Vergleichen

Jürgen Müller-Hohagen

Südamerika damals – Deutschland unter dem Hakenkreuz.
Der Blick geht hinüber und herüber.
Parallelen, Unterschiede, Erschreckendes, Terror hier, Terror dort…
Vergleiche, sind die möglich?
Umgekehrt: Ist es möglich, nicht zu vergleichen?
Was aber geschieht dabei?

Wenn ich mich auf Schrecken aus dem Südamerika der Militärdiktaturen einließ beim Lesen von Berichten, bei Begegnungen mit Überlebenden, mit Angehörigen, in Gesprächen, und wenn sich immer wieder die Frage gebildet hatte, wie Menschen anderen so etwas antun können, nahm ich anschließend manchmal eine gewisse Beruhigung in mir wahr, die sich festmachte an einer diffusen Vorstellung, von „so etwas“ hier „bei uns in Deutschland“ himmelweit entfernt zu sein. Dann aber, wieder mehr zu Bewusstsein gekommen, erstaunte mich diese naive Empfindung, die so kontrastierte mit meinem vielen Erfahrungen darüber, wie präsent die Nazizeit und deren Verbrechen im Unbewussten noch sind. Immer wieder hinter den Errungenschaften von Demokratie und Bürgergesellschaft das Fortdauern dieser Abgründe wahrnehmen zu müssen, war doch zur zentralen Linie meiner Forschungen über die Aus- und Weiterwirkungen der Nazizeit geworden.
Erneut hatte ich Gelegenheit, Verharmlosungstendenzen und Verleugnung bei mir zu begegnen.

Aber: Das spricht nicht gegen das Vergleichen.
Wir vergleichen sowieso ständig.
Wichtig ist jedoch, Verharmlosungstendenzen zu bemerken.

1993 habe ich in Montevideo / Uruguay und Córdoba /Argentinien bei Tagungen über die Folgen politischer Gewalt von den Langzeitwirkungen bei NS-Verfolgten und ihren Nachkommen berichtet. Das war ein außerordentlich wichtiger Austausch.

Das Gleiche galt für eine Tagung, die ein Jahr später erneut in Montevideo zu diesem Themenbereich stattfand. Doch hier war die Zustimmung zu dem, was ich vortrug, nicht so ungeteilt. Das lag daran, dass ich jetzt über psychische Folgen auf Seiten von Nachkommen der Täterseite berichtete.

Im Mittelpunkt meines Vortrags stand die Therapie mit der Tochter eines Mannes, der am Vernichtungsprogramm der Nazis beteiligt gewesen war, und sie hatte dies als kleines Kind mitbekommen. Erst im vorangeschrittenen Alter, lange nach dem Tod des Vaters und auf der Grundlage vorangegangener Therapien, hatte sie sich an diese Thematik heranwagen können. Hinzu kam der erst jetzt allmählich wieder ins Bewusstsein auftauchende sexuelle Missbrauch durch diesen Vater. Beides, der Missbrauch und die Wahrnehmung der Vernichtungsseite, war in ihren seelischen Untergründen eng miteinander verknüpft. Im Mittelpunkt der Therapie stand aber nicht nur deren Aufdeckung, sondern auch die Bearbeitung der massiven Loyalitätsbindung an den Vater.

Um solche Loyalitätsproblematiken auch für die Situation in Südamerika besser sichtbar zu machen, hatte ich das Vortragsthema so gewählt. Ich wollte aus psychotherapeutischer Perspektive auf die großen Gefahren für Individuen und Gesellschaft hinweisen, die sich auch nach vielen Jahren noch durch unbewusste Loyalitätsbindungen ergeben.

Bei aller Übereinstimmung, die dazu geäußert wurde, ging mir aber ein Dissens nach, der eher verstohlen und sozusagen im Schutz der sehr freundlichen und zugewandten Atmosphäre des Schlussempfangs für die Tagungsteilnehmer beim französischen Botschafter geäußert wurde. Es waren Eltern von Verschwundenen, die jetzt im kleinen Kreis ihre Verletzung mitteilen konnten, dass – bei allem Verständnis für die Leiden dieser Frau – mit einem solchen Vortrag der Täterseite solche Aufmerksamkeit zuteil würde.

Auch wenn meine Motivation eine andere gewesen war, konnte ich diese Empfindungen gut verstehen.

In der Reflexion wurde mir noch deutlicher als zuvor, dass hier, also bezüglich der Täterseite, der wahrscheinlich größte Unterschied zwischen der Situation in Deutschland und in Südamerika liegt. Dabei geht es nicht nur um die Länge des zeitlichen Abstands, sondern vor allem um das Ausmaß, in dem die ganze Gesellschaft an den politischen Verbrechen beteiligt war. Für uns in Deutschland ist es außerordentlich wichtig, dass wir nicht nur auf die Täter im engeren Sinn schauen, sondern auf die große Mehrheit der wie auch immer Tatbeteiligten.

In Ländern wie Argentinien und Uruguay sind die politischen Verbrechen zwar ebenfalls nicht nur von einem kleinen Kreis organisiert und durchgeführt worden, doch ist die Dimension eine andere gewesen. Und auch wenn für die Gegenwart die Tatsache der dortigen „Schlusspunktgesetze“ (punto final; Volksbefragung in Uruguay) zeigt, dass große Teile der Bevölkerung selbst jetzt noch den Opfern gegenüber reserviert sind, bestehen Unterschiede, die weit über das Quantitative hinausgehen.

In der Frage nach den Folgen dieser transgenerationellen Fortwirkungen der politischen Gewalt ist einerseits, wie angesprochen, bei Vergleichen zwischen Deutschland und Südamerika Zurückhaltung geboten. Zum anderen sei aber betont, wie hilfreich und unterstützend die dort unter Psychologen und Psychotherapeuten verbreitete Berücksichtigung gesellschaftlicher Faktoren für die Untersuchung der Situation in Deutschland ist, also wenn es darum geht, über den Tellerrand der psychologischen Perspektive hinaus mögliche gesellschaftliche Aus- und Fortwirkungen zu untersuchen. Die hierzulande vorherrschende individuumzentrierte Sichtweise verhindert dies oft.

Sehr wichtig sind dabei auch die dort immer wieder erhobenen Warnungen vor der Illusion, von der politischen Gewalt seien nur die „Betroffenen“ erfasst, nicht aber die gesellschaftliche Mehrheit der „Unbetroffenen“ und die Matrix der Kultur insgesamt. Auf deutsche Verhältnisse übersetzt, heißt dies unter anderem, sich nicht mit einer „Gnade der späten Geburt“ oder einer relativ harmlosen Familienherkunft zu beruhigen.