Erfahrungen von Nachkommen der Verfolgten
Jürgen Müller-Hohagen
Ich gebe hier nur einige wenige Erfahrungen wieder.
Die amerikanische Journalistin Helen Epstein hat 1979 ein Buch veröffentlicht, das 1987 auch in Deutschland herauskam: Die Kinder des Holocaus“. Die Autorin, selbst Kind von Holocaust-Überlebenden, schreibt in der Einleitung:
„Lange Jahre war es in einer Art Kasten tief in mir vergraben. Ich wusste, dass ich – verborgen in diesem Kasten – schwer zu erfassende Dinge mit mir herumtrug. Sie waren feuergefährlich, sie waren intimer als die Liebe, bedrohlicher als jede Chimäre, jedes Gespenst. Gespenster aber hatten immerhin eine Gestalt, einen Namen.
Was aber dieser Kasten in mir barg, hatte weder Gestalt noch ließ es sich benennen. Im Gegenteil: Es besaß eine Macht von so düsterer, furchtbarer Gewalt, dass die Worte, die sie hätten benennen können, vor ihr zergingen.
Oft war mir, als trüge ich eine entsetzliche Sprengladung mit mir herum. Flüchtige Bilder von Tod und Vernichtung hatte ich gesehen. War ich in der Schule vorzeitig mit einer Probearbeit fertig oder hing ich auf dem Heimweg meinen Tagträumen nach, so schien mir alles Gesicherte aus der Welt verschwunden (…)
Waren die Eltern abends ausgegangen und hockten mein kleiner Bruder und ich vor dem Fernseher, so erschien mir das Zimmer, ja, unser ganzes Leben, schutzlos, unbehütet. Jeden Augenblick konnten Einbrecher oder Mörder bei uns eindringen und über uns Wehrlose herfallen (…)
Der eiserne Kasten in mir war mit großer Umsicht konstruiert – so wie man (…) Kernreaktoren baut. Ich dachte mir Bleiwände um das gefährliche Gehäuse, kreisförmig angelegte Kühlungsrohre, die mögliche Explosionen abschwächen, ja, überhaupt unwirksam machen konnten. All das war mit einer Metallhülle umgeben, und so vergrub ich es in mir … Ich wusste, der eiserne Kasten musste eines Tages ans Licht geholt, geöffnet und durchmustert werden: aber mittlerweile war er so eingemauert, dass es keinen Zugang mehr zu geben schien.
So entwickelte ich Strategien, um an das tief Verborgene zu gelangen (…) Ich brauchte Gefährten, Menschen, die das gemeinsam mit mir zu unternehmen bereit waren, brauchte Stimmen, die mir sagten, all das, was ich da mit mir trage, sei Wirklichkeit, nicht grausige Phantasie. Meine Eltern konnten mir nicht helfen, sie waren ja selbst ein Teil davon. Zu Psychiatern hatte ich kein Vertrauen; sie verfügten über noch mehr Namen für all das, als ich selbst schon ausprobiert hatte, um die Dinge zu umschreiben, zu verhüllen. Es musste Menschen geben wie mich, die ebenfalls einen eisernen Kasten, ähnlich dem meinen, in sich herumtrugen.
So machte ich mich auf (…), um Menschen zu finden, die wie ich im Bann einer Geschichte lebten, die sie nicht selbst erlebt hatten. Ihnen wollte ich Fragen stellen. Vielleicht konnte ich so jenen Teil von mir erreichen, der sich mir selbst am beharrlichsten entzog.“
Um diese Suche geht es in dem Buch von Epstein, und es ist erschütternd zu erfahren, wie tiefreichend die Kinder von Holocaust-Überlebenden in das Grauen miteinbezogen sind. Gerade weil ihre Eltern so überwältigt waren, dass sie über das unvorstellbar Erlittene sich ihren Kindern nicht zureichend mitteilen konnten, gerade deshalb waren die Kinder erst recht von klein auf engstens damit verbunden, es hat sie umgeben, es war in ihnen, so wie der eiserne Kasten von Helen Epstein. Die Nazi-Verbrechen wirken fort über Generationen. Besonders erschreckt hat es mich, wenn immer wieder in dem Buch die Feststellung steht, wie ähnlich es – bei aller äußeren Verschiedenheit – den Kindern des Holocaust innerlich ergangen ist, wie sie still mit ihren Eltern litten, wie sie Fragen nicht zu stellen wagten, sie ganz wegschoben, wie sie nach außen hin sich unbekümmert gaben.
Von diesem fortdauernden Leiden wenigstens Kenntnis zu nehmen, ist für einen Deutschen nicht leicht. Aber, so muss man ganz realistisch zugleich doch feststellen: Diese Schwierigkeit ist unendlich viel geringer als das, was die Kinder des Holocaust ihr Leben lang zu tragen haben. Wenn jemand sich über die Last der Vergangenheit auf uns Deutschen beklagen will, dann möge er doch einmal ein Buch wie das von Helen Epstein studieren und sich vor Augen führen, unter welcher Last die Kinder und Kindeskinder der Opfer noch heute leiden. Vielleicht verändern sich dann einige Relationen.