtlingsdebatte so auf Merkel zu konzentrieren‘, sagt Blanchet. (…) ‚Es geht in dieser Debatte auch um Sprache. Die Medien haben hier eine große Verantwortung.‘ Sie schaut den Reporter dabei mit einer gewissen Strenge an.“

Die Zeit, Magazin, 3. 12. 2015, S. 20


Auf der Flucht vor dem IS. 70 Dachauer Bürger fordern Asyl für den Kosovaren Asllan Sahiti mit einer Petition an den bayerischen Landtag.Von Helmut Zeller

(…) Eine ganze Stadt kämpft für ihn und seine Familie. Die Stadt heißt Dachau.

Eine ungewöhnliche Allianz aus Vertretern von Kirchen, Politikern, Bürgern und Holocaust-Überlebenden unterstützt eine Petition an den bayerischen Landtag. (…)

Von Gewicht ist die Stimme der Priorin Irmengard Schuster. Sie und andere Schwestern des Karmel ‚Heilig Blut‘ an der KZ-Gedenkstätte haben einen Brief an den Petitionsausschuss geschrieben: ‚Gerade als katholische Ordensfrauen möchten wir für diese muslimischen Menschen um eine erneute und verständnisvolle Anhörung ihrer Situation bitten.‘ Im Klosteraufstand gegen die Flüchtlingspolitik der CSU schreitet der Karmel voran. ‚Wenn es so weiter geht, dann können sie das C aus ihrer Wertvorstellung streichen‘, sagt die Priorin im Gespräch mit der SZ. Vor gut zwei Wochen haben 45 bayerische Ordensobere Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) zu einer Umkehr aufgefordert.“

Süddeutsche Zeitung, Dachauer Regionalteil, 2. 12. 2015, S. R 6


Götter, Gold, und Gesten. Schwarz auf Weiß: die Geschwister-Scholl-Preisverleihung

„(…) als Achille Mbembe den Geschwister-Scholl-Preis verliehen bekommt. Der aus Kamerun stammende Historiker und Politikwissenschaftler wird für sein Buch ‚Kritik der schwarzen Vernunft‘ ausgezeichnet. (…) Und der in seinem aktuellen Werk den Kapitalismus wie die jahrhundertelange Vormachtstellung Europas sehr eng mit dem Rassismus verflicht: Ohne Unterdrückung, Enteigung und Entmenschlichung kann es keinen Reichtum der Wenigen geben. Die europäischen Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, ist bei Mbembe zu lesen, haben nie für alle Menschen gegolten.“

Süddeutsche Zeitung, Dachauer Regionalteil, 2. 12. 2015, S. R 6


November 2015


Neuer Verein für Flüchtlingshilfe. Von CRO

„’Unser Ziel ist es, den bevorstehenden Winter über Hilfe zu leisten, und dabei liegt unser Fokus vor allem auf Babys, Kindern und Schwangeren‘, sagt Ertem, der Vorsitzende. Seine Initiative hilft auf der Route zwischen Lesbos und Freilassing.“

Süddeutsche Zeitung, 30. 11. 15, S. R 3


Der Liebende. Menschenfischer, Verführer und Herzschrittmacher. Luc Bondy, einer der prägendsten Theaterregisseure Europas, starb im Alter von 67 Jahren

„Die Liebe als das Urelement, die Krönung und der Sündenfall allen Lebens war Bondys großes Thema. (…) Seine Schauspieler liebte Luc Bondy mit leidenschaftlicher Innigkeit, er gab ihnen Halt und Raum und jenes Grundvertrauen, auf dem jede enge Beziehung fußt. (…) Er wurde dafür unendlich zurückgeliebt. (…)

Luc wuchs in Paris und in einem streng calvinistischen Internat in Südfrankreich auf, er hatte lange Zeit mit Legasthenie zu kämpfen. Klein gewachsen und scheu, war er in vielen Dingen ein Nachzügler, wurde von Stärkeren verprügelt, war als Schüler nach eigenem Bekunden ‚eine Null, ein mehr oder weniger Zurückgebliebener‘. Rückblickend sagte er: ‚Denke ich an die Schulzeit, habe ich immer die Erinnerung an riesige Tintenflecken, ein sich ausbreitender Tintenfleck: Das ist meine Kindheit.’“

Süddeutsche Zeitung, 30. 11. 15, S. 11


Mit der Mundharmonika gegen Vorurteile. Der Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde besucht Flüchtlinge in einer Unterkunft und will Ängste abbauen. Von Jakob Wetzel

„Für die jüdische Gemeinde Münchens sind die Situation und auch der Ort auf besondere Weise vertraut. Vor mehr als 20 Jahren sind viele ihrer Mitglieder aus der früheren Sowjetunion zugewandert. Weil Wohnungen fehlten, kamen einige in eben diesem Haus in Haidhausen unter (…). Mittlerweile sind aus den Bewohnern von damals Münchner geworden.

