Psychotherapie vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus

Jürgen Müller-Hohagen

Das ist ein äußerst komplexes Thema. Deshalb nur einige Gesichtspunkte dazu.

Differenzierungen

Sie sind hier die unerlässliche Grundlage, insbesondere Differenzierungen bezüglich der unterschiedlichen NS-Zeit-Hintergründe bei Menschen, denen bzw. deren Nachkommen wir heute in Deutschland in Psychotherapie und psychologischer Beratung begegnen können. Dazu nenne ich vor allem:

  • Menschen, die verfolgt wurden, weil sie für „minderwertig“ bzw. nicht mehr zur Menschheit gehörig erklärt wurden („Rasse“, Homosexualität, Behinderung, „Asozialität“)
  • Politisch und weltanschaulich Verfolgte
  • Menschen, die Widerstand geleistet haben
  • Menschen, die sich direkt oder indirekt an der Verfolgung beteiligt haben (Täter im engeren Sinne, Zuarbeiter, Mitläufer, Zuschauer)
  • Soldaten
  • Bombenkriegsgeschädigte
  • Flüchtlinge und Vertriebene aus den deutschen Ostgebieten und von anderswo
  • Zivilisten, die von den Siegermächten (vor allem Sowjetunion) zu Zwangsarbeit herangezogen wurden
    Frauen, die vergewaltigt wurden (dabei auch noch zu unterscheiden, wo, wann, von wem)
  • Displaced Persons (überlebende Juden, v.a. aus Osteuropa, Ukrainer, Weißrussen…)
  • Desorientierte

Wenn wir diese Aufzählung betrachten, stellt sich die Frage: Wer von den Menschen, die 1945 in Deutschland lebten, gehörte eigentlich nicht dazu? Und wer, die Nachkommen eingeschlossen, von denen, die heute hier leben? Nicht „betroffen“ sind da allenfalls die Migranten, auch das vielleicht ein Grund, ihnen die „Integration“ schwer zu machen?

Selbstreflexion

Die therapeutische Auseinandersetzung um Nazi-Verstrickungen geht in die Irre, wenn ihr nicht die entsprechende Selbstreflexion vorangeht. Was stellt wirklich eine Gegenübertragung dar, also eine wichtige innere Reaktion im Therapeuten, in der Therapeutin, auf die von der Klientenseite her aufgebaute Übertragung? Was aber ist persönliche Übertragung? Wo liegen die eigenen blinden Flecken, die Tabus, die Überidentifikationen, die unbewussten Schuldgefühle, die nicht bearbeiteten Ängste? Diese allgemein schon brisanten Fragen spitzen sich zu, wenn Nazi-Themen involviert sind.

Vernichtung

Im Zentrum der Ausklammerung steht die konkrete Wahrnehmung der bürokratisch organisierten Massenvernichtung durch die Nazis. Mögen wir noch so viel darüber gelesen, gehört, geforscht haben, so liegt doch ein Arsenal von Abwehrmanövern bereit, sobald dieser Bereich in einer Weise berührt wird, dass es direkt mit uns selbst oder unserem Gegenüber zu tun haben könnte.

Es geht um die Wahrnehmung der Vernichtung in der Einheit von Konkretem und Allgemeinem, von den abstrakten Zahlen bis zu den individuellen Menschen, die persönlich oder mit ihren Berichten oder denen der Zeugen vor Augen stehen, jetzt und hier – beklemmende, schwer aushaltbare, aber unumgängliche und immer nur Annäherung bleibende Wahrnehmung.

Es war die von „normalen“ Leuten akribisch geplante und durchgeführte physische Vernichtung von Millionen Menschen.
Und es war die diesen und allen anderen potentiellen Opfern erklärte Aberkennung der Zugehörigkeit zur Menschheit.

Letzteres wird oft übersehen, obwohl es eigentlich völlig klar war, seitdem Juden und andere zu Schädlingen erklärt wurden. Überlebende der NS-Vernichtung haben dieses Thema vielfach hervorgehoben.

Diese Dimension der Aberkennung der Zugehörigkeit zur Menschheit, diese Dimension totaler Vernichtung wahrzunehmen, fällt auch aus dem Abstand einiger Jahrzehnte schwer.

Nur selten wird reflektiert, dass diese beklemmende Thematik in Therapien auftauchen könnte und auf wie dünnem Eis wir uns hier bewegen.

Dieses Nichtvorkommen des Vernichtungsthemas im therapeutischen Bereich beleuchtet auch, in welchem Maße hier Loyalitäten im Sinne unsichtbarer Bindungen zu den Nazi-Vorfahren zum Tragen kommen, und zwar bei den Therapeuten und Therapeutinnen ebenso wie auf der Klientenseite.

