Loyalitäten überwinden

Jürgen Müller-Hohagen

Wer als Nazi-Nachkomme Kontinuitäten der Nazi-Gewalt wahrnimmt und sich abmüht, aus den damit verbundenen unsichtbaren Bindungen, den Loyalitäten mit den Nazi-Vorfahren auszubrechen, war und ist heftig bedroht, stand und steht sehr häufig allein da.
So ging es dieser weit nach 1945 geborenen Frau:

„Wenn ich jetzt (…) versuche, das alles wirklich noch mal anzuschauen, aber eben nicht allein, sondern im Kontakt mit Menschen, dann bekommt alles noch einmal so eine ungeheure Dimension, da wird auf jede Situation meines Lebens noch einmal ein anderes Licht geworfen (…) In meinem Kopf bildet sich der furchtbare Satz: Vor Auschwitz sind alle Menschen gleich, nicht mehr vor Gott, sondern vor Auschwitz. Und wenn ich die ganze Dimension dieses Satzes erfasse, dann sitze ich nur noch zitternd am Schreibtisch (…) Wenn das stimmt, was ich sehe, dann ist die Welt in Auschwitz untergegangen, und wir tradieren den Untergang, wenn es nicht stimmt, leide ich an einer Wahrnehmungsstörung, die nicht erklärbar und nicht teilbar ist und gebe mir besser den Gnadenschuss. Wenn ich frei wählen dürfte, ich würde die zweite Möglichkeit bevorzugen, aber ich weiß, dass sie nicht zutrifft.“

Die Autorin dieses Briefes hatte zwei Jahre in der Psychiatrie zugebracht und zehn Jahre Psychotherapie hinter sich. Unter größten Schmerzen hat sie die Zuschreibungen überwunden, verrückt zu sein, „verrückt“, weil sie schon als Kind etwas von einer Komplizenschaft der ehemaligen Henker, der Vernichter gespürt hatte.

Und ihre Worte enthalten eine noch umfassendere Wahrheit: Es geht nicht nur um die Ablösung von der individuellen Familie und ihrer speziellen Nazi-Verstrickung, sondern dahinter steht das Menschheitsthema Auschwitz.

Psychologische, psychiatrische, therapeutische Hilfestellungen waren allenfalls bedingt von Wert gewesen bei ihrer Suche nach Befreiung: „Progressive Psychiater gestehen einem zu, individuelle Kindheitsverletzungen erlebt zu haben, die sich in Naziphantasien symbolisch ausdrücken. Wenn man darauf besteht, dass es keine Symbolik ist, sondern Realität, und sei es, dass man die Realität der Eltern ausdrückt, dann geht die Klappe runter.“

„Ich könnte zahllose Geschichten erzählen, wie Psychotherapie die Auseinandersetzung blockieren kann, wie überhaupt Schuld an sich tabuisiert wird.“

Hier aber liegen die Themen, um die wir nicht herumkommen, wenn wir unsere Loyalitäten mit den Nazi-Vorfahren und ihrer Welt überwinden wollen. Das hat Ende der achtziger Jahre die ehemalige „Irre“ (und heute erfolgreiche Akademikerin) in aller Klarheit angesprochen.