Am Freitag besuchen Knobloch und ihre Vorstandskollegen mehrere der heutigen Bewohner. Sie führen freundliche Gespräche, von Vorbehalten ist wenig zu spüren.“

Süddeutsche Zeitung, 28./29. 11. 15, S. R 4


Akkordmonster. Angst vor dem Fremden? Nein. In ihren großen Momenten bringt die klassische Musik zusammen, was unversöhnlich erscheint. Von Reinhard J. Brembeck

Beethoven „will seinen Anspruch als Revolutionär für jeden und bis heute hörbar formulieren. Er will aber auch das überkommene Kompositionsmodell ‚Sonatenhauptsatzform‘ weiterentwickeln. (…) Beethoven empfand diese Beschränkung als eine unzeitgemäße Gängelung und setzte sie außer Kraft. (…) Dieser schon immer als revolutionär gedeutete Moment beinhaltet eine grundsätzliche Aussage zur Rolle und Bedeutung des Fremden. Dass sich dieser Moment ästhetisch wie philosophisch als Bekenntnis zum Anderen verstehen lässt, leuchtet ein.“

Süddeutsche Zeitung, 28./29. 11. 15, S. 17


Der Fluss des Lebens. Die Barada Syrienhilfe e.V. erhält für ihr humanitäres Engagement den Marion Dönhoff Förderpreis. Von Hannes Soltau

„Khoury kommt 1981 für seine Facharztausbildung nach Deutschland. Dreißig Jahre später ist er ärztlicher Leiter eines medizinischen Zentrums und muss im oberfränkischen Münchberg vor dem Fernseher mit ansehen, wie die friedlichen Proteste des Arabischen Frühlings in Syrien in einen blutigen Bürgerkrieg umschlagen. Während die Weltgemeinschaft zunächst tatenlos zuschaut, entschließt sich die Familie Khoury dazu, Spenden zu sammeln. (…)

Ende Juli transportierte die Organisation Babynahrung im Wert von 500000 Euro nach Syrien. Bei jeder Fahrt werden dringend benötigte medizinische Geräte mitgenommen, die aus ausgemusterten Beständen deutscher Krankenhäuser und Arztpraxen stammen. (…)

‚Natürlich erreichen wir nur einen Bruchteil der Betroffenen. Da darf man sich keine Illusionen machen. Doch nichts zu tun wäre noch viel schlimmer.‘

Es ist der Vorschein der Möglichkeit eines befriedeten Syrien, der die Arbeit der Barada Syrienhilfe auszeichnet.“

Die Zeit, 26. 11. 2015, S. 13


Ich habe Angst vor Merkels Gesinnungsethik. Frankreichs meinungsführender Philosoph Alain Finkielkraut über die deutsche Wehrlosigkeit im Krieg gegen den Terror. Interview: Georg Blume

Finkielkraut: „(…) Das eigentlich Wünschenswerte, die Integration des Islams in die europäische Zivilisation, wird immer schwieriger. Unter dem Druck der wachsenden Einwanderung nimmt die Islamisierung ganzer Stadtviertel zu. Das gilt auch für Deutschland.

Zeit: Und Sie glauben, wir Deutschen seien blind und wollten die Gefahr nicht sehen?

Finkielkraut: Deutschland bleibt ein von Hitler traumatisiertes Land. Statt eines realistischen Weltbilds pflegen die Deutschen den Antirassismus. Der Jude war im Nationalsozialismus der Andere. Hitler hat aus ihm den absoluten Feind gemacht. Um dieses Verbrechen zu sühnen, (…) halten die Deutschen noch heute den tatsächlichen Feind für den Anderen, dem sie Buße schulden. Das Aufwachen aus dieser Art von Weltfremdheit wird für die Deutschen ein extrem schmerzhafter Schock sein. (…)

Indem es den Antisemitismus von gestern sühnen wollte, hat das Deutschland der Willkommenskultur womöglich dem Antisemitismus von morgen Spalier gestanden. (…)

Merkel selbst erschrickt nun davor und bittet flehentlich Erdogan, den neuen türkischen Sultan, ihr zu helfen. (…) Ich bin überwältigt von der Inkonsequenz der Kanzlerin, und ich habe Angst, dass gerade diese Einstellung, diese Leichtigkeit, ja ihr Vergessen einer verantwortungsbewussten Moral im Sinne von Max Weber zugunsten einer Gesinnungsethik, in Deutschland am Ende nur den Populisten von Pegida nutzt.“