Verfolgung

Damit haben wir in Deutschland weit mehr zu tun im Rahmen von psychologischen Beratungsstellen und psychotherapeutischen Praxen, als wir üblicherweise annehmen. Typisch ist, dass die Verfolgung erst spät oder nur nebenbei oder nur aufgrund aktiver Schritte der therapeutischen Seite thematisiert wird. Sehr oft aber kann es außerordentlich wichtig sein für das Verstehen der heutigen Situation und für die angemessene Hilfestellung, über diese Hintergründe wenigstens in Ansätzen zu sprechen. Wie häufig aber wird dies von uns übersehen aufgrund eigener Verleugnung? Wie oft belegen wir solche Klienten dann mit negativen Urteilen?

Unerklärbar scheinende Verhaltensweisen, eigenartig wirkende Situationen in Beratung und Therapie können Hinweise enthalten auf traumatische Hintergründe noch über Jahrzehnte und über Generationen hinweg, und besonders auf Nazi-Verfolgung.

Jedoch: Nur mit Worten, mit Benennungen sind wir hier weder als Psychologen noch als Psychiater oder Psychotherapeuten hilfreich. Es ist auch sehr die Frage, wieweit wir in diesem Bereich mehr als das Recht haben, allenfalls und mit großer Vorsicht unsere Unterstützung anzubieten, aber ohne Omnipotenzgehabe, Therapie sei das „Mittel der Wahl“. Ich sehe die Gefahr, dass wir die Opfer der Verfolgung bzw. deren Nachkommen nun noch mit „wohlmeinender“ Therapie verfolgen und sie, wenn sie diese vielleicht ablehnen oder bald beenden, als unkooperativ, unzuverlässig, „therapieresistent“ abwerten und damit stigmatisieren.

Gerade angesichts der von den Nazis zentral gegenüber ihren Opfern praktizierten Dehumanisierung kann auch Psychotherapie – zumal in Deutschland – wohl nur mit Bescheidenheit ihre Dienste anbieten.

Die Opfer und ihre Nachkommen haben oft besondere Befürchtungen, erneut in Abhängigkeit zu geraten, ausgeliefert zu sein und dann fallengelassen zu werden. Diese Sorgen sind berechtigt nicht nur von der Vergangenheit her. Auch die Gegenwart ist oft sehr schwierig, immer noch oder schon wieder.

Täteridentifikationen kommen auch bei Therapeuten vor. Das aber wird nicht genügend reflektiert, weder in Analysen noch in Ausbildungsgängen oder Supervision. So jedenfalls sehe ich es für Deutschland. Die Täter schlafen ruhig, die mit ihnen Identifizierten auch.
Und eine große Gefahr bei uns Psychologen und Therapeuten, jedenfalls in Deutschland, besteht darin, dass wir die Überlebenden und ihre Nachkommen zu sehr nur als Opfer betrachten. Dann verkennen wir – und das hat Tendenz -, wie viel auf ihrer Seite an Widerstand gegen die Nazis geleistet wurde und in welchem Maße viele von ihnen nach 1945 dazu beigetragen haben, eine humanere Welt aufzubauen.

Wir Psychotherapeuten sind wesentlich dafür da, unseren Klienten zu einem besseren Leben zu verhelfen. Das bringt die Gefahr mit sich, uns selbst für bessere Menschen und unsere Profession sozusagen für „befreites Gebiet“ zu halten. Das sind Illusionen. Gerade deshalb verweise ich auf meine eigene Verleugnung. Und es können gefährliche Illusionen sein, gefährlich für die Opfer und ihre Nachkommen, wenn sie Hilfe bei uns suchen und stattdessen zu sehr unserer Abwehr begegnen.

Reemtsma (1991) schreibt mit Blick auf Folter: „Das individuelle Leid immer als individuelles, nie als ‚Exempel‘ zu verstehen, gleichwohl wachzuhalten, dass der Anschlag stets auch weiter zielte, bleibt Aufgabe aller, die das Leid derjenigen, die Opfer der Folter geworden sind, zu mindern suchen“. Das gilt auch noch in der Begegnung mit den Nachkommen der Verfolgten.

