Loyalitäten

Jürgen Müller-Hohagen

Den Eltern, wichtigen Bezugsgruppen, dem eigenen Land gegenüber loyal zu sein ist von weitaus größerer psychischer Bedeutung, als allgemein angenommen wird. Loyalitätsbindungen sind generell etwas ganz „Normales“, machen eine wichtige Grundlage des seelischen und sozialen Lebens aus.

Zugleich handelt es sich hier um einen sehr störbaren Bereich. Es gibt tiefe innere Konflikte, die um Loyalitätsbindungen kreisen und dabei besonders um die Empfindung, in den eigenen Loyalitätsbemühungen verraten oder missachtet worden zu sein. Daraus resultieren massive Ressentiments, die wiederum zu schweren Störungen nach innen und nach außen führen. Die Heftigkeit dieser Konflikte rührt wesentlich daher, dass existentielle Dimensionen berührt sind. Es geht um Leben oder Tod, um Zugehörigkeit oder Ausgestoßensein. Je weniger dies alles bewusst erlebt und ausgetragen werden kann, umso stärker kommt es zu einem lebenslangen Kreisen um diese untergründigen Themen.
Sich aus destruktiven Loyalitätsverstrickungen zu lösen, kann überlebensnotwendig sein, gestaltet sich aber aufgrund der hohen Unbewusstheit dieser Vorgänge sehr schwierig. Häufig kommt es zu stets doch wieder vergeblichen Lösungsversuchen.

Loyal bleiben Menschen nämlich oftmals auch noch dann, wenn sie sich, äußerlich gesehen, auflehnen oder abwenden. Es reicht nicht aus, sich nur im äußeren Verhalten und im bewussten Erleben aus destruktiven Loyalitätsbindungen loszusagen, solange nicht auch deren Fortbestehen auf tiefer liegenden Ebenen erkannt und bearbeitet ist.

Wesentliche Grundlage problematischer Loyalitätsbindungen und -konflikte sind individuelle oder kollektive Gewalteinwirkungen. Es kann sich um Misshandlung oder sexuellen Missbrauch handeln oder um chronische Vernachlässigung oder um mangelndes Wahrnehmen des Kindes, um Beziehungsabbrüche, ungreifbare Stimmungsschwankungen, Spannungen und Trennungen zwischen den Eltern oder in der weiteren Umgebung und vieles mehr.

Das alles beschränkt sich nicht nur auf den individuellen Raum. Vielmehr erhalten diese Dramen häufig ihre Brisanz erst aus dem Bereich von Gesellschaft und Politik. Die Nachkommen von Nazi-Verfolgten haben sich ihren Eltern in besonderer Weise zu Loyalität verpflichtet gesehen. Aber auch auf der anderen Seite, bei den Nachkommen von Nazi-Tätern und -mitläufern, bestehen tiefe Loyalitätsbindungen.

Handelt es sich hier um ein und dieselbe Loyalität? Zur Seite derer zu gehören, denen die Zugehörigkeit zur Menschheit aberkannt wurde, und umgekehrt aus dem Kollektiv derer zu stammen, die diese Aberkennung vornahmen oder sich gleichgültig dazu verhielten, sollte die gleiche Wirkung haben?

Weil dies völlig irreführend wäre, wird hier vom Plural ausgegangen, also von verschiedenen Loyalitäten, wobei im Einzelfall zu untersuchen ist, was es an Gemeinsamkeiten und Unterschieden geben mag – und an Widerstreiten zwischen verschiedenen Loyalitäten innerhalb einer Person.
Von Loyalität zu sprechen, ist also nur dann sinnvoll, wenn wir grundlegend von Loyalitäten im Widerstreit ausgehen. Das dürfte von allgemeiner Bedeutung sein, und es gilt in Zuspitzung angesichts von Zusammenhängen mit dem Nationalsozialismus.