Psychotherapie und Beratung
Jürgen Müller-Hohagen
Sich mit seelischen Auswirkungen der Nazizeit wirklich konkret zu befassen, ist weiterhin schwierig, und so wird wohl noch über längere Zeit auf reflektierte Erfahrungen aus Psychotherapien und psychologischer Beratungsarbeit nicht verzichtet werden können. Diesen kommt eine Art Pionierrolle zu. Wo sonst besteht in ähnlicher Weise ein genügend geschützter Rahmen und zugleich die fachliche Kompetenz für den Umgang mit solch hochgradig intimen und tabuisierten Themen?
Natürlich mögen die so zustande gekommenen Erkenntnisse stärker subjektiv geprägt sein, als wenn groß angelegte Untersuchungen mit umfassendem wissenschaftlichem Rüstzeug durchgeführt würden. Das gilt es zu bedenken und nicht voreilig zu sein beim Verallgemeinern.
Wesentlich aber können solche Forschungen in der psychologischen Praxis dabei helfen, den Bewusstseinsradius in Gesellschaft und Wissenschaft zu erweitern, nämlich derartige Zusammenhänge konkret für möglich zu halten, sie also in den inneren Hypothesenpool aufzunehmen. Daran fehlt es noch, in der Allgemeinheit ebenso wie unter Wissenschaftlern oder Psychotherapeuten. Man denkt zu wenig daran, dass solche Zusammenhänge im Konkreten bestehen könnten. Das ist eine Form von Verleugnung.
Was das im Individuellen bedeutet, kann bis heute allenfalls geahnt werden. Massenhaft dürften in Psychotherapien und Beratungen Verstrickungen mit der Nazi-Vergangenheit übersehen worden sein. Immer wieder berichten Menschen davon, sie hätten in ihrer Therapie ausdrücklich darauf hingewiesen und seien auf taube Ohren gestoßen. Das hätte ihnen schweren Schaden zugefügt. Erfahrungen wie die folgenden sind kein Einzelfall.
„Ich habe zwei Jahre meines Lebens in der Psychiatrie verbracht und mache seit 10 Jahren Psychotherapie. Ich möchte Ihnen nur sagen, dass ich sehr dankbar bin für Ihren Vortrag (auch wenn mich das wieder mal in eine Krise stürzt – aber es ist eine heilsame). Die bundesdeutsche Psychiatrie ist voll mit Menschen, die nicht bereit waren, die ‚Ver-rücktheit‘ des dritten Reiches, ihre direkte Vergangenheit und die ihrer Eltern mit dem Deckmantel der Scheinnormalität zu umhüllen. Voll mit denen, die es nicht lassen konnten nachzufragen und die man dafür eingesperrt hat, voll mit denen, die zwischen Täter- und Opferidentifikationen zerrissen werden. Progressive Psychiater gestehen einem zu, individuelle Kindheitsverletzungen erlebt zu haben, die sich in Naziphantasien symbolisch ausdrücken. Wenn man darauf besteht, dass es keine Symbolik ist, sondern Realität, und sei es, dass man die Realität der Eltern ausdrückt, dann geht die Klappe runter. Die Psychoanalyse hat sich Konzepte gebastelt, in denen es sehr viel um Wut geht, die Unfähigkeit, sie zu empfinden, sie auszudrücken u. ä. Darunter liegt ein Meer von Leid, vor dem die meisten zurückschrecken. Nicht nur die Unfähigkeit zu trauern, vor allem auch die Unfähigkeit zu leiden, Angst zu ertragen – vor allem in diesen Dimensionen – versperrt den Weg.“