Den durch Verfolgung bewirkten Bruch in der Lebensgewissheit, im Vertrauen zu Mitmenschen und Gesellschaft, diesen „Knick in der Lebenslinie“ kann Psychotherapie nicht „heilen“. Das wäre vermessen und naiv. Aber wir können versuchen, etwas von der ubiquitären Wirklichkeit der Verfolgung und ihrer Folgen wahrzunehmen und auszuhalten. Wir können versuchen, die tiefe Verunsicherung von Verfolgten wenigstens etwas zu teilen. Wir können die Verbundenheit zwischen Menschen zu stärken helfen. Wir können vom Widerstand lernen. Und wir können uns daran beteiligen, Schweigen und Verleugnung zu durchlöchern.

Wenn wir Therapeuten nicht aktiv, von uns aus etwas ansprechen von den Abgründen dieses Jahrhunderts, können viele Verfolgte und ihre Nachkommen nur stumm bleiben.

Selbstreflexion II

Vor einiger Zeit stieß ich unter alten Papieren auf einen kurzen Bericht, den ich während meiner psychoanalytischen Fortbildung in den siebziger Jahren über eine Gruppenpatientin geschrieben hatte. Es gelang ihr nur bruchstückhaft, vertrauensvolle Kontakte zu den anderen Mitgliedern und zu uns Therapeuten zu entwickeln. Dies führte ich in jener Darstellung auf die Tatsache zurück, dass sie erst vor einigen Jahren nach Deutschland gekommen war. Mit keinem Wort aber erwähnte ich, dass sie Jüdin war. Niemals sind wir Therapeuten auf den Gedanken gekommen zu fragen, was dies für Bedeutungen haben mochte, etwa ob ihre Eltern emigriert waren und sie an ihrer Stelle zurückkehrte. Niemals haben wir das unter uns thematisiert, niemals insistierten unsere Kontrollanalytiker an diesem Punkt. Das scheint typisch zu sein bis heute, allenfalls mit gelegentlichen Abschwächungen und Ausnahmen.

Blick auf Täter

Dass die Millionen von Tätern und Tatbeteiligten 1945 nicht „einfach“ wieder ganz „normale“ Menschen geworden wären, was immer das sei, und dass manch einer und manch eine von ihnen weitergemacht haben dort, wo es sich gefahrlos anbot, also bevorzugt in der Familie oder gegenüber anderen Abhängigen, etwa in der Arbeitswelt, das klingt gerade für gegenwärtigen Zeitgeist recht „abenteuerlich“, ein wenig „paranoid“. Bei nüchterner Betrachtung aber läge es auf der Hand, so etwas zu erwägen. Dazu braucht es nur ein wenig Wissen darüber, dass Menschen sich meist nicht so schnell ändern, dass die Jahre zwischen 1933 und 1945 außerordentlich prägend waren für viele Millionen und dass dies alles Vorläufer hatte, denn Hitler und sein Reich waren kein „Betriebsunfall“.

Hinsichtlich der Übermittlung von Extremtraumatisierungen zwischen den Verfolgten und ihren Nachkommen wissen wir relativ viel, doch zur Tradierung der Gewalt zwischen denen, die den politischen Terror getragen haben, und ihren Nachkommen verfügen wir nicht über das Wissen, das angesichts der Brisanz dieser Thematik eigentlich erforderlich wäre.

Übertragung und Gegenübertragung

Dieses psychoanalytische Konzept ist für mich eine Leitlinie meiner täglichen Arbeit, sei diese nun ausdrücklich als Psychotherapie etikettiert in meiner Privatpraxis oder gehe es um bisweilen ganz „unpsychologisch“ anmutende Kontakte innerhalb mancher Teile meiner Arbeit im „Sozialen Brennpunkt“ München Hasenbergl. Für mich handelt es sich hier um eine der wichtigsten Entdeckungen Freuds. In dieser Tradition versuche ich zu unterscheiden, wieweit meine innere Situation auf unbewusste Anteile bei der jeweiligen Klientenperson verweist (Gegenübertragung) oder ob nicht doch persönliche Tendenzen, die bei mir liegen, ausschlaggebend sind (eigene Übertragung).

In der therapeutischen Situation tauchen manchmal in uns Therapeuten Empfindungen, Gedanken, Bilder auf, die „irgendwie“ nicht hierher gehören und die doch das wichtigste Material der ganzen Stunde sein können. Sicherlich fällt deren Analyse nicht leicht, schließlich sind wir selber ja der Spiegel, und dessen Trübungen stellen Fragen auch an uns. Doch gerade hier sind dann die entscheidenden Punkte.

