Subjektivität – Folter – Verbundenheit

Jürgen Müller-Hohagen

Gerade weil die politischen Gewalttäter so darauf abzielen, die Subjektivität der direkt betroffenen Menschen und darüber hinaus die der Gesamtheit zu zerstören, nehme mir bei der Arbeit an diesen Themen die Freiheit, subjektive Erfahrungen, eigene und die anderer, wiederzugeben. Dabei hoffe ich, schiefe Beteuerungen der „Betroffenheit“ einigermaßen zu vermeiden, jedoch umgekehrt nicht der Illusion zu folgen, mich für unbetroffen zu halten.

Es handelt sich um eine Wirklichkeit, die eine Welt der Brüche ist. Darüber lässt sich nicht glatt und objektiv berichten.
Ich denke oft an die folgenden Worte von Marcelo Viñar, dem Psychoanalytiker aus Uruguay, der unter der Militärdiktatur gefoltert wurde und danach dreizehn Jahre mit seiner Familie im Exil in Frankreich verbrachte.

„Jede Person ist, unabhängig davon, ob sie es weiß oder nicht und ob sie damit einverstanden ist oder nicht, Zusammenfassung und Spiegel der Geschichte ihrer Zeit und ihres Ortes. Sie lebt dies in der außerordentlichen Spannweite dessen, wozu wir Menschen fähig sind, im Guten wie im Schlechten. Sie ist gewöhnlich und zugleich besonders in ihren vielfältigen Ausdrucksformen, sei es als Einzelsubjekt der Familien- oder persönlichen Geschichte oder als Staatsbürger, der ein Atom der Geschichte eines Landes oder der Welt bildet. Subjekt einer persönlichen und einer kollektiven Geschichte zu sein, dies ist eine Schnittlinie, aus der niemand entkommen kann.“

Marcelo und seine Frau Maren Ulriksen de Viñar haben sich eingehend mit der gesellschaftlichen Bedeutung der Folter auseinander gesetzt. Die Subjektivität soll mittels der Folter vernichtet werden. Es geht um die Zerstörung der sozialen Bindungen und letztlich der Zugehörigkeit zur Menschheit. Diese Dimension wird bei uns oft übersehen.

Beim Reflektieren dessen, worauf es die Nazis besonders abgesehen hatten, war mir die Bedeutung von Verbundenheit in neuer Weise aufgegangen. Deshalb habe ich 1994 mein Buch „Geschichte in uns“ mit einem Kapitel über „Widersprechen und Verbundenheit“ enden lassen. Dabei waren auch Erfahrungen aus Südamerika, besonders die von Marcelo und Maren Viñar, einbezogen. Der Kontakt dorthin war zu einer Bestärkung in der Wahrnehmung von Verbundenheit geworden.

Das Wort Verbundenheit ist problematisch, klingt antiquiert, vielleicht auf den ersten Blick betulich. Aber es steckt eine brisante Wirklichkeit darin. Und bisher hat sich nichts Besseres gefunden. Hier fehlen die Worte. Das dürfte kein Zufall sein, sondern verweist auf eine gesellschaftliche Ausblendung dieses Bereichs. Was nicht in Sprache ist, „ist“ nicht und umgekehrt.

Solidarität, Liebe, Bezogenheit, diese Worte passen jedenfalls nicht auf das hier Gemeinte. Mitmenschlichkeit, was heißt das, zumal in Zeiten der Globalisierung? Zwar wird Gemeinschaft vielfach beschworen, aber vorrangig mit Blick auf das Funktionieren der Gemeinwesen.

Die wirklichen Nöte, Ängste, Gewalterfahrungen der Individuen, ihr abgeschnitten Sein, ihre Verluste tragender Bindungen haben es schwer, sich im allgemeinen Bewusstsein abzubilden. Das Bedürfnis nach Verbundenheit ist verbreitet, aber, nicht genügend in Sprache transformiert, droht es missbraucht zu werden und in die Irre zu führen, in Sekten, politisch radikale Gruppierungen oder resignativ in eine privatistische Rückzugswelt.

Gerade letzteres ist eine Gefahr bei Angehörigen der psychologischen und therapeutischen Berufe, im eigenen Leben und als Modell für die Klientinnen und Klienten. Deshalb ist es für uns besonders wichtig, nachzudenken über Verbundenheit und davon etwas zu leben, dies aber in einer Weise, die nicht deren systematisches Zerschneiden unter staatlich ausgeübter Gewalt, Folter, Vernichtung ausblendet und nicht in rosarote Gemeinschaftsbeschwörung verfällt.

Fragile Verbundenheit, Verbundenheit in Wahrnehmung ihres bedroht Seins, Verbundenheit im Dennoch, im Widerstehen und Widersprechen.

Individualität und Subjektivität in Verbundenheit. Oder mit den Worten einer Buchwidmung von Marcelo Viñar: „en la intimidad del trabajo y amistad“, in der Verbundenheit von Arbeit und Freundschaft.

Das sind Perspektiven, wie brüchig auch immer es um sie stehen mag.