Die Zeit, 26. 11. 2015, S. 52


So schaffen wir das! Wahre Geschichten über kluge Hilfsprojekte und Menschenliebe heute. Von Louisa Reichstetter

(Über das Buch von Nicholas D. Kristof und Sheryl WuDunn: Ein Pfad entsteht. C.H.Beck Verlag, 2015)

„(…) Aber jede Kritik verblasst angesichts der Wucht all der wahren Geschichten: Die selbstlose Neunjährige Rachel Beckwith aus Seattle war an ihrem Geburtstag fast so enttäuscht wie andere Mädchen, die sich eine Barbie gewünscht, aber bloß ein paar pädagogisch wertvolle Bücher bekommen haben – auf ihrem ‚Spende statt Geschenke‘-Konto bei charity-water.org waren nämlich nur 220 Dollar eingegangen. Kurz nach ihrem Geburtstag starb Rachel bei einem Autounfall. Auf der Suche nach einer Möglichkeit, wie sie ihre Solidarität zeigen könnten, erinnerten sich Freunde nun an die Spendenseite: Binnen eines Jahres kamen so über 1,2 Millionen Dollar für Trinkwasser-Projekte in der Dritten Welt zusammen.“

Die Zeit, Literatur, 26. 11. 2015, S. 35


Wie geht das – ohne ihn? Das Unwichtige vom Wichtigen unterscheiden, den Effekt von der Substanz, das Gefühlige vom Vernünftigen: Warum Helmut Schmidt so anders war als die meisten Politiker und viele Deutsche ihn als letztes Vorbild verehrten. Von Giovanni di Lorenzo

„(…) In der Politikergeneration Helmut Schmidts brannte eine Passion für den demokratischen Wiederaufbau dieses Landes, ohne die es nicht das geworden wäre, was es heute ist: ein nicht nur wirtschaftlich prosperierendes, sondern ziviles und mitfühlendes Land.“

Die Zeit, Zeit Extra, 12. 11. 2015, S. 1


Doch von Herzen Sozialdemokrat. Er war eine Jahrhundertgestalt für Deutschland und für Europa. Was Helmut Schmidt mir bedeutet hat und was ich von ihm gelernt habe. Von Sigmar Gabriel

„(…) Wenn es ein Vermächtnis gibt, das Helmut Schmidt uns aufgegeben hat, dann dieses: Immer an der Seite Frankreichs bleiben, die Partner in den Bündnissen des Westens niemals entfremden, Deutschland zur Welt hin öffnen, Verantwortung tragen, aber ohne jede Oberlehrerhaftigkeit anderen europäischen Nationen gegenüber. Das Zeitalter der Kriege auf dem europäischen Kontinent war für ihn immer der Ausdruck des Konflikts zwischen dem Zentrum – Deutschland – und der Peripherie Europas. Erst mit der europäischen Einigung und der Bindung Deutschlands an Frankreich sei dieser Konfliktherd beseitigt worden. Nicht nur militärische, auch ökonomische Hegenomie könne verhängnisvolle Folgen haben. Eine überdehnte Führungsrolle Deutschlands werde die Abkehr von europäischer Solidarität zur Folge haben. In diesen Tagen muss ich oft an diese Warnung denken.“

Die Zeit, Zeit Extra, 12. 11. 2015, S. 6


Was wird aus Kamchatka?“ Tausend Sitzungen mit Helmut Schmidt. Von Martin Klingst und Bernd Ulrich

„(…) Kaum waren am 11. September 2001 Flugzeuge ins World Trade Center und das amerikanische Verteidigungsministerium gerast, rief Helmut Schmidt schon Stunden später auf unserer Titelseite zur Solidarität mit dem amerikanischen Verbündeten auf und mahnte zugleich: ‚Sofern sich aufseiten der Terroristen ein Staat oder eine Regierung als beteiligt herausstellen sollten, so kann daraus ein Krieg entstehen. Deshalb ist umso mehr kühle Vernunft geboten.’“

Die Zeit, Zeit Extra, 12. 11. 2015, S. 8


Über Liebe, Leben und Tod. „Je älter man wird, desto weniger Angst muss man haben.“ Von Giovanni di Lorenzo

„(…) Schmidt: Die Pflichterfüllung schließt die Mitmenschlichkeit ein. (…)

ZEIT: Ist ein Leben erfüllt ohne die Erfahrung von Liebe?