Psychotherapie ohne eine wie auch immer unvollkommene Analyse von Übertragung und Gegenübertragung halte ich für fragwürdig. Dabei sind zwei Arten von Übertragung zu berücksichtigen, diejenige bei den Klienten und die auf Therapeutenseite. Letztere wird oft übersehen. Das aber ist besonders fatal, wenn NS-Hintergründe beteiligt sind. Ohne die Bereitschaft zu solcher Eigenreflexion wiegen sich Psychotherapeutinnen und Therapeuten in falscher Sicherheit, verleugnen dann erst recht und richten unter Umständen großen Schaden an.

Komplizenschaft

Wenn wir in der psychotherapeutischen und beraterischen Arbeit einigermaßen auf unsere inneren Reaktionen achten, werden wir ab und zu bemerken, dass wir uns mit Klientinnen oder Klienten verbünden möchten, vor allem verbünden gegen andere, gegen Partner, Kinder, Eltern, Lehrkräfte, sonstige Bezugspersonen. Hier soll nun dazu angeregt werden, dabei eventuelle NS-Hintergründe als mögliche Determinanten mit zu bedenken. Es gibt nämlich nicht „das Unbewusste“, sozusagen in einer ehernen Form, wie sie vom Übervater Freud einmal gegossen worden wäre. Unbewusst, sehr tief unbewusst können gerade Tendenzen zur Komplizenschaft mit NS-Linien sein. (Weiteres siehe dort)

Komplizenschaft mit Angehörigen der Nazi-Generationen hat nämlich Konjunktur seit 1945 unter Spät- und Nachgeborenen. Sie sind aufgewachsen in dem, was Ralph Giordano den „großen Frieden mit den Tätern“ genant hat, aufgewachsen mit den Drohungen für den Fall, dass sie doch etwas „merken“ würden. Sie haben gelernt, mit den mehr oder weniger als Schafen verkleideten Wölfen zu heulen.

Wir Therapeuten und Therapeutinnen, die wir uns meist so kritisch und menschenfreundlich vorkommen, wären davon nur ausgenommen, wenn in unseren Fortbildungen und in unserer täglichen Arbeit die Reflexion gerade von Nazi-Zusammenhängen einen auch nur entfernt so gewichtigen Platz einnehmen würde, wie es der unverstellte Blick auf die Ungeheuerlichkeit der Verbrechen nahelegt.

Das hat Auswirkungen auf Psychotherapie in Deutschland nach 1945 und dabei speziell auf den Umgang mit Übertragung und Gegenübertragung. Dieses Konzept setzt einerseits eine persönlich getragene Beziehung und ein klares Arbeitsbündnis voraus und andererseits so viel an getrennt Sein, dass auf jener Grundlage konkret untersucht werden kann, wie weit meine momentane innere Situation vorwiegend auf mich selbst verweist oder tatsächlich auf unbewusste Anteile meines Gegenübers. Wenn wir uns aber in einer unbewussten Verhaftung an die Nazi-Hintergründe befinden, dann fällt jene nach meinem Verständnis für Psychotherapie konstitutive Differenz zwischen zwei nur teilweise ungleichen Partnern in sich zusammen. Dann befinden sich beide im selben Boot. Dann gibt es – in mehr oder weniger weiten Bereichen einer Therapie – nicht mehr Übertragung und Gegenübertragung, sondern nur noch Komplizenschaft.

Ähnliches liegt vor, wenn das Opfer der Komplizenschaft nicht eine außenstehende Person ist, sondern wenn sich die unbewusste Attacke auf den Klienten selber richtet, nämlich auf seine Befreiungsversuche.

Beziehung

Hinter dem Thema von Übertragung und Gegenübertragung steht das der Beziehung. Was heißt aber Beziehung in Deutschland nach 1945, nach dem, was wir in den Berichten von Überlebenden konkret nachlesen können?

Eine Psychotherapieerfahrene

Frau Gerlicher – so habe ich sie in Geschichte in uns genannt – hat von extremen Rändern her vieles von den Abgründen deutscher Wirklichkeit begriffen. Sie hat viele Jahre Erfahrung mit Psychiatrie und Psychotherapie. Deshalb hatte ich sie einmal gebeten, detaillierter ihre Einschätzung von Psychotherapie in Deutschland darzulegen.

Ich zitiere aus ihrem Antwortbrief.

