Die Panik meiner Mutter

Gonda Scheffel-Baars

Obwohl mein Zug zurück nach Holland erst am Nachmittag abfah­ren würde, begab ich mich am Morgen schon zum Bahnhof Gare du Nord in Paris, um einen Platz zu reservieren. Der Bahnhof war wie verlassen, und bald wurde klar, warum: Es gab einen General­streik. Der Schalterbeamte sagte, dass die internationalen Züge wahrscheinlich abfahren würden, sicher war er aber auch nicht.

Zurück im Hotel, besprach ich die Sache mit dem Geschäftsführer. Er versicherte mir, dass ich noch einen Tag oder, wenn nötig, auch mehrere Tage im Hotel verbringen könnte, falls der Zug nicht fahren sollte.

Erleichtert fühlte ich mich, als der Zug pünktlich abfuhr. Zwar hielt er an Bahnhöfen, wo er das normaler Weise nie tat. Ich machte mir aber keine Sorgen, denn in Brüssel fuhr mein Anschlusszug nach Holland erst fünfzig Minuten später ab: genug Zeit um umzusteigen. Kurz nach dem Bahnhof von Bergen (Mons) hielt der Zug, und erst zwanzig Minuten später erklärte der Zugfüh­rer, dass es ein Maschinenproblem gegeben hätte, das jetzt gelöst wäre. Ich guckte auf meine Uhr: in Brüssel blieben mir nur zwei oder drei Minuten zum Umsteigen, reichte das? Es reich­te nicht. Glücklicherweise gab es noch einen Zug nach Holland in drei Viertelstunden. Also, kein Problem. Ich setzte mich und fing an, in mein Tagebuch zu schreiben.

Allmählich wurde mir bewusst, dass die Meldungen sich immer mehr häuften: Der Zug von Oostende wird abfahren vom Bahnsteig 8; der Zug von Turnhout wird abfahren vom Bahnsteig 4; der Zug von… Nicht nur auf meinen Bahnsteig, auch auf die anderen Bahnsteige kamen immer mehr Leute. Kein Zug fuhr ab, kein Zug kam an. Auf einem der Bahnsteige gingen junge Leute auf und ab, ich dachte, dass es wahrscheinlich Fußballanhänger wären. Als sie auf die Schienen sprangen, entfalteten sie Transparente: Sie waren Studenten, die gegen Maßnahmen der Regierung protestierten. Der Lärm war schrecklich.

Ein alter Mann guckte mich an, in seinen Augen sah ich Angst und Schrecken. Eine plötzliche Panik ergriff mich. Was sollte ich tun, wemm ich nicht auf dem richtigen Bahnsteig stand und der Zug nach Holland ohne mich abfahren würde? Mein Mann wartete auf mich in Roosendaal, ich war schon verspätet, mehr als wahrscheinlich machte er sich Sorgen! Ich rannte die Treppe hinunter, denn vielleicht könnte ich in dem Untergrund­durch­gang die Meldungen verstehen, auf dem Bahnsteig war zuviel Lärm. Es gab keine Meldungen mehr, und ich war da unten ganz alleine. Schnell rannte ich die Treppe wieder hinauf: besser in der Menge zu sein. Ich weinte vor Verzweiflung.

Es dauerte lange, aber endlich hielt ein Zug an unserem Bahns­teig, der Zug nach Holland. Ich fühlte mich erleichtert, endlich sicher. Man sagte, dass dies der letzte Zug war, der aus Paris abgefahren war. Ich war froh, mit Landsleuten, die mit mir dasselbe Schicksal teilten, sprechen zu können. Wir mussten dennoch zwanzig Minuten warten, weil es, wie gesagt wurde, zu gefährlich war abzufahren.

In Roosendaal stand mein Mann am Bahnhof. Er beruhigte mich gleich, sagte, dass er gehört hätte, dass es einen Streik gab. Er hatte im Hotel in Paris angerufen, wusste, dass ich eventuell dorthin zurückkehren konnte. Trotzdem fing ich an zu weinen und konnte nicht mehr aufhören. Mein Mann sagte: ‚Alles ist jetzt in Ordnung, warum weinst du?‘ Ich erzählte, was ge­schehen war. Mein Mann wunderte sich, was denn so schrecklich gewesen wäre, dass ich so entsetzt war. ‚Es war, als ob es Krieg wäre‘, antwortete ich. Er sagte:‘ Hörst du und verstehst du, was du sagst?‘

Ich verstand es. Es war die Panik meiner Mutter, die im Sep­tember 1944 mit meiner Schwester und mir und noch 65.000 anderen Frauen und Kindern nach Deutschland abfuhr, als die Alliierten sich der holländischen Grenze näherten und man Maßnahmen gegen die Kollaborateursfamilien fürchtete. Die speziellen Züge waren übervoll, sie hielten manchmal mitten auf dem Land oder im Wald, sie wurden beschossen. Mein Vater hatte meine Mutter beschworen, nicht nach Hamburg oder Hannover, sondern nach Lüneburg zu reisen. Die quälende Frage war für sie zweifellos, wo sie umsteigen sollte, und würde es über­haupt einen Zug ge­ben….?

Der Blick des alten Mannes rief in mir eine Erinnerung hoch, die mir nie bewusst gewesen war. Ich denke, dass dieser Mann seine eigenen und viel schrecklicheren Erfah­rungen mit übervollen Bahnsteigen und Zügen hat…