Schmidt: Wenn jemand nie in seinem Leben Liebe erlebt hat, nie geliebt worden ist und nie selber geliebt hat, dann fehlt ihm ein Element, das für die allermeisten menschen eine ganz große Bedeutung hat. Das heißt aber noch nicht, dass der, dem dieses Element fehlt, ein armer Wicht ist.

ZEIT: Haben sie genug Liebe erfahren in Ihrem Leben?

Schmidt: Ich beklage mich nicht.

ZEIT: Hätten Sie mehr lieben können?

Schmidt: Das ist mir tatsächlich zu persönlich. (lacht leise). (…)

ZEIT: Hat man nicht Angst vor Siechtum, Krankheit, Tod?

Schmidt: Das sind sehr unerfreuliche Lebensschicksale, die Sie da nennen. Aber was ändert man, wenn man ihnen mit Angst entgegensieht? Es wird eher schlimmer.

ZEIT: Können Sie mit Matthias Claudius etwas anfangen?

Schmidt: Ja. Er war ein begnadeter Naiver, gleichzeitig ein Romantiker. Was mich während des Krieges sehr berührt hat, ist sein Quasivermächtnis an seinen Sohn, besonders aber sein Abendlied. Das hat mich eigentlich das ganze Leben begleitet. Da heißt es zum Schluss: So legt euch denn, ihr Brüder, / In Gottes Namen nieder, / Kalt ist der Abendhauch, / Verschon uns, Gott, mit Strafen, / Und lass uns ruhig schlafen! / Und unser’n kranken Nachbarn auch! Sie haben mich nach der Liebe gefragt: Hier ist sie.

Die Zeit, Zeit Extra, 12. 11. 2015, S. 26


Wo bleiben die Redeschlachten? Die evangelische Kirche bekommt eine neue Führung. Von Wolfgang Thielmann

„Die Synode wird den Rat der EKD neu wählen, das 15-köpfige Führungsgremium der Kirche – und seinen Vorsitzenden. Wird Heinrich Bedford-Strohm bestätigt werden, der Sozialethiker und bayerische Landesbischof mit der internationalen Mission? Schon 2014 hat er sich für die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland starkgemacht. Er besuchte Kurden und Christen im Irak und auf den Routen über den Balkan. Mit seinem Engagement für eine gerechte Gesellschaft ist er international bekannt. Im Januar bot Bill Gates, der reichste Mensch der Welt, ihm eine Kooperation bei der medizinischen Hilfe für Kinder an.“

Die Zeit, 5. 11. 2015, S. 58


Oktober 2015


Die Bosse gehen auf Distanz. Angela Merkels Flüchtlingspolitik hatte lange die Unterstützung der Wirtschaft. Jetzt wird Kritik laut. Von Kolja Rudzio und Mark Schieritz

„(…) Die Unterstützung der Wirtschaftsvertreter war für die Regierung wichtig, weil sie dadurch das Moralische mit dem Monetären verbinden konnte. Sie konnte argumentieren, dass Deutschland nicht nur den Flüchtlingen hilft, sondern auch sich selbst. Je mehr Menschen nach Deutschland nach Deutschland kommen, desto fraglicher ist, ob dieser Zusammenhang noch gilt. Gar möglich also, dass in diesen Tagen offenbar wird, was helfen wirklich bedeutet: für andere verzichten.“

Die Zeit, 29. 10. 2015, S. 25


Kommen die Bayern aus dem Orient? Seit Monaten diskutiert Deutschland über Migranten und Flüchtlinge. Aber woher stammen eigentlich die Deutschen selbst? Fragen an den Mittelalter-Historiker Johannes Fried. Gespräch: Christian Staas

„Fried: (…) Im 15. Jahrhundert kommt dann die Idee auf, die Deutschen stammen von den Germanen ab. (…) 

Bedeutender für die deutsche Geschichte ist aber etwas anderes: die ausgeprägte Konkurrenz der Einzelfürten, in denen die föderale Struktur des Reiches begründet liegt, die in der Aufklärungszeit sogar zu einem Vorbild für die politische Struktur der Vereinigten Staaten wurde. (…)

ZEIT: Was ist deutsch? heißt das erste Kapitel Ihres Buches. Was antworten Sie heute auf diese Frage?

Fried: Wir haben unseren Namen von den Italienern, die Demokratie von den Franzosen, wir lesen die Literatur der Welt, seit unseren Anfängen sind wir ein Produkt von Zuwanderung und Akkulturation. Die Migranten und Flüchtlinge, die jetzt kommen, werden uns abermals verändern. Was deutsch ist? Wir werden damit leben müssen, dass es keine endgültige Antwort gibt. So war es in Deutschland von jeher.