„Sie haben mich gefragt, ob ich etwas schreiben könnte über Psychologen/Psychiater. Ich habe so meine Zweifel, ob das was bringt, meine Sicht ist subjektiv, das ist klar, aber doch insgesamt aus einer extremen Geschichte heraus. Ich will es trotzdem versuchen, schlimmstenfalls ist es halt unbrauchbar. Wie Sie schon auf den vorigen Seiten gesehen haben, da sind viele Verletzungen bei weitem noch nicht ausgeheilt, d.h. viele auch, mit denen ich meinen Frieden, wie auch immer, noch nicht geschlossen habe. Ich fürchte zudem, dass ich nicht viel Positives zu berichten habe. Andererseits hat mir Psychotherapie das Leben gerettet.“

Nicht viel Positives zu berichten, andererseits durch Psychotherapie das Leben gerettet…

„Für mich gibt es zwei Hauptprobleme in diesem Bereich. Das eine ist schlicht und ergreifend die fehlende Kompetenz. Ich kenne zu viele, die an irgendwelchen Beratungsstellen, z.T. Kliniken oder gar in eigenen Praxen arbeiten ohne vernünftige Ausbildung. Da existiert ein wilder Psychomarkt, man macht hier einen Kurs und da eine Fortbildung, lernt sehr viel über andere und wenig oder nichts über sich selbst (…) Jeder hat seine wunden Punkte, seine Machtphantasien. Und Patienten wie ich werden unbewusst früher oder später daran rütteln, wir können gar nicht anders. Und wer dann nicht mit sich selber im Reinen ist, der wird zuschlagen. Verbal oder auch real. Und er hat die Definitionsmacht, der kann mich für verrückt erklären, und die meisten werden zehnmal mehr ihm glauben als mir. Es ist schon so, dass ich häufig sehe, dass Psychologen ihre privaten Sichtweisen und Empfindungen zum Maß aller Dinge erheben. Wo sich jemand anders noch darüber klar ist, dass er subjektiv empfindet, kann der Therapeut das eigene Gefühl zur Maxime machen.“

Umgekehrt zur sonstigen Situation hält Frau Gerlicher uns Leuten aus der Psychoszene einen Spiegel vor. Sie fährt fort:

„Außerdem denke ich, wer therapeutisch arbeitet und mit Übertragung, insbesondere Gegenübertragung nicht umgehen kann, ist eine Katastrophe, da hilft alles Engagement und guter Wille nicht.“

Dieser Satz wiegt schwer, geschrieben aus der Erfahrung, es existentiell gebraucht zu haben, dass die andere Seite über mehr verfügte, als letztlich nur nach Sympathie und Antipathie vorzugehen und dies dann noch zum unbefragten Maßstab zu erheben. Denn: „Wissen Sie, ich war vor 15 Jahren eine Katastrophe und nicht geeignet, Sympathie hervorzurufen.“

Und dann beschreibt sie im Positiven, was die Arbeit mit Übertragung und Gegenübertragung bedeuten kann:

„Bereits nach einer längeren Suche habe ich den ersten Menschen getroffen, 1979, der mir durch all dieses Abstoßende hindurch eine gleichmäßige Wärme bot, ein Psychiater und Psychoanalytiker (…) Der hat sich durch nichts abschrecken lassen, immer freundlich und warm, beständig vor allem und gleichzeitig klar abgegrenzt, in Extremsituationen freundlich bestimmt. So was geht nur, wenn man eine fundierte Ausbildung hat, selber als Person etwas darstellt und immer wieder die Gegenübertragung handhaben kann. Ich habe jahrelang vom innerlichen Bild dieses Menschen gelebt. Es gibt sie, die Psychiater, die groß genug sind, ihre Patienten als vollwertiges Gegenüber zu behandeln, auch noch, wenn diese alles tun, um das zu vermeiden. Aber es gibt sie selten.

(…) Die Versuchung in diesen Berufen ist natürlich groß. Wo könnte ich mich besser von meinen eigenen Problemen distanzieren als hier. Man kann hervorragend delegieren. Ich bin der Arzt und somit per definitionem gesund und im Recht. Das eigene unbewusste Elend steht im Patienten personifiziert vor mir, und ich bin Herr darüber. Am schönsten ist es natürlich, wenn es auf Knien daherkommt (…) Sollte das Elend allerdings aufsässig werden, zeigen wir ihm, wer Herr ist; mit aller uns zu Gebote stehenden Macht. Was wir nicht wollen, ist das Elend, das uns aufrecht gegenüber sitzt. Um Himmels willen, dann hätten wir es ja erst gar nicht zu delegieren brauchen, wenn wir uns jetzt doch wieder damit auseinandersetzen müssen. So läuft das nämlich!

