Seelische Auswirkungen der Nazizeit

Jürgen Müller-Hohagen

Wenn Menschen in ihrer existentiellen Sicherheit erschüttert werden oder wenn sie dies anderen antun, so hat es Auswirkungen für ihr ganzes Leben und noch weit in die nächsten Generationen hinein, bis zu Kindern, Enkeln, Urenkeln. Das gehört zu den zentralen Einsichten, die der Arbeit des Dachau Institut Psychologie & Pädagogikzugrunde liegen.

Kinder mögen das Belastende im Leben ihrer Eltern und Großeltern nicht direkt miterlebt haben, und doch nehmen sie es von früh an äußerst sensibel wahr, jedenfalls hinsichtlich aller existentiell bedeutsamen Aspekte: wenn es um Leben oder Tod geht, wenn Wahrheit verschwiegen wird, wenn Gewalt beteiligt ist, wenn Eltern in ihrer Grundsicherheit erschüttert sind, wenn Verbrechen begangen wurden … Aber die Kinder können diese Wahrnehmungen nicht verarbeiten, sofern darüber nicht kommuniziert wird. Es bilden sich Fremdkörper im Seelenleben, die zu Störungen verschiedenster Art führen, meist ohne dass deren Herkunft später zurückzuverfolgen ist.

„Das kann dem Kind doch nicht geschadet haben, es war ja damals noch so klein!“ Dies ist bis heute gängige Meinung – eine falsche, eine selber wiederum schadenstiftende oder -verstärkende Sicht. Denn allzu leicht wird Menschen dann etwas als ihr „eigenes Versagen“ zugeschrieben, was in Wirklichkeit Folge jener Belastungen ist.

Weit über die unausweichlichen Abgründe und Schrecken des alltäglichen Lebens hinaus hat politische Gewalt in aller Welt Spuren im Seelenleben der Einzelnen und in deren Zusammenleben hinterlassen und tut es weiterhin, die eigentlich nicht zu übersehen sind. Wer einmal die ehemaligen Schlachtfelder von Verdun besucht hat, wird die dort „nach so vielen Jahrzehnten“ überall noch sichtbaren Granattrichter bemerkt haben. Um wie viel mehr gilt das für die ungleich sensibleren seelischen Gewebe.

Die seelischen Auswirkungen der Nazizeit sind so immens, und es besteht noch so wenig Abstand, dass sie bis heute eher zu ahnen als wirklich zu erkennen sind. Um sie geht es hier.

Dabei ist von vornherein genaues Differenzieren erforderlich. Die Leiden der Opfer und ihrer Nachkommen sind etwas anderes als die bei den Tätern und ihren Kindern. In jenen Familien steht Schweigen über die Vergangenheit in einem völlig anderen Kontext als in diesen. Und für die Kinder macht es, auch wenn sich das nicht direkt artikulieren lässt, einen fundamentalen Unterschied aus, ob sie von Eltern in die Welt gesetzt wurden, die selber oder deren Eltern und Verwandte vernichtet werden sollten, oder ob die eigenen Vorfahren wie auch immer am Vernichten beteiligt waren oder es letzten Endes gebilligt haben. Loyalitäten gegenüber den Familien bedeuten dann grundlegend anderes.

Dem Dachau Institut Psychologie und Pädagogik ist es wichtig, die verschiedenen Seiten zu sehen und sie nicht zu vermengen. Deshalb werden seelische Auswirkungen der Nazizeit folgendermaßen differenziert: