(Re)Traumatisierung durch (vorsätzliche) Beschallung mit verstärkten Musikbässen und durch Schlafentzug

Bericht von Ute B., Berlin im Juni 2008

Teil 1  Werdegang der (Re)Traumatisierung: Ein Kriegstrauma wird nachhaltig wiederbelebt

Ich wohne in der Westberliner Innenstadt in einem großen, grünen Innenhof, in dem einhundert Mietparteien vor dem Lärm von Straße und Bahn geschützt leben dürfen. Nach Jahren Aufenthalt auf der Halbinsel Sinai am Roten Meer, nach Arbeit für Naturschutz zu Lande und unter Wasser zog ich 1977 bewusst in diesen ruhigen Berliner Hof. Das Haus lag in der Nähe des Hauses, in dem ich geboren und aus dem ich als Säugling vertrieben worden war. Flucht aus dem Bomben-Berlin, Ver­treibung aus Schlesien, Ruhelosigkeit, Reisen, Perspektivlosigkeit hatten bis in das Jahr 1977 mein Leben bestimmt, was mir bis ins Jahr 2007 nicht voll bewusst war. Ich hatte durch den Krieg, obwohl in meine Heimatstadt Berlin zurückgekehrt, durch die weitgehende Zerstörung des politischen Ge­meinwesens, von Umfeld, Normalität und Familie meine innere Heimat verloren, war eine Getriebe­ne geblieben. 1977, nach dem Tod meiner Eltern, hatte ich das Bedürfnis, in meiner Geburtsstadt eigene Wurzeln zu schlagen – in diesem Haus, das ich mir umgehend „aneignete“, indem ich mich um den Erhalt seiner Bausubstanz zu kümmern begann. Um das Haus vor weiterem Verfall zu be­wahren, um die Instandhaltung durchzusetzen, gründete ich eine Mietergemeinschaft und kämpfte mit ihr fünfzehn Jahre lang für die Instandsetzung des Hauses, aber auch für bezahlbare Mieten. Ich wirkte im Rahmen einer Nachbarschaftsinitiative im Kiez, ich ging in die alternativ-grüne Politik für Berlin. Ich war „angekommen“.

Dennoch zeichnete sich in den 80er Jahren ein Stresskrebs ab, der durch Freizeitlärm genährt wurde, denn:

Musikapparate beschallten uns an immer mehr Orten und bei allen Gelegenheiten;

Musikrhythmen wurden immer aggressiver; die Präsentation von Musik immer lauter;

Nachbarn erstanden für ihre Wohnungen immer potentere Musikanlagen, Verstärker und Lautsprecher-Boxen sowie Generatoren puren tieffrequenten Schalls (Subwoofer). Die preis­werten Radios, Anlagen und Lautsprecher waren fabrikseits bässebetont eingestellt und nicht zu regulieren;

Teure Musikanlagen wurden zum Prestige-, Demonstrations-Objekt; Menschen verschmolzen mit ihren Musikapparaten, diese wurden zum Tabu erhoben. Die Belange der Mitmenschen und Be­wohner gerieten ins Hintertreffen. Das Genussmittel Musik wurde Droge, der Konsum derselben nahm Suchtcharakter an.

Während und nach der Krebserkrankung und Operation, der Kobaltbestrahlungen war ich sie­ben Jahre lang, bis 1987, der bis zum Anschlag lautgestellten, leistungsstarken, für eine Wohnung und ein Wohnhaus völlig überdimensionierten Musikanlage eines Nachbarn hilflos ausgeliefert. Lärm und Schlafentzug empfand mein um sein Leben ringender Organismus als regelrechte Körperverletzung.

Die Lautsprecher mit ihren großen Bässemembranen hatten die Ausmaße von mindestens einem halben Kubikmeter. Sie standen auf dem Fußboden einer Parterrewohnung gegenüber meiner Par­terrewohnung. Durch das jahrelange Rockmusikdröhnen und -jaulen, durch Vibrationen, rhythmi­sches Beben und Schlafentzug in dieser lebensbedrohlichen Lage erinnerte mein Organismus sich an einen Kriegsschaden, den ich bis dahin unbewusst befriedet hatte.

Ich war im August 1942 unweit meiner jetzigen Wohnung geboren worden. Mit dem Beginn der Luft­schlacht um Berlin im August 1943 trafen Bomben mein ehemaliges Wohnhaus am Bahnhof, dem eigentlichen Ziel, – und damit mich. Diese und folgende Katastrophen kündigten sich durch die nahenden Fliegerverbände und ihre Luftvibrationen an. Der Luftschlacht – Amerikaner flogen tagsüber, Briten nachts – war ich als Säugling zwei Jahre lang hilflos ausgeliefert. Dröhnen, Jaulen, Vibrationen, Beben, Detonationen, Erschütterungen, Luftturbulenzen, Schreien traumatisierten meinen Organismus umso mehr, als mein Bewusstsein noch keine neuronale „Abwehr“, keine „Filter“, kein „Verstehen“ entwickelt hatte. Meine Neuronen haltbare „Panik-Verbindungen“.

Im Laufe von dreißig Jahren befriedete (linderte) ich unbewusst den Kriegsschaden, indem ich alles mied, was meinen Organismus in Aufruhr versetzen könnte. Kein Rock’n Roll, keine Großveranstal­tungen, keinen Stress, keine Lautstärken. Wenn es mir irgendwo zu laut wurde, betäubte ich meine Sinne mit Alkohol: Dröhnung gegen Dröhnen. 1973, während des Oktoberkrieges auf dem Sinai, setzte ich mich sogar dem Geräusch der Tiefflieger aus. Als angenehm empfand ich das Geräusch nicht, aber ich hielt es aus. Vierzig Jahre lang lebte ich gesellig, gut und gern. Ich war musikalisch, rhythmusbegabt und hatte ein absolutes Gehör. Ich tanzte viel, um die alten, unbewussten Flucht­reflexe abzureagieren. Heute ist mir durch die exzessive Verstärkung der Musikbässe das Tanzen als lebenswichtiges Ventil verwehrt. Heute soll der Sound mehr gefühlt als gehört werden.

Während der lebensbedrohenden Krebserkrankung brach durch jene zusätzliche Bedrohung, das unerträgliche Dröhnen verstärkter Musikbässe, dem ich in meiner Wohnung Tag und Nacht hilflos ausgeliefert war, jeglicher Schutzwall zusammen. Mein Organismus unterschied nicht zwischen ges­tern und heute. Er erinnerte sich unwillkürlich. Er erkannte in den Schallwellen Vibrationen, Beben, Luftturbulenzen wieder, die ihm im Krieg den „Weltuntergang“ angekündigt hatten. Als diese Er­scheinungen in einem modernen Kostüm auftraten, reagierte mein Organismus so unmittelbar wie damals der des Säuglings. Was genau ging vor in meinen Nerven, meinem Gehirn, meiner Psyche:

1

Die Hilflosigkeit während der Krebserkrankung erinnerte meinen Organismus an den Zustand des Ausgeliefertseins des Säuglings zu Zeiten des Kriegsterrors;

2

Der tieffrequente, brummende, jaulende, verzerrte Schall elektronisch verstärkter Musikbässe erin­nerte meinen Organismus an die nahenden Fliegergeschwader. Diese Schwingungen (tieffrequen­ter Schall ab 90 Hertz abwärts) können die Eigenresonanz des Körpers (8 bis 12 Hertz) und den Herz­rhythmus empfindlich stören. Meinem Organismus sind Subkontra-Töne nicht zumutbar;

3

Vibrationen, Beben, Erschütterungen durch moderne Verstärkeranlagen und Bassmembranen erinnerten meinen Organismus an die Turbulenzen der „Welt“ nach Bombeneinschlägen;

4

Schlafentzug war damals ein beabsichtigtes Mittel des Kriegsterrors. Er ist immer ein Mittel von Folter gewesen. Er gilt als „Körperverletzung“. Er ist in jedem Fall gesundheitsschädigend.

5

Fester geknüpft in den Synapsen als das Kriegstrauma (nach 2 Jahren Dauer) wurde dieses „moder­nisierte“ Trauma (nach 20 Jahren Dauer) durch den Faktor Vorsätzlichkeit. Jener Mieter T. (Heim­kind) quälte mich vorsätzlich, als er erkannte, dass er mit seinem Musikapparat Macht über mich ausüben konnte. Absicht trat an die Stelle von RücksichtNicht die Krebserkrankung hat mich trau­matisiert, sondern das Verhalten des Nachbarn! Im April 1986 brach ich zusammen.

Ergebnis: Ein Trauma mit einem modernen Auslöser baute auf dem alten Trauma auf. Traumata sind nicht vernünftig: Das Trauma des Kriegskindes, im Körper gespeichert, ließ in der neuen lebensbe­drohlichen Situation einen modernen, äußerlich allzu ähnlichen „Störsender“ an den Synapsen an­docken. Das moderne Musikapparatedröhnen nahm einen vorgewärmten Platz ein. Mein Kriegs­schaden war körperlich-nervlicher Natur, mein modernisiertes Trauma psychisch-nervlicher Natur.

Fortan reagierte mein Körper auf jeden verstärkten, monoton-rhythmischen, tieffrequenten Musik­bass unwillkürlich und unkontrollierbar mit Panikattacken und erhöhtem Blutdruck, wo und wann immer sie auftraten. Jegliche „Luftturbulenzen“ (Lärm, Hektik …) bringen mich in kritische Zustände.

Panik ist die unwillkürliche Reaktion eines Organismus auf eine Gefahr. Es wird Adrenalin ausge­schüttet. Wird das Adrenalin nicht abgebaut, entsteht Cortisol – langfris­tig zum Schaden des Organismus. Panik äußert sich in:

Herzrasen, Pulsrasen, Herzrhythmusstörungen, Bluthochdruck, Schweißausbrüchen, erweiterten Pu­pillen, Sehstörungen, Übelkeit, weichen Knien, äußerem Zittern, innerem Beben, trockenem Mund, Aggression, Muskelkontraktionen in den Oberschenkeln als Fluchtreaktionen auf Gefahr, Konzentra­tionsstörungen, Antriebslosigkeit, Mattigkeit und anderen langfristigen Folgeschäden …

Als ich die einzige Unterstützung „meiner“ Mietergemeinschaft in Form einer Unterschriftenliste ge­gen den unzumutbaren Lärm jenes Mieters erhielt, war ich bereits traumatisiert. Dem Mieter wurde wegen fünf Mietrückständen 1987 fristlos gekündigt. Nun sammelte sein Freund bei den gleichen Mietern Unterschriften für den Verbleib des Mieters T. im Hause. Unerhört blieben mein Flehen und der Hinweis darauf, dass sein fortgesetzter nächtlicher Musikterror mein Todesurteil bedeuten könn­te. Ich hätte den Krebs unter jenem Rockmusikterror nicht überlebt. Der dramatische Wendepunkt meiner Stellung im Haus war dann, als der Freund des Mieters T. und ein Psychologe im Haus die Un­ter­schriftensammlung gegen den Musiklärm des Mieters T. für den Grund seiner Kündigung hin­stellten und  somit mich dafür verantwortlich machten. Folgerichtig setzte nach dem Auszug des Mieters T. nahtlos ein sich steigerndes Musiklärmen und Mobben gegen mich ein, was bis heute in der Art eines Stafettenlaufes an neue Mieter und Gewerbe weitergegeben wird. Ich musste die einzige mir geleistete Hilfe teuer bezahlen: Ab jenem Jahr wurde ich der Apparatemusik der Mieter zum Opfer gebracht. Bei einem Sommerfest im Jahr 1987 dröhnten Lautsprecher von den Balkonen her in den Hof. Es war das letzte Hoffest. Meine Krebserkrankung interessierte niemanden mehr.

1988 erklärte der Psychologe, Mentor der lärmenden Mieter, meine Wohnung zum „Umerziehungs­ort“, in dem ich Lärm ertragen lernen sollte. Vermeidbarer Lärm wurde nicht vermieden. Ein Orga­nismus „gewöhnt“ sich nicht an zwangsweise verabreichte Geräusche, sondern wird im Gegenteil immer empfindlicher gegen sie. Ich begann, den Hausverwaltungen Atteste des Krebsnachsorge­arztes einzureichen, die meine Wohnung als Ort der Regeneration einforderten. Später sollte ein Hauswart diese als „Psychoatteste“ gegenüber Nachbarn, Anwohnern, Behörden diskreditieren.

