Umgehen mit Schuld – eine andere Perspektive

Jürgen Müller-Hohagen

Die Fachschaft Psychologie einer westdeutschen Universität veranstaltete eine öffentliche Vortragsreihe über Kontinuitäten aus der deutschen faschistischen Vergangenheit. Ich berichtete in diesem Rahmen über meine Erforschung von seelischen Auswirkungen der Nazizeit.

Dazu gehörten unter anderem auch einige Ausführungen zum Thema der von Deutschen und im Namen Deutschlands begangenen Schuld. Dies machte ich mit Bedacht gerade in einem Vortrag an ein vorwiegend psychologisch orientiertes Publikum, denn ich kenne hier zur Genüge die Tendenz, reale Schuld mit Schuldgefühlen zu vermengen und damit erstere zu verleugnen.

Meine Darlegung dieses Punktes war weit davon entfernt, anklägerisch zu sein, und doch verlief die an sich lebhafte Diskussion ausgesprochen schwierig. Sie kreiste in eigentümlich zäher Weise um das Schuldthema. Im Hörsaal tat sich gruppendynamisch mehr an dumpfen Kontinuitäten kund, als ich angesichts von Veranstalter und Ort erwartet hätte.

Drei Tage später erhielt ich von einer mir unbekannten Frau Gerlicher folgenden Brief:

„Ich hatte das Glück, gestern Abend Ihren Vortrag an der Uni zu hören, und es ist mir einfach ein sehr tiefes Bedürfnis, Ihnen zu schreiben. Ich bin Jahrgang 59, meine Eltern sind 34 bzw. 36. Ich habe zwei Jahre meines Lebens in der Psychiatrie verbracht und mache seit 10 Jahren Psychotherapie. Ich möchte Ihnen nur sagen, dass ich sehr dankbar bin für Ihren Vortrag (auch wenn mich das wieder mal in eine Krise stürzt – aber es ist eine heilsame). Die bundesdeutsche Psychiatrie ist voll mit Menschen, die nicht bereit waren, die ‚Ver-rücktheit‘ des dritten Reiches, ihre direkte Vergangenheit und die ihrer Eltern mit dem Deckmantel der Scheinnormalität zu umhüllen. Voll mit denen, die es nicht lassen konnten nachzufragen und die man dafür eingesperrt hat, voll mit denen, die zwischen Täter- und Opferidentifikationen zerrissen werden (…)

Die eigenen Kindheitserinnerungen, wie bei uns der Fernseher mitten in einer Reportage abgestellt wurde mit dem Kommentar: ‚Das muss endlich mal ein Ende haben.‘ Weiter durfte nicht geredet werden, und die gerade noch erhaschten Bilder von Leichenbergen setzten sich für immer fest als etwas, das nicht thematisiert wird. Das Leid, die Schuld, die Angst, das Grauen wird an die Kinder weitergegeben. In verschiedenem Maß und verschiedenen Variationen. Die einen setzen die Tradition des Verdrängens fort, die anderen zerbrechen daran. Ich könnte zahllose Geschichten erzählen, wie Psychotherapie die Auseinandersetzung blockieren kann, wie überhaupt Schuld an sich tabuisiert wird (…) Wie geht man mit Schuld um? Ganz einfach, man hält sie aus. Es gibt nur den Weg, sie zu ertragen, jeder Mensch lädt Schuld auf sich, man muss sich ihr stellen. Ich habe eine 7jährige Tochter. Seit kurzer Zeit kann ich wirklich zulassen, dass ich schuldig geworden bin an ihr, insofern als ich ihr meine Lebensangst, meine Verzweiflung und meinen Hass weitergegeben habe. Seit ich mir das eingestehen kann, kann ich aber auch aktiv werden, d.h. ich habe ihr eine Kindertherapie verschafft. Die Analytikerin war auch gleich ganz besorgt, mir meine Schuld auszureden, was mich am Ergebnis der Therapie schon wieder sehr zweifeln lässt. Ich und nur ich allein habe dieses Kind angeschrieen, verletzt, alleingelassen, und manchmal ertrage ich diesen Gedanken kaum, weil ich nur zu gut weiß, was psychisches Leid bedeutet.“

Als ich diesen Brief erhielt, fragte ich mich natürlich, wen ich in dieser Frau Gerlicher vor mir haben mochte. Zwei Jahre Psychiatrie, zehn Jahre Psychotherapie, „das faschistische Potential jedes einzelnen“, wie sie an einer anderen Stelle schrieb – war sie eine Paranoikerin, eine Frau voll Misstrauen und Übertreibung? Solch ein Verdacht kam mir eher am Rande. Denn: Auf jeden Fall hatte sie recht, wenn sie eine Einsicht schrieb, die in jener Diskussion nicht vorgekommen war: „Wie geht man mit Schuld um? Ganz einfach, man hält sie aus.“ Mir taten diese Worte gut, war doch eine gewisse Verunsicherung zurückgeblieben. Und allein wenn ich an die Reihe von Zumutungen während dieser einen begrenzten Diskussion zurückdachte, nur weil ich von Schuld sprach, dann stellte ich mir im Vergleich vor, wie es Frau Gerlicher von klein auf ergangen sein mochte, nur weil sie die „Tradition des Verdrängens“ nicht mittrug.

Dies schrieb ich ihr in meinem Antwortbrief und dankte ihr für ihre klaren Worte. Ich schloss mit dem Satz: „Ich jedenfalls möchte Sie ermutigen, mit Ihren Wahrnehmungen nicht hinter dem Berg zu halten, so weit Sie das entsprechende Risiko ertragen können und das Gegenüber bereit zu sein scheint, sich so etwas vor Augen halten zu lassen.“ Daraus entstand ein langdauernder, sehr wichtiger Briefwechsel.

„Früher habe ich gedacht, man macht ein paar Jahre Therapie, und dann ist es so, als hätte man eine normale Kindheit gehabt (jetzt fragen Sie mich bloß nicht, was das ist). Eigentlich kann man nur erkennen, was wirklich war, sozusagen den Nebel aufklaren – neulich habe ich geträumt, dass ich an der Weser war (ich bin an ihrem Ufer aufgewachsen), und diese in Wirklichkeit schmutzige, braune (!) Brühe war zu klarem Wasser geworden (eigentlich ein schöner Traum).“