Zum Begrifflichen – Widerstreit der Loyalitäten

Jürgen Müller-Hohagen

Was heißt Loyalität?

Mit dem bekannten Familientherapeuten Boszormenyi-Nagy kann man in einer ersten Annäherung sagen, bei Loyalität handele es sich um eine Haltung des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft, insbesondere der Familie, bei der Identifizierung, Treue, unerschütterliche Ergebenheit zentral sind. Deren Grundlage liegt in einem Geflecht von Gruppenerwartungen, die wiederum auf erwiesene Verdienste der Mitglieder gegenüber dem Einzelnen, v.a. dem Kind, zurückgehen. Das Kind steht gegenüber den Eltern und den anderen Gruppenmitgliedern in einer existenziellen Dankesschuld. Es verinnerlicht deren Erwartungen.

Diesem mehr sozialpsychologischen Konzept lässt sich ein psychoanalytisches an die Seite stellen, in dem die psychischen Tiefendimensionen und dabei besonders die grundlegende Konflikthaftigkeit des Menschen stärker zum Ausdruck kommt. Dazu sind Ausführungen des schweizerisch-nordamerikanischen Psychoanalytikers Léon Wurmser von großem Wert. In mehr oder weniger unbewussten Konflikten aus Loyalitätsverpflichtungen sieht er eine entscheidende, bisher zu wenig beachtete Quelle seelischer Störungen. Dabei spielt die Treue gegenüber Idealen und Werten eine große Rolle. In diesem Zusammenhang spricht Wurmser auch von einer Selbstloyalität, also einer Treue zu sich selbst und zu den innersten Überzeugungen. Ähnlich wie Boszormenyi-Nagy betont auch er in diesem Zusammenhang sehr die ethische Dimension.

Während ersterer das Thema der Gewalt völlig ausblendet, kommt dies bei Wurmser vor, allerdings mehr in seinen allgemeinen Ausführungen als ganz konkret in den Falldarstellungen. Die alltägliche Vermittlung politischer Gewalt in den „privaten“ Raum von Familie und kindlicher Entwicklung ist noch unzureichend erforscht. Das bringt hinsichtlich der Loyalität die Gefahr mit sich, dass vorschnell verallgemeinert wird, anstatt die krassen Unterschiede zwischen verschiedenen Loyalitäten zu sehen. Das gilt in besonderem Maße mit Blick auf den Nationalsozialismus und seine Folgen. Denn:

Zur Seite derer zu gehören, denen die Zugehörigkeit zur Menschheit aberkannt wurde, und umgekehrt aus dem Kollektiv derer zu stammen, die diese Aberkennung vornahmen oder sich gleichgültig dazu verhielten, wie soll über diesen Bruch ein Wort, ein Begriff führen?