Vergleichen

Jürgen Müller-Hohagen

Wir vergleichen ständig. Ist das im Falle der NS-Verbrechen „unzulässig“?

Die NS-Verbrechen nebeneinander zu stellen mit Verbrechen an anderen Orten, zu anderen Zeiten, von anderen Kollektiven, muss nicht heißen, die ersteren zu verharmlosen. Dies ist nur dann der Fall, wenn das Vergleichen zu relativierender Entlastung der wie auch immer Tatbeteiligten und eventuell noch ihrer Nachfolger dienen soll.

Solches Relativieren allerdings ist gängig in Deutschland seit 1945. Das Leben von Verfolgten und ihren Nachkommen ist davon besonders schwer belastet, aber geschädigt wurden dadurch auch die eigenen Nachkommen. Nur ist es die Frage, wie weit es diesen bewusst ist.
Dem Relativieren eng verwandt ist die Schlussstrichmentalität. Dass sie immer wieder „unerwarteterweise“ Sumpfblasen aufsteigen lässt, überrascht nur dann, wenn wir zuvor vom Vorhandensein wirklich normaler Verhältnisse in Deutschland ausgegangen sind, normal in dem Sinne, dass Täter von Verbrechen und weitere daran Beteiligte in ihrem Kollektiv als solche benannt und sich selbst – mit welchem Widerwillen auch immer – so begreifen würden. Wirklich normale Verhältnisse würden – anders als die vielbeschworenen – von der Selbstverständlichkeit ausgehen, dass nach Verbrechen ein Schlussstrich allenfalls von den direkten Opfern erfolgen könnte als ein Verzeihen, dessen Voraussetzung aber das Eingeständnis der Schuld auf Seiten der Täter wäre – und dass solch verzeihender Schlussstrich demnach bei Mord schon definitionsgemäß nirgendwo erfolgen kann, da diejenigen, die verzeihen könnten, nicht am Leben gelassen wurden.

Bei einigermaßen klarem Verstand beinhalten die vorstehenden Sätze nichts als Selbstverständlichkeiten – normale Verhältnisse vorausgesetzt. In Deutschland aber bewegt man sich mit ihnen in der Gefahr, als „Ankläger“ bezeichnet zu werden oder als „Gutmensch“ oder als „Betroffenheitslyriker“ und dergleichen, auch von Menschen, bei denen es überrascht.

Es überrascht aber nur, wenn wir uns zuvor in Verleugnung aufhielten, Verleugnung einer Realität, die alles andere als normal ist.

Es ist immer wieder darauf hinzuweisen, dass wir hinsichtlich der Nachkommen nicht einfach zwischen Verfolgten- und Verfolgerseite vergleichen können. Weder ist das in den jeweiligen Nachkommengruppen erlebte Leid dasselbe noch das Schweigen der Eltern noch die Ansprüche an Loyalität.

Es war nämlich für Kinder eine grundlegend andere Situation, ob sie in einer Umgebung ehemaliger Mörder oder Komplizen aufwuchsen oder ob ihre Eltern zur Ermordung vorgesehen waren. Bei Licht betrachtet, ist dies eine naheliegende und fundamentale Unterscheidung, und Kinder merken bekanntermaßen viel von der verborgenen Wahrheit ihrer Umgebung.

Politische Gewalt und Terror, Verfolgungen und Genozide hat es auch an anderen Orten gegeben und gibt es weiterhin. Vergleiche anzustellen, ist ebenso unausweichlich wie heikel.

Ich selber habe intensive Bezüge nach Argentinien und Uruguay aufbauen können, habe dort mehrfach auf internationalen Tagungen zu den Folgen politischer Gewalt vorgetragen und meinerseits eine entsprechende Tagung in Dachau organisiert. Ich habe verglichen, habe hin und her geschaut und dabei die extreme Schwierigkeit solchen Vergleichens erfahren.

Dabei wurde mir deutlich, dass hinsichtlich des Vergleichens der entscheidende Punkt dieser ist: Vergleichen wir, letztlich um zu relativieren, „uns“ von einer Schuld oder Schuldbeteiligung frei zu machen, ohne diese aber wirklich anzuerkennen? In diesem „uns“ steckt schon viel an unbewusster Loyalität. Dann aber ist das Vergleichen ein sehr problematisches Unterfangen.

Geht es jedoch wirklich um genaueres Hinschauen, verhält es sich völlig anders.

Worin liegt der Unterschied? In der Motivation. Auf sie hin zu reflektieren, ist entscheidend.