Die Zeit, 29. 10. 2015, S. 25


Glaubensschwache Traditionalisten. Über den latenten Atheismus in der Kirche. Von Gregor Maria Hoff

„Geht es in Rom jetzt um Reformen? Es geht um weit mehr: um die geschichtliche Wahrhet des Evangeliums. Wichtig ist nicht der Streit um die Wahrheit, sondern die Wahrheit des Streits, also die Fähigkeit der Kirche, den Wahrheitswert anderer Positionen anzuerkennen. Die Traditionalisten wollen das nicht. Deshalb ist ihre Meinung schon heute nicht mehr Teil des Streits um Wahrheit in unserer offenen Gesellschaft. Dort muss man fähig sein, zu lernen und sich zu verändern. (…)

Traditionalisten nennen den Zeitgeist relativistisch. Ein Missverständnis. Denn es geht nicht um billige Anpassung, sondern um die Zeichen der Zeit, anhand derer sich die Bedeutung des Evangeliums erst erweist.“

Die Zeit, 22. 10. 2015, S. 64


Wie viele Flüchtlinge haben Sie schon aufgenommen, Herr Prantl? Von Heribert Prantl

„(…) Leuten wie mir, die seit vielen Jahren für einen humanen Umgang mit Flücfhtlingen werben, wird gern und fälschlicherweise unterstellt, sie würden die unbgeschränkte Einwanderung und die unbeschränkte Aufnahmen propagieren. Das tue ich nicht. (…) Es gibt die Leute, die mich in Mails und Briefen fragen: ‚Wie viele Flüchtlinge haben sie denn schon aufgenommen in Ihrer dreihundert-Quadratmeter-Wohnung, Herr Prantl?‘ Erstens habe ich keine große Wohnung. Zweitens antworte ich: Darf sich für eine humane Behandlung von Flüchtlingen nur derjenige einsetzen, der einen Flüchtling in seinem Arbeitszimmer einquartiert hat? Drittens sollten, denke ich, staatliche Aufgaben nicht privatisiert wrden und zum Problem der Wohltätigkeit einzelner Bürger gemacht werden (…). Natürlich bedarf es aber des persönlichen Engagements; hier sollte jeder tun was er gut kann (…).“

Süddeutsche Zeitung, 17. / 18. 10. 2015, S. 49


Miteinander füreinander. Im Winter 1948 rief die Lokalredaktion erstmals Leser auf, Nachbarn in Not zu unterstützen. Seitdem hat der SZ-Adventskalender mehr als 100 Millionen Euro an Spenden eingesammelt – und sozialpolitisch einiges bewirkt. Von Christian Krügel

„(…) Eine Zeitung berichtet über Missstände – aber wenn die Not vor der Haustür zum Greifen ist und einen anschreit, mjuss sich eine Zeitung konkret einmischen und helfen. Aus dieser Überzeugung heraus riefen die SZ-Lokalredaktion und ihr Leiter Werner Friedmann im Winter 1948 zum ersten Mal die Leser auf, Nachbarn in Not zu unterstützen. Das war in München damals bitter nötig. (…)
Trotz dieser Erfolge ist die Hilfe durch den Adventskalender nötiger denn je. Die Zahl der Anträge auf Unterstützung steigt, besonders Senioren, Kranke, Alleinerziehende und Familien mit behinderten Kindern kommen im teuren Großraum München immer schneller in existenzielle Not.“

Süddeutsche ZeitungSonderausgabe 70 Jahre SZ, 6. 10. 2015, S. 116


Wie schaffen Sie es, dass jedes Flüchtlingskind zur Schule geht? Die kluge Strategie, mit der Scharajeg Ehsasian in Bremen Bildungschancen an Neuankömmlinge verteilt. Von Martin Spiewak

„Bremen – das ist jenes Bundesland, das bei Pisa immer an letzter Stelle steht. (…) Und dann das. Man stößt auf Flüchtlingskinder, die schon im Erstaufnahmelager Deutschkurse bekommen. Trifft einen Oberschulrat, der jeden Tag von vorne planen muss und das auch noch gut findet, ‚weil plötzlich vieles möglich ist, was früher nicht ging‘. Und man sitzt dieser Sachbearbeiterin gegenüber: Scharajeg Ehsasian, Master in Politik, vier Sprachen, ein Energiebündel mit schwarzem Nagellack und rotem Lippenstift. Vor 26 Jahren selbst in einem deutschen Flüchtlingsheim geboren. (…) Behauptete sich auf dem Gymnasium gegen die Mitschüler mit den Poloshirts und Timberland-Schuhen – immer in der ersten Reihe, ‚damit ich nicht den Spott in deren Gesichtern sehen musste‘. (…) An einen Lehrer, der ihr besonders geholfen hat, kann sie sich nicht erinnern. Dennoch sagt sie: ‚Ich verdanke alles meiner Bildung.‘ (…)

Der Name jedes schulpflichtigen Kindes, das in der Hansestadt gemeldet wird, landet auf Ehsasians Schreibtisch. Sie motiert Alter und Herkunft des jungen Flüchtlings, fragt nach Sprachkenntnissen und Zeugnissen, rechnet mit dem Routenplaner den Weg zu einer der nächstgelegenen Schulen aus – und informiert den Rektor, dass er in Kürze wieder einen neuen Schüler begrüßen darf.

