Müller-Hohagen, Jürgen (1994 / 2002): Geschichte in uns

Untertitel 1994: Psychogramme aus dem Alltag

Knesebeck Verlag, München

Diese Ausgabe ist vergriffen.

Untertitel 2002: Seelische Auswirkungen bei den Nachkommen von NS-Tätern und Mitläufern.

Ansonsten unveränderte Neuausgabe als Book-on-demand bei Pro Business, Berlin. Das Buch kann dort durch jede Buchhandlung bestellt werden. Preis: 13,95 €

Die vorsichtige Wahl eines relativ neutralen Untertitels in der Erstausgabe verweist auf ein Tabu, das in diesem Buch berührt wird: Kontinuitäten von NS-Gewalt im Alltag nach 1945 und dabei insbesondere „im Schoß der Familie“. Dazu kann in psychologischer Beratung und Psychotherapie unerwartet viel entdeckt werden – sofern dafür die Bereitschaft besteht. Ganz besonders hat sich dies für den Bereich der sexuellen Gewalt gezeigt. Das wird mit Erfahrungen aus konkreten Therapien und Beratungen belegt. Natürlich bedeuten diese Berichte und Analysen keine „wissenschaftlichen Beweise“, wohl aber können sie dazu beitragen, etwas überhaupt für möglich zu halten, das bei unverzerrter Betrachtung eigentlich evident wäre. Immerhin stammen die meisten Menschen in Deutschland von ehemals NS-identifizierten „Volksgenossen“ ab und stehen damit bereits von der Familie her in konkreten Zusammenhängen von Täterschaft, Tatbeteiligung, Billigen, Wegschauen, Schuld. Ohne selber schuldig zu sein, ist ihnen aber meist durch das verbreitete Schweigen, Lügen, Bagatellisieren die Möglichkeit genommen worden, sich mit diesen Bezügen in ihrer Konkretheit auseinander zu setzen. Loyalität wurde über Gewalt erst recht eingepflanzt. Die seit Jahrzehnten in immer neuen Wellen sichtbar werdende Durchtränkung unserer Gesellschaft mit Gewalt gegenüber Kindern hat Bezüge zur NS-Zeit, zu ihrer Ideologie, der propagierten Erziehungshaltung und zu ihren Verbrechen. So möchte dieses Buch ein Beitrag dazu sein, durch genaueres Hinschauen und Wahrhaben solcher Zusammenhänge zu wirklicher Ablösung aus den ererbten Verstrickungen und den Folgen selbst erlittener Gewalt zu kommen – was gerade nicht Verleugnung der damals verübten Verbrechen heißt.

Bei seinem Erscheinen 1994 fand dieses Buch eine auffallend polarisierte Aufnahme: große Anerkennung in Die Zeitund ein Verriss in der Frankfurter Allgemeinen. An Aktualität hat es bis heute nicht verloren.

Ein Fazit:

„Die Widersprüchlichkeit menschlichen Lebens ist unaufhebbar. (…) Der Kampf gegen unsere Widersprüchlichkeit hat eine Tendenz zur Vernichtung der Menschen, in Teilen ihrer Existenz oder insgesamt. Das gilt von der Politik bis in den konkreten Alltag von Familie, Ausbildung, Beruf – auch heute. Deshalb ist eines wohl lange noch unerlässlich: lebenserhaltendes und lebensförderndes Widersprechen“ (S. 246).