(…) Ich reagiere hoch empfindlich darauf, was mir da an Persönlichkeit gegenüber sitzt. Man spürt so viel von jemandem. Wenn man merkt, dass da jemand lebendig und entwicklungsfähig ist, sich selber kennt, das ist wie die Luft zum Atmen. Diese eigene innere Reife des Therapeuten ist die Basis für alles, auf dieser Basis kann man auch Fehler aushalten, Dinge wieder korrigieren. Vielleicht habe ich meinen Analytiker sogar immer am meisten gemocht und ihm vertraut, weil er Fehler eingestanden hat, über sich selbst lachen konnte, Schwächen gezeigt hat.“

Nicht viel Positives hätte sie zu berichten, so kündigte es Frau Gerlicher zuvor an. Aber Psychotherapie hätte ihr das Leben gerettet. Aus ihren Zeilen wird beides sehr konkret nachvollziehbar.

Noch etwas kommt hinzu.

Nach der mangelnden Kompetenz auf therapeutischer Seite, insbesondere im Umgang mit Übertragung und Gegenübertragung, nennt Frau Gerlicher ein zweites Hauptproblem von Psychotherapie in Deutschland nach 1945:

„Das hat Frankl sehr gut beschrieben. Wenn eine Behandlung gelingen soll, muss sie den ganzen Menschen erfassen. Gerade Leute, die schwer psychisch krank sind, brauchen mehr als emotionale Alltagsbewältigung. Leute wie ich sind am ganzen Leben verzweifelt, wir brauchen ein Bezugssystem, Werte, Grundhaltung, wir brauchen einen Sinn. Therapie darf nicht dabei stehen bleiben, in persönlichen Beziehungen herumzukramen, es müsste auch und viel mehr um menschliche Grundfragen gehen. Ich hätte ohne bestimmte moralisch-philosophische Antworten bestimmte Schritte nie gehen können. An der vermeintlichen Sinnlosigkeit des Erlittenen nicht zu verzweifeln, Schmerzen auszuhalten, ohne zu wissen, ob man je so etwas wie Glück empfinden wird, dabei aber genau wissen, dass man gar nicht so viel Glück erleben kann, dass das Leid aufgewogen wird – das alles erträgt man nicht ohne einen gewissen Glauben, ohne die Frage nach dem Sinn.

Ich weiß nicht, wie jemand gesund werden soll, ohne eine grundlegende Haltung zu seiner Krankheit zu entwickeln. Wenn man das nur als persönliches Pech begreift, da dreht man ja durch. Aber ich denke, dass sich viele Therapeuten auch davor drücken, denn spätestens diese Fragen würden zeigen, wie nahe sich Patient und Therapeut sind, wie ähnlich. Denn Leid erlebt jeder, jeder muss in seinem Leben einen Standpunkt zu den Schmerzen finden, und die Antworten, mit denen man da leben kann, fallen nicht allzu unterschiedlich aus. Plötzlich wäre der Arzt nur noch derjenige, der – vielleicht – weniger erlitten hat, und der Patient der, den es mehr erwischt hat oder auch nur anders. Für viele eine gefährliche Annäherung. Und die Nazis sind ja wohl auch so ein Thema. Abgesehen davon, dass diese menschlichen Grundfragen gerade in Anbetracht des Nationalsozialismus ja wohl das Thema überhaupt sind, abgesehen davon wäre spätestens vor Auschwitz der Unterschied von Therapeut und Patient so klein, so bedeutungslos, hier müssten sich beide genau die gleichen Fragen stellen, hier hätten sie dieselben Alpträume – das wäre ja nicht auszudenken.“

Doch, gerade darum geht es.

Perspektiven

Wenn wir genauer hinschauen, zeigen sich Gegenübertragung und Übertragung in einer Bedeutung, die weit über ein technizistisches Verständnis hinausgeht. Sie verweisen auf die immer wieder frappierenden Austauschprozesse zwischen Menschen, auf ein manchmal schwer aushaltbares Maß an Nähe, die hier aber nur möglich wird auf der Grundlage therapeutischer Distanz. Die Analyse der Übertragung und noch mehr diejenige der Gegenübertragung leben von der Selbstreflexion auf therapeutischer Seite, also von Distanz.
Das wiederum ist nicht möglich ohne die Verankerung in einer wie auch immer bruchstückhaften Theorie.

Wenn wir dabei die Zerbrochenheit unserer Wirklichkeit, zumal durch das Nazi-Reich, nicht gar zu sehr verleugnen, dann kann die therapeutische Situation nach 1945 manchmal ein Ort sein, an dem zwar nichts von dieser Vergangenheit und von ihren Fortwirkungen ungeschehen zu machen ist, an dem aber dem Horror ein Ansatz von mitmenschlicher Verbundenheit gegenübergestellt wird, nicht in naiver Hoffnungsfreude oder gegenseitigem Umschlingen, sondern in Distanz und im Erahnen der Abgründe.