‚Ziemlich übergriffig‘ sei das Vorgehen seiner Behörde, sagt Ehsasians Vorgesetzter, Oberschulrat Helmut Kehlenbeck, selbstkritisch. Dennoch gebe es bislang so gut wie keinen Protest. ‚Die Bereitschaft, die Flüchtlingskinder aufzunehmen, ist enorm groß‘, so Kehlenbeck.

Gerade einmal sechs Monate ist es her, dass (der Fahrstuhl) sie zum ersten Mal in den dritten Stock brachte. Sie (…) rief leise: Du hast es geschafft! Als Ghettokind! An die Stelle, wo du immer hinwolltest. Dann begann sie zu arbeiten.“

Die Zeit, 1. 10. 15, S. 69f


Islam, bitte aufgeklärt!“ Der Religionspädagoge Ednan Aslan fürchtet eine Rückkehr des Fundamentalismus. Gespräch: Evelyn Finger

„Aslan: Es geht um unsere gemeinsame Zukunft. Gerade die arabischen Muslime sehen es als Schwäche des Westens, dass hier Gott nicht mehr ganz so ernst genommen wird. Ihre eigene Religiosität aber empfinden sie als moralische Überlegenheit und Stärke. Sie müssen lernen, dass in Europa nicht in erster Linie der eigene Glaube, sondern die Toleranz gegenüber anderen zählt. (…)

Wir brauchen immer mehr einen europäischen Islam, der die Muslime zur Pluralität befähigt. Sonst bleiben die Muslime immer auf der Flucht, ohne innere Heimat.“

Die Zeit, 1. 10. 15, S. 62


Naivität des Bösen. Weder eine dichte Grenze noch ein hartes Wort der Kanzlerin werden die Flüchtlinge aufhalten.Von Bernd Ulrich

„(…) Eine Frage noch an die Christen und die Sozialdemokraten: An die wundersame Brotvermehrung, daran, dass Liebe und Solidarität Knappheit überwinden können, daran glaubt ihr noch, oder? (…)“

Die Zeit, 1. 10. 15, S. 1-3


September 2015


Der Gott der anderen. Deutschland wird islamischer werden. Welche Art von Islam das sein wird, hängt auch von uns ab. Von Mariam Lau

„(…) Droht also eine massive Radikalisierung der Muslime in Deutschland, zumal der Neuankömmlinge aus Syrien? Zwangsläufig ist das nicht, einiges spricht sogar dagegen. ‚Die Syrer, die jetzt hierherkommen, sind auch vor dem islamistischen Extremismus geflohen‘, sagt die Autorin Sineb El Masrar (…). ‚Die haben wirklich genug davon. Es ist eine ganz andere Erfahrung, die sie jetzt hier machen: dass nämlich die Mehrzahl der Menschen, die ihnen helfen, keine Muslime sind, und niemanden bekehren wollen. Und dass ihre reichen arabischen Brüder in den Golfstaaten keinen Finger für sie krumm machen.‘ 

(…) Der Satz ‚Der Islam gehört zu Deutschland‘, meint Kaddor, ‚wird erst wahr, wenn es der deutsche Staat ist, der für die Moscheen sorgt. Der die Jugendlichen annimmt. Der dafür sorgt, dass da ein Islam gelehrt wird, der zu einer freien Gesellschaft passt.’“

Die Zeit, 24. 9. 2015, S. 5


Notstand als Chance. Migration kann Europa aus seiner Müdigkeit holen. Von Daniel Cohn-Bendit und Claus Leggewie

„Wahre Realisten würden einsehen: Die Masseneinwanderung ist folge einer jahrzehntelangen Verschleppung und Verschiebung von Konflikten, die Europa nun gnadenlos auf die Füße fallen. Wir haben sie in Afrika, im Mittleren Osten und auf dem Balkan durch Waffenlieferungen, falsche Interventionen, aber auch durch Wegsehen und Kopfeinziehen eskalieren lassen.

(…) Deshalb wird das neoliberale Dogma niedriger Einkommens-, Unternehmens- und Erbschaftssteuern fallen müssen. Einwanderungspolitik benötigt Ressourcen, die nicht von den ohnehin Benachteiligten abgezogen werden dürfen.

Masseneinwanderung ist die neue Wirklichkeit. Sie wird heftig und gelegentlich auch zum Verzweifeln sein. Aber es bleibt dabei: Sie gibt Europa die Chance zum Austritt aus seiner Müdigkeit und Zerrissenheit.“

Die Zeit, 24. 9. 2015, S. 13


So geht’s nicht weiter. Der frühere Bundespräsident Horst Köhler über die Flüchtlingskrise, darüber, was sie mit dem westlichen Lebensstil zu tun hat und wie wir handeln können. Interview: Christiane Grefe und Matthias Nass

„ZEIT: Brauchen wir ein Einwanderungsgesetz?

Köhler: Ja, längst! Und klar ist: Dabei darf es nicht nach Hautfarbe gehen. Ich finde es aber legitim, Kriterien anzulegen. (…)

ZEIT: Sind manche Ziele nicht reines Wunschdenken? Zum Beispiel dieser Satz: ‚Wir können die erste Generation in der Geschichte der Menschheit sein, die den Hunger beendet und sicherstellt, dass jede Person einen Grundstandard des Wohlbefindens erreicht.‘ Und das in 15 Jahren?

Köhler: Ja, das ist ehrgeizig, aber ich halte das bei entsprechendem politischen Willen für machbar.“

Die Zeit, 24. 9. 2015, S. 11


Bei uns war nichts marode.“ Karl Döring, Wirtschaftsboss in der DDR, rettete das Stahlkombinat Eisenhüttenstadt über die Wende. Ein Gespräch über wilde Zeiten. Interview: Evelyn Finger

(…) „ZEIT: Heute finden wir: Was nichts kostet, hat keinen Wert.

Döring: Sehe ich anders. Für mich ist eine Gesellschaft, die alles nur in Geld rechnet, nicht erstrebenswert. Ich hätte mir gewünscht, ein paar Dinge aus der DDR zu übernehmen. (…)

Die westdeutschen Konzerne wollten den neuen Markt, aber nicht neue Produktionskapazitäten. Die Idee, über Nacht müsse die DDR verkauft sein, war ein Grundfehler der Wiedervereinigung. (…)

Döring: Das Montangesetz besagt, der Personalvorstand wird durch die Gewerkschaften benannt, also kam aus Westdeutschland ein Mann von Krupp, sehr gut vernetzt in der IG Metall, linker Flügel, trotzdem schwierig. Eine seiner ersten Ansagen: ‚Herr Döring, bitte nehme Sie zur Kenntnis, ich fahre natürlich Mercedes.‘ – ‚Hhm, sage ich, wir fahren alle Lada. Vielleicht überlegen sie sich das noch.‘

ZEIT: Hat er eingelenkt?

Döring: Kam für ihn überhaupt nicht infrage. Trotzdem war er ein großer Gewinn. (…)

ZEIT: Welche sozialistische Tugend hat Ihnen im Kapitalismus genutzt?

Döring: Sie werden lachen: Meine politische Bildung half mir. Nicht der einzelne Lehrsatz, aber die Fähigkeit zu analysieren.“

Die Zeit, 24. 9. 2015, S. 29


‚Italien ist immer ein rechtes Land gewesen.‘ Bestseller-Autor Umberto Eco über seinen neuen Roman ‚Nullnummer‘, die anhaltende Wirkung Berlusconis und die Macht von Verleumdung und Verschwörungstheorien.Interview: Karoline Kuhla

„ZEIT: In diesem Sommer ist man von antideutschen Ressentiments geradezu überrollt worden.

Eco: Die Sache ist doch klar: Deutschland hat gegenüber Griechenland eine harte Haltung angenommen und damit alle gegen sich aufgebracht. Die Deutschen haben momentan das wirtschaftliche Sagen und drücken dem restlichen Europa ihre Politik auf.

ZEIT: Sehen Sie das auch so?

Eco: Ja. Ist doch klar, dass das auf Widerstand stößt, und der ist mit Griechenland noch gewachsen. Ich will Griechenland nicht verteidigen, das Land muss für seine Fehler geradestehen, und wahrscheinlich gab es gar keine andere Lösung. (…)
ZEIT: Kaum ziehen sich die USA aus Europa zurück und überlassen die Verantwortung der stärksten europäischen Wirtschaftsmacht, wird diese zum Buhmann Europas.

