Psychologie der Täterschaft und transgenerationelle Weitergabe

Peter Pogany-Wnendt

Psychologie der Täterschaft und transgenerationelle Weitergabe

Die Menschen, die während der NS-Herrschaft direkt oder indirekt an Verbrechen beteiligt waren, von denen manche sich in Massenmörder verwandelten und für unvorstellbare Massaker sowie für den Tod von Millionen in den Gaskammern verantwortlich waren, waren keine geborenen Monster von einem anderen Planeten. Die meisten waren vor der NS-Herrschaft normale menschliche Wesen „wie du und ich“ – sie arbeiteten und lebten als Ärzte, Juristen, Beamte, Geschäftsleute, Wissenschaftler, Studenten, Künstler, Schriftsteller, Politiker, Lehrer, Polizisten, Soldaten, Landwirte, Handwerker, Fabrikarbeiter, Hausfrauen, Mütter und Väter, Söhne und Töchter usw. gut integriert in der deutschen Gesellschaft.

Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass normal menschlich denkende und fühlende Menschen in der Lage sind, grundlos unschuldigen Menschen – insb. Kindern -, die ihnen zuvor nichts getan hatten, unvorstellbare Qualen zuzufügen, um sie anschließend zu töten. Mit anderen Worten: Es muss ein seelischer Transformationsprozess stattgefunden haben, der im Zuge der Anpassung an das Terrorsystem der Nationalsozialisten normale Menschen in Massenmörder mutieren ließ.

Der Publizist Ralph Giordano (2008) spricht vom Verlust der humanen Orientierung der Täter. Sie verloren ihre Menschlichkeit, sofern diese als eine „Haltung des Menschen gegenüber seinen Mitmenschen“ verstanden wird, die „das Zusammenleben […] in der Gemeinschaft nach dem Grundsatz der Solidarität, der Kooperation und der Hilfsbereitschaft“ (Pogany-Wnendt, 2019. S. 85) reguliert. Menschlichkeit äußert sich in der Sorge um das Wohlergehen der Mitmenschen und in der Achtung vor der Würde und dem Leben des anderen. Sie wird von der Kraft der Liebe hervorgebracht.

Es fällt in der Tat nicht schwer, in den verbrecherischen Handlungen der Täter Hass und Verachtung vor der menschlichen Würde und dem Leben ihrer Opfer, ja eine Geringschätzung des Lebens überhaupt und eine entfesselte Zerstörungswut zu erblicken. Albert Camus (1972) lässt den Erzähler im Theaterstück Die Besessenen sagen: „Wer tötet, töten will oder töten lässt, sehnt sich oft danach, zu sterben. Er ist der Gefährte des Todes.“ (S. 294) Die Zerstörungswut und die perverse Lust der an den Massakern Verantwortlichen andere Menschen zu quälen, war der Todessehnsucht geschuldet, die Menschen befällt, die ihre (Selbst-)Liebe aufgegeben haben – ohne Liebe fühlt sich das Individuum wertlos, hasst sich selbst und will sterben. Sie wurden zu „Gefährten des Todes“, weil sie sich Schritt für Schritt ihrer Menschlichkeit entledigten: Sie entmenschlichten sich selbst. (Pogany-Wnendt, 2019) Tod und Vernichtung werden (paradoxerweise) zum einzig möglichen Sinn des Lebens des Entmenschlichten: „Es lebe der Tod!“ rief der Franco-General José Millán Astray während eines Streitgespräches mit dem Dichter und Philosoph Miguel de Unamuno. „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod“ (Roy, 2017) wird zum Lebensmotto.

Solche Menschen sind in der Paradoxie verstrickt, dass sie Leben bewahren wollen, indem sie Leben zerstören. Wer sich selbst entmenschlicht, fügt seinem Menschsein schwere Schädigungen zu. Er ist kein normaler Mensch mehr. Demzufolge blieben nach dem Ende des Horrors Täter zurück, die sich den Anschein von Normalität gaben. Hinter der Maske der Normalität verbargen sie jedoch die schweren seelischen Verstümmelungen, die sie sich durch ihre kriminellen Taten selbst zugefügt hatten. Die Pose der Normalität diente der Verschleierung ihres Unmenschlich-geworden-Seins. Kaum etwas fällt dem Menschen schwerer, als sich der Scham des eigenen Schlechtseins zu stellen. Er mobilisiert Abwehrmechanismen, die ihn vor der Erkenntnis der selbstzugefügten menschlichen Schmach bewahren. Der Psychoanalytiker Arno Gruen schreibt: „Daß diese Menschen [die Täter des Holocaust] nicht intakt sind, werden wir erst erkennen, wenn wir [. . .] ihre Freundlichkeit und ihr korrektes Benehmen als gekonntes Posieren entlarven.“ (2001, S. 133)[1]

Der Selbstentmenschlichungsprozess.

Die moderne Neurobiologie belegt, dass der Mensch mit den Anlagen zur Menschlichkeit geboren wird. (Bauer, 2021) Das Gehirn ist ein soziales Organ, das auf Empathie ausgelegt ist. (Keysers, 2013) Ohne diese Eigenschaften wäre die Bildung der für die Menschen überlebensnotwendigen Gemeinschaften nicht möglich. Menschen sind von Geburt an von empathischen zwischenmenschlichen Bindungen abhängig. Ohne die liebevolle Fürsorge der Mutter und anderer Bezugspersonen kann das Neugeborene genauso wenig überleben wie ohne Muttermilch. Dies belegt die psychoanalytische Bindungstheorie. Und auch später kann das Individuum nicht ohne die Gemeinschaft (über)leben. Diese wiederum ist ohne die bindende und fürsorgliche Kraft der menschlichen Liebe nicht möglich. Liebe ist also ein Grundantrieb des Menschen. Destruktivität entsteht durch Abkopplung des Menschen von der Kraft seiner Liebe und den damit einhergehenden Verlust der Menschlichkeit.

Liebe soll hier als „eine integrierende Kraft mit dem Ziel, menschliches Leben nach dem Prinzip der gegenseitigen Fürsorge zu organisieren und zu erhalten,“ verstanden werden. (Pogany-Wnendt, 2019. S. 87 f.) Menschliche Liebe ist die verbindende Kraft zwischen Menschen. Sie macht den Menschen nicht unfehlbar. Sie drängt ihn aber dazu, sich seinen Fehlhandlungen zu stellen und zu bedauern, damit Umkehr möglich wird.

Zu diesem Zweck verfügt er über eingebaute Schranken gegen das Unmenschlich-werden: Das Gewissen als moralische, das Mitgefühl als emotionale und schließlich die Vernunft als rationale Schranke. Sobald jemand sich schuldig macht und einer anderen Person Leid und Schmerzen zufügt, reagiert normalerweise das Gewissen und sendet Signale aus, die auf das schuldhafte Verhalten aufmerksam machen: Schuld- und Schamgefühle, Selbstverurteilung, begleitet von Selbstverachtung und -hass, sowie Gefühle von Wert- und Würdelosigkeit. Es entwickelt sich ein Gewissenskonflikt. Die Vernunft ermöglicht Reue durch Einsicht in das schuldhafte Verhalten. Das Mitgefühl drängt den Täter dazu, sich empathisch in die Lage des Opfer zu versetzen und das verursachte Leid zu beheben bzw. wiedergutzumachen. Lässt sich also die schuldige Person von ihrer emotionalen Schuldreaktion leiten und konfrontiert sie sich mit der schuldhaften Tat, dann wird sie Bedauern zeigen, sich um Wiedergutmachung bemühen und sich vornehmen, die Übeltat nicht zu wiederholen. So bewahrt sie ihre humane Orientierung nach einer Fehlhandlung.

Hat der Täter jedoch nicht den Mut, sich seinem Fehlverhalten zu stellen, d.h. bleibt er uneinsichtig und reuelos, dann werden Abwehrmechanismen aktiviert, die die Schuld- und Schamgefühle, die Selbstverachtung und den Selbsthass sowie das Gefühl der Wert- und der Würdelosigkeit zunächst ins Unbewusste befördern und dann davor bewahren, wieder bewusst zu werden. Nach Außen spricht er sich frei von der Schuld, aber das Verdrängte wirkt unbewusst weiter und verwandelt das Selbst des Täters in einen bedrohlichen inneren Feind, der für das Schuldig-geworden-Sein nach Innen verurteilt und gehasst wird.

Dieser beschämende innere Zustand der Schlechtigkeit und Wertlosigkeit, der nicht eingestanden wird, bedarf zu seiner Entlastung der weiteren Abwehrmaßnahmen: Der Täter schafft sich eine imaginäre Projektionsfläche in Form eines phantasierten Feindes, auf den die unliebsamen aus der Schuld herrührenden Gefühle übertragen werden. Er stellt gewissermaßen das (meist ins Karikaturhafte verzerrte) Spiegelbild des unliebsamen Selbst dar, das die eigenen verhassten Eigenschaften trägt. Der Täter richtet den Hass, der ursprünglich dem schuldigen Selbst gilt, auf dieses Phantasiegebilde, dem er den Namen „Jude“, „Partisan“ usw. gibt. So entsteht das Hirngespinst des verhassten „Juden“ oder des „Partisanen“ (oder wie er den Dämon sonst nennt). Durch Externalisierung (Verlagerung nach Außen) wird das Phantom in realen Menschen geortet.

Die Menschen, die auf diese Weise zu Projektionsflächen für den (Selbst)Hass werden, werden dämonisiert, und so erscheinen sie als eine Bedrohung, die bekämpft werden muss. Ihnen werden jegliche menschliche Eigenschaften abgesprochen.

Die Entmenschlichung der Opfer macht es möglich, sie zu misshandeln und zu töten. Man tötet keine Menschen, sondern „Untermenschen“, die zu „Schädlingen“, „Kakerlaken“ oder „Ungeziefer“ erklärt werden. Das Mitgefühl wird auf diese Weise ausgeschaltet. Das Bild des Juden (Partisanen) existiert also in der Phantasie des Täters unabhängig von den realen Juden (Partisanen) und hat mit diesen nichts gemein.

In den zum Spiegel des lieblosen Selbst gewordenen äußeren Feinden (Juden, Partisanen) versuchten die Täter des Holocaust den inneren Feind zu bestrafen und zu vernichten. So ist zu verstehen, dass die Massenmörder nicht nur unschuldige Männer und Frauen, sondern auch Kinder folterten und töteten, und dabei allen Ernstes glaubten, gefährliche „Partisanen“ oder „Juden“ zu bekämpfen. Um töten zu können, mussten sie nicht nur das Mitgefühl ausschalten. Da sie das Morden mit aberwitzigen Lügen rechtfertigten, setzten sie außerdem die Vernunft außer Kraft, die die Lügen demaskiert hätte. Und schließlich mussten sie das Gewissen überlisten, indem sie in einem Teil von ihm ein neues (un)moralisches Wertesystem, das die Verbrechen moralisch zu rechtfertigen schien, etablierten. „Du sollst (den Untermenschen) töten!“ wurde innerhalb dieses Wertesystems zum moralischen Gebot. Durch diese Aufspaltung des Gewissens konnten sie vordergründig mit „gutem Gewissen“ töten, während sie sich gleichzeitig im tiefsten Inneren (unbewusst) selbst verurteilten.

In diesem Zustand der Selbstentmenschlichung gewann der Prozess zunehmend eine destruktive Eigendynamik: Immer stärker wurden die Täter von der psychologischen Notwendigkeit getrieben, weiter töten zu müssen, weil die Einstellung der verbrecherischen Handlungen dem Eingeständnis der Unmenschlichkeit der vergangenen Taten gleichgekommen wäre. Je mehr sie töteten, desto größer wurde die reale Schuld und desto stärker die abgewehrte Schulddynamik. So töteten sie paradoxerweise mit immer größerer Besessenheit, um sich der Scham ihrer Unmenschlichkeit nicht stellen zu müssen. Jedes neue Verbrechen diente der Rechtfertigung aller vergangenen. Ein Innehalten wäre dem Eingeständnis der Falschheit der bisherigen Taten gleichgekommen. Nur dieses Eingeständnis der beschämenden Unmenschlichkeit ihrer Taten hätte sie zur Umkehr bringen können. Die Schuldabwehr trieb den (selbst-)zerstörerischen Selbstentmenschlichungsprozess immer stärker voran.

Je weiter der Prozess voranschritt, desto schwerer fiel die Umkehr. Ab einem fiktiven point of no return war sie unmöglich, und die Selbstentmenschlichung schritt im freien Fall bis zur Selbstauflösung voran.Viele Extremtäter begingen am Ende Selbstmord. Statt Selbstoffenbarung redeten sich die meisten Massenmörder ihre Morde mit aberwitzigen Rechtfertigungen und Lügen schön und verstrickten sich immer stärker in das sinnlose Töten – im ernsthaften Glauben, etwas „Gerechtes“ zu tun. Dabei erzeugten sie eine apokalyptische, d.h. eine dem Tode geweihte gewissenlose, eine entmenschlichte Realität, bar jeder Vernunft und ohne Mitgefühl, die der irrationalen Logik der Entmenschlichung folgte – eine Logik ohne Logik, die sich nicht am Leben, sondern an dem Tödlichen orientierte und demzufolge keine Rücksicht mehr auf Wahrheit und Lüge, auf Falsch oder Richtig, auf Realität oder Erfindung nahm. Sie gab zwar vor, dem Leben zu dienen, in Wahrheit jedoch folgte sie dem Tödlichen. So verwandelten sich vornehmlich normale Menschen in Gefährten des Todes und wurden zu dessen unmittelbaren Vollstreckern.

Die Massenmörder entkoppelten sich durch ihre Taten Schritt für Schritt von den strukturell und funktionell zum menschlichen Kern zusammengefügtenseelischen Strukturen, die Menschen zu einfühlsamen und gegenüber ihren Mitmenschen fürsorglichen Wesen machen. Durch die Abspaltung vom menschlichen Kern entledigten sie sich schließlich ihrer Liebe.

Ein Massenmörder beschreibt in einem Brief an seine Frau die verhängnisvolle Entwicklung zur Selbstentmenschlichung, die zu dieser extremen Form der Täterschaft führte. Zu Beginn empfand er noch menschlich und rang mit seinem Gewissen; bald hörte er auf zu ringen und tötete, ohne etwas zu empfinden. Man kann nicht menschlich fühlen und gleichzeitig derartig unmenschliche Verbrechen begehen: „Bei den ersten Wagen [mit Opfern] hat mir die Hand gezittert, als ich geschossen habe, aber man gewöhnt [sich an] das. Beim zehnten Wagen zielte ich schon ruhig und schoß sicher auf die vielen Frauen, Kinder und Säuglinge.“ Anschließend versuchte er seine Taten gegen jede Vernunft zu rechtfertigen: „Eingedenk dessen, dass ich auch 2 Säuglinge daheim habe, mit denen es diese Horde genauso, wenn nicht zehnmal ärger machen würde. Der Tod, den wir ihnen gaben, war ein schöner, kurzer Tod, gemessen [an] den höllischen Qualen von Tausenden und Abertausenden in den Kerkern der GPU.“ (Browning, 2006, S. 434)

Für die Täter, die sich in diesem extremen Ausmaß in den Prozess der Selbstentmenschlichung verstrickten, gab es kaum ein Zurück. Sie waren nicht gewillt, sich mit ihrer Unmenschlichkeit zu konfrontieren und leugnete auch nach dem Ende der Verbrechen die Schuld. Sie plädierten vor Gericht auf „nicht schuldig“. In Aussagen wie den folgenden offenbart sich die tief verborgene Selbstentmenschlichung, die sich hinter der Pose der Normalität versteckt. Gerhard Sommer, ein ehemaliger SS-Untersturmführer der 16. SS-Panzergrenadier-Division „Reichsführer SS“, der an einem Massaker in dem italienischen Dorf Sant’Anna di Stazzema beteiligt war und des „fortgesetzten Mordes mit besonderer Grausamkeit“ verurteilt wurde, sagte 2002 im Interview: „Für mich ist diese Zeit erledigt. Ich habe mir keinerlei Vorwürfe zu machen.“ Und Klaus Konrad, der am Massaker in San Polo, einem der grausamsten Massakers in Italien, beteiligt war und später Bundestagsabgeordneter wurde, sagte im Jahre 2004: „Ich bin in dieser Angelegenheit heute zu Tage nicht mehr sonderlich berührt, ich habe mich nie in der Sache irgendwie schuldig gefühlt.“[2]

Transgenerationelle Weitergabe

In der Aussage „Ich habe mir keinerlei Vorwürfe zu machen“ offenbart sich die verstandesmäßige Ahnung, dass es etwas gegeben hat, weswegen die Täter sich hätten Vorwürfe machen müssen. Aber sie hatten keinen emotionalen Zugang mehr dazu, weil sie ihre Schuld- und Schamgefühle, die Selbstverachtung und den Selbsthass, das Gefühl der Würde- und der Wertlosigkeit sowie die Vergeltungsängste verdrängt und abgespalten hatten.

Das Zulassen dieser aus der Schuld hervorgegangenen Gefühlen hätte sie mit ihrer ungeschminkten Unmenschlichkeit konfrontiert. Stattdessen kapselten sie sie samt dem durch den Verlust der Liebe in ihrem Selbstwert lädierten Selbstbild und der nie aufgegebenen Herrenmenschenideologie in einer „Krypta“ ein, vergruben sie tief im seelischen Untergrund und schütteten sie „mit Hilfe großer Gegenbesetzungsfestungen“ zu. Dort blieb das in der Krypta Vergrabene jedoch psychodynamisch aktiv, in der Hoffnung, eines Tages wieder zum Leben erweckt zu werden. (Brunner, 2011. S. 12) Sie bildete in der Latenz eine unberührbare „Todeszone“.

Der unverarbeitete Inhalt der Krypta landete über unbewusste Mechanismen der transgenerationellen Weitergabe als Gefühlserbschaften in den Seelen ihrer Kinder und wurde dort in der Selbstrepräsentanz des Kindes deponiert. Das Kind empfindet sie als eigen und zugleich fremd, da es Gefühle sind, die es keinen eigenen Erfahrungen zuordnen kann (Die Quelle der Gefühle liegt in Handlungen vergangener Generationen). Sie können nicht in das Selbstgefüge integriert werden.

Darüber hinaus sind die Gefühlserbschaften an unbewusste Aufträge gekoppelt, wie z.B. die Schuld zu tilgen oder die Ideologie wieder zum Leben zu erwecken. In den 1960er, 70er und noch in den 80er Jahre wurden Deutsche im Ausland beschimpft oder gar angespuckt. Die nach dem Krieg Geborenen empfanden Schuld- und Schamgefühle, statt sich über die Respektlosigkeit zu empören – als hätten sie selbst die Verbrechen begangen und eine Ächtung verdient.
Und auch heute ist häufig die Rede von den „deutschen Schuldgefühlen“ in der öffentlichen Diskussion um Antisemitismus oder um den Krieg in Israel/Gaza, obwohl kaum ein Täter mehr lebt.

Im aktuell stärker werdenden offenen Antisemitismus hört man das Echo der Nazi-Ideologie als transgenerationelles Erbe. Auch der Philosemitismus kann als Abwehr tradierter antisemitischer Haltungen dienen.