Geschichte und Psychotherapie

Geschichte in Deutschland: Die zwölf Jahre von 1933 bis 1945 sind von unvergleichlichem Gewicht, auch nach inzwischen mehr als 50 Jahren, auch nach der deutschen Vereinigung. Dass sie eine lange und durchaus nicht allein auf Deutschland beschränkte Vorgeschichte hatten, braucht hier nicht weiter erläutert zu werden.

In der Entwicklung der Bundesrepublik nimmt die Auseinandersetzung von psychoanalytischer Seite mit dem Nationalsozialismus und seinen Folgen einen wichtigen Platz ein. Alexander und Margarete Mitscherlich sind dafür die bekanntesten Protagonisten. Angesichts dieser Bedeutung psychoanalytischer Kultur- und Geschichtsanalyse nach 1945 hat es zunächst erstaunt, in welcher Schärfe sich zu Beginn der achtziger Jahre – mit einem Abstand von etwa vier Jahrzehnten – eine Kontroverse über die Rolle der Psychoanalyse im „Dritten Reich“ entwickelte, welche Blindheiten oder Vertuschungen führender Vertreter der deutschen Psychoanalyse benannt wurden und wie massiv die Zurückweisung dieser Anfragen oder Angriffe erfolgte.

In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre kam in Publikationen von verschiedenen Seiten ein verstärktes Interesse daran zum Ausdruck, genauer die Auswirkungen bei den Nachkommen zu studieren, einschließlich blinder Stellen auf Therapeutenseite. Während damals die Zunahme der Beschäftigung eindeutig war, ist für die neunziger Jahre die Situation schwer einschätzbar, da verschiedene Faktoren gegenläufig wirken: deutsche Vereinigung, Zunahme von Rechtsradikalismus und offener Gewalttätigkeit gegen Minderheiten, Asyldebatte und -gesetzgebung, veränderte weltpolitische Stellung Deutschlands, Kriege im ehemaligen Jugoslawien und anderswo, Gedenkjahr 1995.
Was die praktische therapeutische Arbeit betrifft, so scheinen inzwischen auf breiterer Linie persönliche und familiäre Hintergründe aus der NS-Zeit einbezogen zu werden, sehr deutlich im Bereich der Familientherapie, wo insbesondere die Arbeit mit Familienrekonstruktionen dabei hilft, die Bedeutung dieser Bezüge konkret zu erfahren und die entsprechenden blinden Stellen wahrzunehmen.

Psychoanalytische und familiendynamische Forschungen haben uns zu einem breiten Wissen verholfen über die enorme Macht von persönlichen und transgenerationellen Wiederholungsvorgängen, von Delegationen, unbewusster Loyalität und Identifikationen mit den Aggressoren.

Und doch: Diese Verknüpfungen zwischen den Generationen auch im Lichte von Kontinuitäten der NS-Gewalt begreifen zu lernen, bedeutet mehr als nur die Hinzufügung neuen Detailwissens.

Eine Schätzung

Ich habe 1988 in Verleugnet, verdrängt, verschwiegen eine vorsichtige Schätzung abgegeben, dass bei etwa jeder fünften von mir betreuten Familie Zusammenhänge mit der Nazizeit eine wesentliche Rolle spielten. Darin umfasste ich Folgen nicht nur der Verfolgung, sondern auch auf Seiten von Täter- und „Mitläufer“-Familien, einschließlich Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung. Fachleute hielten diesen Wert von 20 % für zu hoch. So bat ich zum Beispiel einen Kollegen von der Universität, sehr erfahren in Politischer Psychologie, um seine Schätzung. Er vermutete 3 bis 5 % für solche Langzeitwirkungen.
Ich habe dann eine gezielte Statistik über meine Klientenfamilien angelegt und kam für das Jahr 1988 auf über 40 %! Und dies waren nur die Familien, bei denen ich mir dieser Zusammenhänge weitgehend sicher war. Und niemand von ihnen hatte etwas von meiner Beschäftigung mit dem Nazi-Thema gewusst. Und ich hatte sie keineswegs systematisch befragt, sondern nur mit sensibilisierten Ohren hingehört und eventuell nachgefragt.
Auch fünfzehn Jahre später halte ich jenen Wert von 40 % für sehr realistisch. Eher liegt er in Wirklichkeit noch höher.

Verleugnung

Mir selbst wurde meine eigene Verleugnung in wesentlichem Maße Motor und Kompass bei meinen Forschungen über seelischen Auswirkungen der Nazizeit. Hier sehe ich ein großes Potential unserer Profession, nämlich von unseren Fähigkeiten kritischer Selbstreflexion Gebrauch zu machen. Die Nazis und so viele andere Machthaber der Welt haben gerade dies erbittert bekämpft. Selbstreflexion ist nicht unbedingt eine „typisch deutsche Tugend“. Doch eben diesem deutschen Kulturkreis gehörte der Mensch an, der sie in diesem Jahrhundert wohl weltweit am entschiedensten vorangebracht hat: Sigmund Freud.

Ich meine, dass wir Therapeuten es uns in einer Zeit des globalen Umbruchs nicht leisten können, an den Abgründen dieses Jahrhunderts vorbeizuschauen, gerade bei uns in Deutschland. Anderenfalls werden wir weder unseren Klienten gerecht noch den Traditionen unserer Profession.

Aus einem Festvortrag vor kirchlich-diakonischem Publikum

Und noch eine Aufgabe gibt es hier für uns Berater, und zwar über die konkrete Hilfe für die Menschen hinaus, die uns aufsuchen. Ich halte es für notwendig, dass wir aus unseren intensiven Erfahrungen heraus die Öffentlichkeit über das Ausmaß extremer Belastungen im Leben gar so vieler Menschen informieren, dies gerade angesichts der starken Tendenzen in unserer Gesellschaft, solches Leiden zu verleugnen. Schließlich geht es ja nicht darum, allen extrem belasteten Menschen Beratung oder Therapie anzubieten – das wäre ein völlig überzogener Anspruch – sondern vielen Menschen wäre entscheidend geholfen, wenn ihnen in ihrem Alltag „einfach“ mehr Verständnis für ihre schwierige Situation entgegengebracht würde. Außerordentlich handgreiflich erlebe ich das seit vielen Jahren bei Familien mit behinderten Kindern. Um solches Verständnis zu wecken oder zu verstärken, sehe ich uns Berater zusammen etwa mit Ärzten, Theologen, Lehrern in einer sehr verantwortungsvollen Position. Wiederholt habe ich z.B. von Krankenhauspfarrern erfahren, wie oft Kranke im Angesicht des Todes mit ihnen das Gespräch gerade über völlig unverarbeitete extreme Belastungen ihres Lebens suchen, dabei besonders über Hintergründe aus der Nazizeit. Es wäre doch wohl wichtig für Individuen wie für die Gesellschaft, dass manches von solchem Austausch auch schon früher im Leben gewagt werden könnte. Nicht zuletzt darauf möchte ich mit diesem Vortrag hinweisen.

Wir leben heute in einer Zeit von Verdrängung und Verleugnung. Wir schieben unsere Vergänglichkeit und die Unausweichlichkeit von Leiden beiseite – damit aber auch die Menschen um uns herum, die aktuell davon betroffen sind. Und das sind viele, wenn wir nur bereit sind, genauer hinzuschauen. Und wir selber können jederzeit dazugehören oder tun es bereits, halten es vielleicht nur nach außen hin geheim, denn muss man sich für Leiden nicht schämen? In dieser Situation kommt unter anderem uns Mitarbeitern an Jugend- und Familienberatungsstellen eine besondere Aufgabe zu. Wir haben jährlich mit einer Vielzahl von Familien zu tun, dabei auch, sofern wir aufmerksam dafür sind, mit einer ganzen Reihe von extrem belasteten. Wir erhalten unter dem Schutz unserer Schweigepflicht oft sehr persönliche Mitteilungen über Gegenwart und Vergangenheit und können aufgrund unserer beruflichen Vorbildung und Erfahrung diese Informationen eher entschlüsseln und in einen lebensgeschichtlichen und familienbezogenen Zusammenhang bringen, als das sonst im Alltagsleben möglich ist. Gerade in dieser Situation wird das Leiden an Extrembelastungen der Vergangenheit wie der Gegenwart oft erst sichtbar. Und es gibt viele solche Hintergründe: Sie können, wie dargestellt, auf die Zeitgeschichte verweisen, aber ebenso auf heutige Arbeitslosigkeit oder sexuellen Missbrauch in der Familie oder Behinderung oder… Für diese Not offen zu sein, die gerade in einer Zeit des materiellen Überflusses grassiert, halte ich für eine vordringliche Aufgabe von Beratungsstellen, zumal in kirchlicher Trägerschaft. Und deshalb sehe ich das Thema dieses „Festvortrags“ geradezu als etwas Zentrales für unsere Arbeit an.