Eco: Damals war die italienische Jugend antiamerikanisch, jetzt ist sie aus genau dem gleichen Grund antideutsch: gegen den Hegemonialstaat. (…)

ZEIT: Muss man sich deshalb Sorgen machen, oder ist das ein vorübergehendes Phänomen?

Eco: In gewisser Weise ist es schon vorübergegangen. Im kollektiven Unterbewusstsein ist dank der Hilfe Merkels für die Flüchtlinge das Bild des strengen, harten Deutschen, der immer ‚kaputt‘ ruft, plötzlich verschwunden. Es ist eine historische Wende.“

Die Zeit, 24. 9. 2015, S. 45f


Gottes Blauhelm. Papst Franziskus fliegt nach Washington und zu den Vereinten Nationen in New York. Dort empfangen sie ihn als neue Supermacht. Wie geht Weltpolitik, wenn man kein Politiker ist? Von Evelyn Finger. Mitarbeit: Gerard Mannion und Marco Ansaldo

„Der Psychologieprofessor Hans Zollner, Vizerektor der römischen Universität Gregoriana und ein Jesuit wie Franziskus, hat einmal erklärt, warum dieser im Gegensatz zu den meisten Menschen nicht wegschaue, wenn er einem Obdachlosen begegne. ‚Das Leid anderer‘, sagt Zollner, ‚ erinnert uns an unsere eigene Sterblichkeit. Es löst Todesangst aus, also wenden wir uns ab.‘ Franziskus dagegen glaube so unerschütterlich an Gott, dass er den eigenen Tod nicht fürchte. (…)

Ist er nun ein Politiker oder ein Heiliger? Er selbst behauptet,er sei ‚ein Sünder‘. Noch besser beschreibt ihn der amerikanische Pulitzerpreisträger und Spezialist für die Geschichte der katholischen Kirche, Gary Wills: ‚Es ist ganz schön verwirrend, einen Papst zu haben, der ein echter Christ ist.’“

Die Zeit, 24. 9. 2015, S. 58


Merkels Moment. „Nicht fragen, was nicht geht, sondern fragen, was geht“: Die Kanzlerin geht volles Risiko. Von Tina Hildebrandt

„Merkel zeigt also Führung. (…) Die Botschaft ist unwiderruflich angekommen, nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt. Die Deutschen hätten ‚ihr Gehirn‘ verloren, sie ließen sich wie ein ‚Hippie-Staat‘ von Gefühlen leiten, sagt der britische Politologe Anthony Glees, auch viele Osteuropäer sind mehr überrascht als erfreut. Sie übersehen dabei, dass es auch diese ‚Hippie-Politik‘ ist, durch die Deutschland sich zu dem wirtschaftlich erfolgreichen Land entwickelt hat, das sich nun als globaler Sehnsuchtsort kaum noch selbst erkennt.“

Die Zeit, 10. 9. 2015, S. 1


August 2015


Erstens: Niemanden verletzten!“ Im Auftrag des US-Außenministers soll er überall dort Vertrauen schaffen, wo die Religion Konflikte befeuert. Der Theologe Shaun Casey über seinen ungewöhnlichen Job in der Politik. Gespräch: Evelyn Finger

„Er residiert ganz oben im State Department, im siebten Stock, gleich neben dem Außenminister. (…) Wenn hier oben Weltkonflikte entschieden werden, und wenn Religion dabei eine Rolle spielt, muss Shaun Casey schnell erreichbar sein. Irgendwie spielt Religion immer eine Rolle: im Iran, im Irak, in der Türkei, in Afghanistan, Russland, Israel, Indien… (…) Wir treffen ihn an einem typischen Montag: Der US-Außenminister hat soeben mit einem schiitischen Mudschahed verhandelt, der US-Präsident kündigt mehr Luftschläge gegen den ‚Islamischen Staat‘ an, der Papst kritisiert mal wieder die westliche Flüchtlingspolitik. All das fällt in Caseys Zuständigkeitsbereich. (…)

ZEIT: Sind Sie eigentlich geduldig?

Casey: Nein. Oft bin ich verärgert und frustriert und zuweilen auch beschämt.

ZEIT: Bitte ein Beispiel!

Casey: Na gut. In einer heißen Konfliktzone der Welt traf ich einen hohen Religionsführer. Er rauschte in den Raum, streckte die Hand aus und rief: Doktor Casey, es ist großartig, Sie zu treffen!

Dann fügte er hinzu: Wir haben 40 Jahre auf Sie gewartet!

ZEIT: Und Ihre Reaktion?

Casey: Zuerst war ich schockiert. Aber dann musste ich lachen. Der Mann hatte recht.“

Die Zeit, 13. 8. 2015, S. 48