Theoretisch lebte ich unter dem „Schutz“ der Berliner Lärmverordnung und Hausordnung, praktisch wurden sie unter der Schirmherrschaft eines Altmieter-Ehepaares, das lärmende, trinkfreudige Mie­ter um sich scharte, ausgehebelt. Der große Hof erwies sich als Problem: Mieter glaubten, ihn verlär­men zu dürfen, glaubten, in der Weite des Hofes höre man sie nicht. Meine Bitten um Rücksicht statt Absicht wurden verhöhnt, ich wurde gedemütigt und verunglimpft. Ich wurde zur Bittstellerin, wurde zum „Paria“. Je schlechter es mir ging, desto mehr Nachbarn, auch „honorige“ unter ihnen, verletz­ten, mit Duldung und Unterstützung von Hausver­waltung und Hauswart, die Haus- und Lärmverord­nungen. Ihre Bassverstärker verursachten bedrohliche Vibrationen in meiner Wohnung – mit jeder neuen Anlage stärkere.

Die Schamschwelle in der Mieterschaft sank immer tiefer, der Vorsatz wuchs. Die Bassverstärker wur­den zur „akustischen Waffe“. 1991 formierten sich die Uneinsichtigsten der Gruppe zum „Mob“. Den Überbau stellten Hausverwaltungen, die Tochter der Altmieter, Polizistin, und der Psychologe dar. Seine „Gutachten“ sollten die Grundlage zum Rufmord meiner Person im Haus werden. Wie er mir 1992 schrieb, war ich nicht mehr die „Trumpfkarte“ (als Mietaktivistin) der Mietergemeinschaft, son­dern der „Schwarze Peter“ (als Krebserkrankte). 1994 übernahm ein Hauswart die Leitung des Mie­termobs unter Missbrauch seiner Funktion im Haus.

Mein Organismus und meine Nerven bekamen keine Gelegenheit, sich zu regenerieren. Die anhal­tenden Panikattacken mit ihren negativen Auswirkungen auf den Organismus begannen, meine Existenz zu zerstören: Kreativität, Gesundheit, Nerven und Finanzen nahmen immer mehr Schaden. Die Altmieter über meiner Wohnung beförderten den Schaden, indem sie mir zwanzig Jahre lang absichtlich keine Stunde, keinen Sonn- und Feiertag, ohne Zwangsbeschallung durch ihre Tonwie­dergabegeräte (Radio, TV, Video, DVD, CD, Musikanlage) gönnten. Heute bin ich allergisch gegen jedes fremde Radio. Bis in die 80er Jahre konnte ich Orgeln ertragen, heute vertreiben sie mich aus Kirchen und Sälen. 1996 hatte ich mein Atelier in Spandau auflösen und es in meine Wohnung zurückverlagern müssen. Das wollten die Altmieter ein zweites Mal verhindern. Wieder scharten sie eine lärmverliebte Mietergruppe um sich. Neuer Lärmterror brach los.

Ab 1997 suchte ich professionelle Hilfe, war aber schockiert über die Ignoranz gerade der Trauma-Therapeuten, die ich gezielt ansteuerte. Sie kannten das Problem nicht, sie erkannten es nicht. Als traumatisiertes Kriegskind durfte ich mich „outen“, ein Infraschall-, Bassverstärker-Trauma aber war ihnen nicht vorstellbar, nicht nachvollziehbar, erschien unglaubwürdig. Ein Therapeut schlug einen Gong an und fragte mich, ob mich das störe! Als ich es verneinte, sah er keine Notwendigkeit einer Therapie. Anfang 2003 fand ich eine Therapeutin, die mich zwar ernstnahm, das Problem zu Beginn der Therapie aber unterschätzte. Da ich dem Auslöser der Panikattacken fast täglich ausgesetzt war, konnte sie nach zweieinhalb Jahren keinen Erfolg verzeichnen. Immerhin lernte ich durch sie, dass sich sogar Fachleute (Traumatherapeuten) von Erscheinung, Körpersprache und Inhalten der sich in Panik befindlichen Menschen abgestoßen fühlten und mit Abneigung reagierten. Sie müssen diese Aversionen berufsmäßig überwinden. Meine Nachbarn müssen es nicht und taten es nicht.

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