Gefühlserbschaften können aber auch Symptome verursachen, wie Ängste, Depressionen oder auch psychosomatische Beschwerden. So z.B. konnte die Angst einer 40-jährigen Frau in der Psychotherapie verstanden werden, als das scheinbar unbedeutende Detail angesprochen wurde, dass die Großmutter, die im gleichen Haus lebte, immer flüsterte und die Gardinen auch tagsüber zuließ. Bei genauerem Nachfragen wurde deutlich, dass die Großmutter während der NS-Zeit sich das Flüstern angewöhnt hatte und die Gardinen auch tagsüber zuhielt aus Angst, von den Nachbarn gesehen oder gehört zu werden. Die Angst der Großmutter, die sich während der Terrorherrschaft der Nazis und des Krieges entwickelte, blieb auch nach dem Krieg bestehen und landete schließlich im Seelenleben der Enkelin.

Der vermutlich schwerwiegendste Konflikt, mit dem die Nachkommen der Täter konfrontiert sind, ist der zwischen der (kindlichen) Liebe zum Täter-Vater/Mutter (Großvater/Großmutter) und der Verurteilung aufgrund der Taten, wenn sie ans Tageslicht kommen.

Erst wenn die Geschichte der Eltern (Großeltern) so weit wie möglich bekannt und die generationsübergreifende Weitergabe der Gefühlserbschaften erkannt wird, können diese dort verortet werden, wo sie hingehören, nämlich in den Erfahrungen und Handlungen der Vorfahren. Sie können dann mit Hilfe der Trauerarbeit in den Repräsentanzen der Eltern (Großeltern) integriert werden. Erst dann verlieren sie ihre emotionale Wirkmacht.

Literatur

Bauer, J. (2021). Das empathische Gen. Humanität, das Gute und die Bestimmung des Menschen. Freiburg, im Breisgau: Herder.
Browning, C. (2006). Die Entfesselung der ‚Endlösung‘. Nationalsozialistische         Judenpolitik 1939-1942. Mit einem Beitrag von Jürgen Mathäus. Berlin: List.
Brunner, M. (2011): Trauma, Krypta, rätselhafte Botschaft. Einige Überlegungen zur         intergenerationellen Konfliktdynamik. Erschienen in: psychosozial 34 (2011), Bd. 124, S. 43-59
Camus, A. (1972). Dramen. Hamburg: Rowohlt.
Giordano, R. (2008): Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein. Köln:         Verlag Kiepenheuer & Witsch.
Gruen, A. (2001): Der Fremde in uns. Stuttgart: Klett-Cotta.
Keysers, C. (2013): Unser empathisches Gehirn. Warum wir verstehen, was andere fühlen. München: Bertelsmann.
Pogany-Wnendt. P. (2019): Der Wert der Menschlichkeit. Psychologische Perspektiven für eine Humanisierung der Gesellschaft. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Roy, O. (2017): „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod“. Der Dschihad und die Wurzeln des Terrors. München: Siedler.


[1]Der Film „The Zone of Interest“ (2023) zeigt auf beeindruckende Weise, wie die Täter sich posenhaft in einer Scheinwelt, wo alles „normal“ zu sein schien, eingerichtet haben. Die Familie des Auschwitzkommandanten Rudolph Höß lebte an der Grenzmauer des KZs, wo täglich Zehntausende zu Tode gefoltert und in Gaskammern ermordet wurden, ein (scheinbar) normales, ein „idyllisches“ Leben. 
2]Das Projekt | NS-Täter in Italien (ns-taeter-italien.org) (07.03.2024)

Peter Pogany-Wnendt ist niedergelassener Psychotherapeut in Köln und 1. Vorsitzender des Arbeitskreises für intergenerationelle Folgen des Holocaust, ehem. PAKH e.V. Er ist 1954 in Budapest, Ungarn, als Sohn jüdischer Holocaust-Überlebender geboren.
nc-poganype@netcologne.de